Im Alter von 76 Jahren ist Stephen Hawking gestorben. Die Nachricht von seinem Tod hat mich betroffen gemacht, denn ein Großer ist gegangen, dessen Krankheit ihn mehr als fünfzig Jahre gezeichnet hat. Gleichzeitig hat sein Tod Erinnerungen geweckt, denn ich kannte Stephen Hawking, wenn auch nicht persönlich. Aber in den Jahren 1978 und 1979 habe ich ihn häufig aus der Nähe gesehen, nämlich im Verlauf eines Studienjahrs in Cambridge, weil ich regelmäßig in der gleichen Mensa wie er zu Mittag gegessen habe. Diese Mensa war nur wenige hundert Meter von dem Institut entfernt, an dem er lehrte. Zufällig war ich später auch unter den Zuschauern in der amerikanischen Eliteuniversität von Yale, als ihm dort im Jahr 1989 die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.
Hawking bewegte sich Ende der 1970er Jahre in Cambridge mit seinem elektrischen Rollstuhl selbständig, und auch seine Stimme kam noch nicht aus dem Computer. Als Mathematiker und Physiker war er bereits zu dieser Zeit bekannt und renommiert. Aber Cambridge war voll von wissenschaftlichen Koryphäen, und Hawking fiel deshalb im Alltag der Universität vor allem auf Grund seiner Krankeit auf und wie er im akademischen Alltag damit fertig wurde. In seinen Lehrveranstaltungen sprach er z. B. mit eigener Stimme, die relativ schwer zu verstehen war und deshalb von einem Assistenten quasi „übersetzt“ wurde. Dies habe ich nicht selbst erlebt, aber es hat mir ein Kommilitone erzählt, der Mathematik studierte.
Ende der 1970er Jahre war die Universität Cambridge aus meiner Sicht eine Insel der Glückseligen. Im „Winter of Discontent“ versuchten die britischen Gewerkschaften zwar, die konservative Regierung unter Margaret Thatcher durch massive Streikaktionen unter Druck zu setzen, aber das war irgendwie weit weg. Genauso weit weg war London, obwohl man es mit dem Zug in einer Stunde bequem erreichen konnte. Im Fernsehen gab es noch keine Satellitenprogramme, im Studentenwohnheim befand sich das Gemeinschaftstelefon auf dem Gang und Bargeld konnte man schon am Automaten ziehen. Das Studentenleben war vollgepackt mit akademischen, kulturellen, sportlichen und sozialen Aktivitäten, nur sonntags gönnten sich alle eine Ruhepause, da war fast nichts los.
Die Nachricht von Stephen Hawkings Tod hat bei mir all dieses und viele andere Ereignisse in Erinnerung gerufen, die ich mit Cambridge verbinde, etwa an Prinz (damals schon und heute immer noch) Charles, der in den heiligen Hallen des Debattierclubs zur Umweltpolitik sprach, oder an die King‘s Singers, die ein kleines Weihnachtskonzert vom Balkon im Innenhof einer populären Studentenkneipe zum Besten gaben, und an Jürgen Habermas mit einem philosophischen Vortrag, von dem ich, wie ich zugeben muss, damals wenig verstanden habe. Und eben die regelmäßigen Mittagessen in der Graduiertenmensa: Stephen Hawking war einer von ein paar hundert Lehrenden und fortgeschrittenen Studierenden, die dorthin zwischen den Vorlesungen und Seminaren zum Mittagessen kamen und anschließend noch bei einem Kaffee oder Tee in der Bar den Ausblick über die Cam und das Treiben am Fluss genießen konnten. Damals wäre noch niemand auf die Idee gekommen, sich in der Nähe eines Jahrhundertgenies zu fühlen, als das er in den zahlreichen Nachrufen nun oft bezeichnet und gewürdigt wird. Dass Hawking übrigens exakt dreihundert Jahre nach dem Tod von Galileo Galilei geboren wurde (8. Januar 1642), hätte damals kaum jemand gewusst oder für erwähnenswert gehalten. Dies wird heute in einem Atemzug erwähnt mit der Tatsache, dass sein Todestag mit dem Geburtdatum von Albert Einstein (14. März 1879) übereinstimmt. Wenn es je schöne Zufälle gegeben hat, dann diese!
Cambridge und Hawking sind für mich und wohl auch die meisten seiner Bewunderer untrennbar miteinander verbunden. Dort hat er gelebt und gelehrt, von dort hat er, nachdem ich ihn als Mitte Dreißigjährigen erlebt habe, noch vierzig weitere Jahre eine beispiellose Karriere verfolgt, die ihresgleichen sucht. Ohne Cambridge und die Besonderheiten dieser Eliteuniversität ist Hawking nicht erklärbar, ist seine Ausnahmestellung nicht zu verstehen. Die Zahl der Nobelpreisträger, die berühmten Gelehrten – von Isaac Newton über Charles Darwin bis zu James Watson und Francis Crick, um nur ganz wenige zu nennen -, die hervorragende Ausstattung der Institute und die einmalige akademische Atmosphäre der Colleges mit ihrer imposanten Architektur lassen jede andere Hochschule der Welt vor Neid erblassen. Und Hawking saß dreißig Jahre, von 1979 bis 2009, auf einem der prestigeträchtigsten Lehrstühle der akademischen Welt, dessen zweiter Inhaber eben jener Isaac Newton gewesen war. Nur in einer solchen Konstellation, das wage ich zu behaupten, konnte sich seine Wirkung so phänomenal entfalten.
Seine Lebenserwartung nach dem Ausbruch seiner Krankheit im Alter von einundzwanzig Jahren war eigentlich gering. Dass er dennoch über fünfzig Jahre allein durch seinen Kopf so bedeutende Leistungen in der theoretischen Physik, der Kosmologie und vor allem zum Thema Schwarze Löcher erbracht hat, grenzt an ein Wunder. Die Stimme seines Sprachcomputers ist so unverwechselbar, dass man sie nicht mehr vergisst. Neben seinen populärwissenschaftlichen Werken, allen voran das Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“, ist seine Rezeption in der Populärkultur nur aus der Faszination für seine Person zu erklären. Diese zeigte sich in seinen Gastauftritten als Schauspieler in den TV-Serien „Raumschiff Enterprise“ oder „The Big Bang Theory“ und als Zeichentrickfigur bei den „Simpsons“ genauso wie in dem von seiner Computerstimme gesprochenen einleitenden Satz in Pink Floyds Song „Keep Talking“, aber auch in seiner TV-Biographie mit dem später als Sherlock-Holmes-Darsteller bekannt gewordenen Benedict Cumberbatch. In einem Spielfilm über „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ gewann dessen Hauptdarsteller Eddie Redmayne übrigens für seine schwierige Rolle als Stephen Hawking 2015 einen Oscar als bester Hauptdarsteller.
All dies war Ende der 1970er Jahre in Cambridge noch nicht zu erahnen. Zu der Zeit war er noch der Ausnahmewissenschaftler, dessen Krankheit weiter fortzuschreiten drohte. Aber er hatte sich darauf eingestellt und konnte damit umgehen. Seine Umgebung, Kollegen wie Studenten, sahen dies mit Staunen und Bewunderung. Alle, die ihn kennenlernen durften, werden sich noch oft an Stephen Hawking erinnern, selbst wenn sie ihn, wie ich, nur aus der Ferne beobachten konnten.
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