Als Schüler wurden wir Mitte der 50er Jahre in Holland von gleichaltrigen Schülern beschimpft, oder sollte ich besser sagen, gehänselt. Sie nannten uns „Nazis“. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass sie gar nicht wussten, was sie da von sich gaben. Sie waren wie wir zu jung, um das Monströse, das Teuflische dieses Begriffs „Nazis“ zu verstehen. Später, während einer einwöchigen Klassenfahrt nach Beaune in Burgund, unweit von Dijon, luden uns ältere Männer, die im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland gekämpft hatten, bei einem Dorffest zum Glas Wein ein. Am Ende des schönen Tages stießen wir miteinander an. „Vive l´amitié franco-allemande.“ Es war nicht nur dieser Moment unter Einfluss des Burgunders, die ganzen Tage im Burgund, alle Zusammentreffen mit Franzosen, Schülern und Erwachsenen, waren freundlich, herzlich, Ausdruck dieser deutsch-französischen Freundschaft, wie sie von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle besiegelt worden war.
Lang her, ich weiß, aber vergessen sollten wir das nie. Jahrhundertelang hatten sich die Europäer gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, immer wieder standen sich Deutsche und Franzosen feindlich gegenüber, unseren Vorfahren wurde noch eingeimpft, dass die Franzosen die Erzfeinde seien. Millionen Tote und noch mehr Verletzte, das waren die blutigen Ergebnisse der Kriege zwischen Frankreich und Deutschland. Nicht zu vergessen die Kriege gegen Polen, Russland, die anderen Nachbarn Belgien, Holland, überall blutige Spuren der Vergangenheit und immer waren wir Deutsche dabei. Und plötzlich, nach dem schlimmsten Krieg, nach 1945, setzten sich deutsche und französische Politiker, belgische und italienische obendrein, englische auch und andere an einen Tisch und begruben das Kriegsbeil. Unter der Fahne Europas begann ein Frieden, der bis heute anhält. Und heute ist Europa schön, bunt, friedlich, demokratisch.
Viele Jahre später besuchte ich als Journalist das erste Mal Polen. Bei einer Konferenz der Anliegerstaaten der Ostsee in Danzig-polnisch Gdansk- lernte ich polnische Journalisten kennen. Sie halfen mir über manche Probleme hinweg. Ich sprach kein Polnisch und Polen, die ich auf Deutsch anzusprechen versuchte, reagierten mit ziemlicher Abweisung. Deutsch, diese Sprache war nach dem Krieg quasi verboten, in der Schule wurde Deutsch nicht unterrichtet. Eine Folge des Krieges, des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Polen 1939 und der damit einhergehenden Verbrechen. Der Vernichtungskrieg, den Hitler-Deutschland gegen Polen und danach gegen die Sowjetunion führte, war brutal, zutiefst menschenverachtend. Die dem Krieg folgende Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat, aus Pommern, Schlesien, Westpreußen, war ebenso ein Verbrechen, aber damals in Polen noch kein Thema. Zu tief saß der Hass auf die Deutschen. Entsprechend wurde ich angeschaut und sehr kühl behandelt. Die polnischen Kollegen kannten das, wir diskutierten darüber, es entwickelte sich sogar eine Freundschaft, die Jahre hielt.
Auschwitz-Besuch für deutsche Schüler
Am 1. September 1989 fuhr NRW-Ministerpräsident Johannes Rau an der Spitze einer deutschen Delegation nach Warschau, um an den Gedenkfeierlichkeiten anläßlich des Überfalls der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 teilzunehmen. 50 Jahre danach. Damals beschoss das Schlachtschiff „Schleswig-Holstein“ die Westerplatte bei Danzig, damit begann das mörderische Unternehmen Zweiter Weltkrieg. Während dieses Besuchs fuhr mich ein polnischer Taxifahrer quer durch Polen nach Auschwitz, der KZ-Gedenkstätte. Hier wurden 1,5 Millionen Juden getötet, vergast, erschlagen, erschossen. Der Taxifahrer blieb vor dem Eingang mit dem Schild „Arbeit macht frei“ stehen, er ging nicht mit hinein in diese Erinnerungsstätte des Grauens. Ich bin stundenlang allein durch das einstige KZ gegangen, sah die Koffer, die Kinderschuhe, die Puppen, die Haare, die Brillen, die Bilder der Insassen, las die Texte, stand vor der Hinrichtungswand. Schüttelte immer wieder den Kopf. War sprachlos. Eine mörderische Industriestätte, extra gebaut, um vor allem Juden zu töten.
Wer Auschwitz gesehen hat, wundert sich, dass es überhaupt Menschen in Europa gab, die einem Deutschen nach dem Krieg die Hand gaben. Man schämt sich bei und nach einem Besuch in Auschwitz. Jahre später haben wir mit unserem Bonner Kegelklub- Journalisten und Ehefrauen- Krakau besucht, jene wunderbare, noch von der österreichischen KuK-Monarchie geprägt. Krakau ist gerade mal 60 Kilometer von Auschwitz entfernt. Das haben die Nazis bewusst so gemacht, dass sie diese Lager in die Nähe solcher Kulturstätte platzierten. Man denke an Buchenwald bei Weimar, Dachau vor den Toren Münchens. Wir haben uns in Krakau einen Bus gemietet und sind nach Auschwitz gefahren, wo uns eine junge Polin durch die Gedenkstätte führte. Sie wohnte übrigens in Auschwitz. Warum eigentlich wird ein Besuch in Auschwitz nicht zur Pflicht für alle deutschen Schüler?
Das Ende der Geschichte?
Europa, das Abendland, was ist das eigentlich? Nur ein Ansammlung von nationalen Staaten, die sich gleichen Werten verschrieben hatten? Freiheit einschließlich freier Wahlen und freier Meinungsäußerung, Demokratie, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft. Diese Grundsätze westlicher Demokratien schienen zumal nach dem Fall der Mauer einen Siegeszug durch die Welt angetreten zu haben, der so unaufhaltsam schien, dass Francis Fukuyama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ die These „wagte, dass die großen ideologischen Kämpfe der Vergangenheit überwunden seien, da die ganze Welt inzwischen von den westlichen Werten überzeugt sei.“ Nicht nur er glaubte, Jahrhunderte des Nationalismus, Rassismus, Blutvergießens, der Zerstörung seien ein für allemal überwunden, der europäische Kontinent, endlich aus Einsicht vereint, stehe vor einem goldenen Zeitalter, Europa als Vorbild für die Welt, übernationale Zusammenarbeit habe nationalen Egoismus abgelöst. Aber Träume sind noch keine Realität, wie wir längst gesehen haben. So blieb der Versuch, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben, schon im Anfangsstadium stecken, weil entsprechende Entwürfe in Referenden in Frankreich und Holland abgelehnt wurden.
Heute hat sich der Traum europäischer Einheit verflüchtigt, weil nationale Egoismen sich breit gemacht haben, in Frankreich, in Holland, in Polen, in Tschechen, in Österreich, in Italien droht Ungemach und in Deutschland gibt es eine AfD, die inzwischen im Bundestag sitzt und deren Vorsitzender Gauland, ein ehemaliger CDU-Politiker aus dem Umkreis des früheren hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann, der sich nicht zu schade ist, anläßlich kleiner Feierlichkeiten zu Ehren des Elysee-Vertrages, den Adenauer und de Gaulle vor 55 Jahren unterzeichnet hatten, vom Podium des deutschen Bundestags herab stänkernd zu lästern nach dem Motto: das sei doch kein Datum, 55 Jahre. Dabei könnte man diesen Vertrag, der die Freundschaft zwischen den beiden Erzfeinden politisch besiegelte, fast täglich feiern. Dass er angesichts der Krise, in die das europäische Projekt geraten ist, erneuert, verstärkt werden soll, kann doch eigentlich jeder Demokrat begrüßen. Der französische Präsident Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel haben sich das zur Aufgabe gemacht, der Kern der Europäischen Union als Anziehungskraft für all die anderen EU-Mitglieder. SPD-Chef Martin Schulz forderte unlängst den europäischen Staat. Schön wärs.
Mitterrand warnte vor Nationalismus
Es ist viel zu tun, damit die europäische Idee nicht vor die Hunde geht. Die Flüchtlingskrise ist zu bewältigen, Italien und Griechenland dürfen nicht länger allein gelassen werden mit diesem Problem, die Jugendarbeitslosigkeit in den Ländern Süd- und Südosteuropas muss bekämpft werden, damit die Jungen einen Sinn in Europa sehen, eine Perspektive bekommen, für das zu kämpfen sich lohnt. Deutschland, die dominante Kraft in Eiuropa, muss sich auch finanziell stärker engagieren. Das ist es uns wert, das europäische Projekt. Und gerade vor dem Hintergrund des Trumpschen „America first“ brauchen wir mehr Europa, müssen wir unser Schicksal selber in die Hand nehmen, so hat es Merkel betont. Und wir sollten uns immer daran erinnern, was der französische Präsident Francois Mitterrand 1995 bei seinem Abschiedsbesuch des europäischen Parlaments gesagt hatte: Die Geister des nationalistischen Eifers, die Europas blutgetränkte Geschichte durchzogen, seien nicht endgültig verjagt. Und als Mahnung hatte der große Mann, der das Jahrhundert der Kriege miterlebt hatte, ergänzt: „Nationalismus heißt Krieg.“
Der Traum eines geeinten Europa mit mehr als 500 Millionen Menschen, ohne Binnengrenzen, verbunden durch eine Währung-den Euro-, mit einem gemeinsamen Markt, mit Wohlstand für alle Völker, abgesichert durch die NATO, was vor allem Polen und die baltischen Länder freut und sicher macht, friedfertig, ökonomisch stark, mit einer kulturellen Vielfalt, die einzigartig ist in der Welt, demokratisch und sozial, dieser Traum darf nicht zum Albtraum werden, der Brexit, der auf einer Lüge aufgebaut worden ist, darf nicht zum Vorbild anderer werden. Europa ist zu schön, um es Nationalisten zu überlassen.
Quelle: William Drozdiak: Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens. Orell Füssli Verlag. Zürich 2017. 328 Seiten.24 Euro
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Europa ist zu schön, um es Nationalisten zu überlassen…Heute hat sich der Traum europäischer Einheit verflüchtigt, weil nationale Egoismen sich breit gemacht haben,…
Wahrscheinlich merkt das hier wieder mal keiner aber die sogenannten nationalen Egoismen sind deshalb wieder da weil Deutschland versucht seinen nationalen Egoismus über alles zu stellen. Z.b. North Stream 2 Und der Versuch unseren Nachbarländern die Flüchtlinge die wir eigentlich selbst nicht wollen rein zu drücken. Dazu kommt noch das arrogante belehren von oben durch unsere Politiker. Das was ich hier als Nationalismus deformiert ist ist nichts anderes als gesunder Selbstschutz. Auch um die kulturelle Vielfalt in Europa zu erhalten denn es ist eben keine Vielfalt wenn man die Innenstadt von Frankfurt nicht von der in Frankreich unterscheiden kann weil exakt dieselben Leute dort herumlaufen und es exakt die gleichen Läden gibt also Döner und irgendwelche afrikanischen Handyläden.
„Nationalismus heißt Krieg“, sagt Francois Mitterrand. Ein anderer Franzose, Jean Jaurès, sagt: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Es scheint, das Ersetzen des Kapitalismus durch eine neue Wirtschaftsordnung (s. Bandbreitenmodell) ist in Europa wichtiger , als das Ersetzen des Nationalismus durch Friede, Freude und Eierkuchen.