Es handelt sich bei der Menschlichen Komödie um eine meisterhafte Form von Gesellschaftskritik aus der Sicht eines Intimkenners bürgerlicher Lebensverhältnisse. Sie ist nur einem Autor möglich, der selbst tief in diese Verhältnisse verstrickt ist und der jede scheinbar noch so unbedeutende Regung bürgerlichen Lebens wahrnimmt. Balzacs Sensibilität speist sich aus der Kenntnis der Antinomien bürgerlicher Verhältnisse, die als Antagonismen noch nicht wahrzunehmen sind. Hierin teilt der das Schicksal aller großen bürgerlichen Denker: die zutage tretenden Widersprüche der Gesellschaft auszusprechen – bis hin zur Karikatur – aber doch mit einer gewissen Hingabe an die Verhältnisse und im Interesse ihrer Erhaltung. Es bleibt Marx vorbehalten – der ein großer Balzac-Verehrer war – die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft als radikale Negation zu formulieren.
Balzac gelingt es, sowohl die gesellschaftlichen Strukturen als auch die darin eingeschlossenen Charaktere als Produkte und Produzenten dieser Strukturen darzustellen. Die genaue Kenntnis des Gegenstands ist frappierend. Geradezu begrifflich streng wird die Funktion des Wucher- und Zinskapitals, der Grundrente usw. dargestellt. Marx hat Teile davon zur Illustration eigener Aussagen im Kapital benutzt. Ebenso frappierend ist die Kenntnis des Verwaltungsapparats, der Bauernschaft – was immer man will. Und dann die Darstellung der vielfältigen Legitimationssysteme und der ideologischen Apparate, deren die bürgerliche Ordnung zu ihrer Aufrechterhaltung bedarf; sie werden schonungslos in ihrer Wirksamkeit und Entwicklung gezeigt. Darin verdient Balzac das höchste Prädikat, das einem Schriftsteller zukommt – er erweist sich als Realist.
Auch in anderer Weise gilt das. Man spürt etwas von der Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die feudalen Elemente, diese Parasiten am bürgerlichen Lebenskörper, befinden sich durchaus noch auf der Bildfläche, obwohl sie ihrer klassenmäßigen Grundlage, der Grundrente, bereits weitgehend beraubt sind. Sie siedeln sich in den Nischen der Gesellschaft an (Verwaltung; Militär; Justiz usw.). Das Bürgertum als aufsteigende Klasse ist noch keineswegs dominant, bestenfalls gesellschaftsfähig. Dort, wo sich das bürgerliche Leben abspielt – in den Salons, im Theater, in den Casinos – ist es zugelassen und mehr oder weniger geduldet. Aber sich mittels der Arbeit zu reproduzieren hat noch etwas Entwürdigendes an sich. Name und Geburt erweisen sich immer noch als kredit-würdiger. „Der Kredit stellt das innerste Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft dar“, hatte Marx geschrieben. Balzac zeigt uns eine Gesellschaft, die sich noch in einem Stadium der Entwicklung befindet, wo Wucher-, Zins- und Industriekapital gleichbedeutend koexistieren.
Die Gesellschaft wird als eine Art Anti-Natur dargestellt; nicht im Sinne der Beherrschung sozialer Vorgänge, sondern der Außerkraftsetzung ihrer Entwicklungsgesetze: der Tüchtige wird vom Ausdauernden besiegt – dies gilt insbesondere dort, wo Hierarchien dominieren und feudale Normen weiterhin prägend sind: in der Verwaltung und beim Militär. Hier wird das Schema der Phantasie; die Anonymität der Aktivität vorgezogen. Aber überall erweist sich das Geld als Motor und Triebkraft der Produktionsverhältnisse. Die feudale Moral wird brüchig. Vom Geld ist stets und überall die Rede. Würde, Ehre, Tapferkeit und Treue machen sich besonders gut, wenn sie sich kapitalisieren lassen. Das Kapital tritt keineswegs bescheiden in Erscheinung: man kennt seinen Preis, ob es sich nun um Heirat, Erbschaft, Rente oder Hurerei handelt.
Es widerstrebt einem, Balzac literaturgeschichtlich einzuordnen. Wenn gesagt wurde, er sei Realist und Realismus mit Dialektik zu tun hat, dann mag man ihn getrost einen Realisten nennen. Aber eine solche Aussage ist relativ nichtssagend. Balzac benennt zwar die Antinomien der Gesellschaft, aber die Perspektive einer „bestimmten Negation“ ist noch nicht in Sichtweite. Der Begriff ist noch unscharf, weil die „Dialektik der Sache“ in Gestalt der proletarischen Revolution noch nicht entfaltet ist. Den Krisen haftet etwas Zufälliges an; sie scheinen reparabel. Den Verhältnissen und ihren Agenten wird der Spiegel vorgehalten, der sich zuweilen auch als Zerrspiegel erweist, aber dabei bleibt es. Die Frische der Darstellung lebt davon, dass die Bourgeoisie keiner Verdrängung bedarf; sie verdaut noch gut. Die Psychoanalyse ist noch nicht gefragt; an den Nervensträngen der Gesellschaft sitzen durchaus gesunde Dramaturgen, zu denen auch Balzac selbst gehört. Man zerbricht an der Vergangenheit, aber noch nicht an der Zukunft. Das Noch-nicht ist vielleicht der Schlüssel zum Verständnis seines Schreibens. Balzac läutert das zuweilen angeschlagene Selbstbewusstsein der aufsteigenden bürgerlichen Klasse, während die Arbeiterklasse erst in Umrissen zu erkennen ist. Sie spielt noch keine entscheidende Rolle. Auf keinen Fall wird sie als Totengräber der bürgerlichen Ordnung in Szene gesetzt. Die Botschaft könnte lauten: der Verfallsprozess befindet sich in allerletzten Zuckungen aber: Heilung ist noch möglich, auch innerhalb der Verhältnisse.
Bildquelle: pixabay, user jackmac34, CC0 Creative Commons