Der Bundestag hat das Grundgesetz gewürdigt. 70 Jahre nach seinem Inkrafttreten am 23. Mai 1949 gibt es dazu noch immer guten Anlass. Die vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitete und damals als Provisorium angelegte Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland hat sich über Jahrzehnte als ein stabiles Fundament unseres Zusammenlebens bewährt.
Gewiss, dazu lässt sich einschränkend manches sagen, und die Redner im Parlament haben bei aller Einigkeit im Großen und Ganzen ihre unterschiedlichen Standpunkte zu Detailfragen angeführt. Die einen hoben richtigerweise auf noch nicht verwirklichtes Verfassungsrecht ab. Das Grundgesetz bleibt eine permanente Aufforderung zur Optimierung der Lebensverhältnisse. Die anderen forderten das Abschneiden vermeintlich nicht mehr zeitgemäßer alter Zöpfe. Das allerdings ruft Widerspruch hervor. Leichtfertiges Herumdoktern verbietet sich, wenn der hohe Zuspruch der Bevölkerung zu ihrem Grundgesetz nicht Schaden nehmen soll.
Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten gab es eine inflationäre Vielzahl an Verfassungsänderungen, die vorgeblich einer größeren Sicherheit dienten und schmerzlich zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte gingen. Mehr als einmal musste das Bundesverfassungsgericht die Abgeordneten in ihrem Übereifer bremsen. Das herausragendste Beispiel war sicher das Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss eines von mutmaßlichen Terroristen gekaperten Flugzeugs gestatten sollte.
Die wohl folgenreichste der in Kraft getretenen Verfassungsänderungen war die des Grundrechts auf Asyl in Artikel 16, das Anfang der 1990er Jahre so weit eingeschränkt wurde, dass es faktisch nicht mehr existierte. Ein aktueller Fingerzeig übrigens: Unmittelbar nach der Debatte über das Grundgesetz behandelte der Bundestag die geplante weitere Verschärfung des Asylrechts, für die erneut eine Verfassungsänderung angestrebt wird.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es gleich in Artikel 1 GG. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der damalige Bundespräsident Johannes Rau war es, der auf die Tragweite dieses ersten, allen voran stehenden Artikels hinwies, indem er unterstrich, es heiße eben nicht, „die Würde des Deutschen“, sondern mit Bedacht, „die Würde des Menschen“.
Mit der Würde-Garantie wäre ja an sich das Wesentliche für ein gedeihliches Miteinander schon gesagt. Vorausgesetzt allerdings, dass Einigkeit darüber bestünde, was denn genau mit diesem Schlüsselbegriff der Verfassung gemeint ist. Ein aktueller Beitrag von Günter Frankenberg in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ zeigt, dass es eben daran hapert.
Der Autor bietet als Deutungsvariante ein von der Vergangenheit diktiertes „Nie wieder!“ an, also: „Nie wieder ein menschenverachtendes Unterdrückungs- und Vernichtungssystem auf deutschem Boden. Nie wieder staatlich organisierter Massenmord.“
Gleichwohl könnte die Unantastbarkeit der Würde auch als ein „in die Zukunft weisendes Tabu“ verstanden werden, wie es beispielsweise als Mittel gegen Folter oder gegen den Rückfall in die Barbarei bestehe. Frankenberg führt aus: „Im Verfassungsrecht markiert Würde den Referenzpunkt für die verschiedenen Aspekte der Verletzung von Menschenrechten. Das Asylrecht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor allen anderen, aber auch die Gewissens- und Glaubensfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Schutz der Wohnung und nach liberaler Auffassung sogar die Eigentumsgarantie verfügen über einen Würdekern.“
Den ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, zitiert der Autor mit den Worten, die Menschenwürde sei eine „nicht interpretierte These“, die „der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen“ mag. Juristen, insbesondere die Verfassungsrichter hätten sich jedoch um eine Klärung im Sinne eines Rechtsbegriffs bemüht, sprich um die Frage, ob es sich bei der Würde des Menschen um ein objektives Prinzip, einen Wert oder ein subjektives Grundrecht handelt.
Darüber hinaus sei Würde sehr unterschiedlich verstanden worden, und zwar entweder als eine Art Mitgift des Menschen, oder aber als das Ergebnis einer erbrachten Leistung. In einer dritten These gründe Würde „in der wechselseitigen Anerkennung, die die Menschen einander schulden. Achtung und Respekt stellen sich in dieser Perspektive beim Leben in Gemeinschaft her.“ So verstanden gelte der Schutz der menschlichen Würde sowohl „der körperlichen und seelischen Identität und Integrität der Person“, als auch dem „Prinzip gleicher Freiheit und Selbstbestimmung“.
Wenn die Würde unantastbar ist, kann niemand seine Würde als Person verlieren. Verletzungen der Würde aber sind möglich, führt Frankenberg aus und nennt Lebensumstände, Behandlungen oder auch den Status, die entwürdigend sein können. Folter, öffentliche Ächtung und Demütigung, heimliche Überwachung und Ausforschung seien als die Würde verletzende Handlungen oder Behandlungen weithin anerkannt, da sie „den Menschen zum Objekt staatlicher Maßnahmen und Pläne machen“. Der Autor merkt an, dass diese Justierung „insbesondere unter der Flagge des Kampfes gegen den Terror weithin verloren gegangen“ ist.
Die Gerichte haben es im Laufe der Jahrzehnte mit einer Reihe von Klagen gegen Würdeverletzungen zu tun bekommen, darunter gegen eine Geldbuße wegen einer Ordnungswidrigkeit, die Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren oder die Umschreibung von Umlauten in der elektronischen Datenverarbeitung. „Würde hat keine feststehende Bedeutung“, folgert der Autor. Der Bedeutungskern sei wandlungsfähig: „Neben den Schutz der Integrität und Identität treten seit einiger Zeit die Gewährleistung materieller Lebensbedingungen und zuletzt der Anspruch auf Demokratie.“
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und das Abwägen gegen andere Grundrechte sind an der Tagesordnung. Dadurch bleibt offen, welches Gewicht die Gerichte der Würde im jeweiligen Konfliktfall beimessen. Mit Blick auf technologische Neuerungen führt Frankenberg an, dass sich die Menschenwürde dazu eigne, neuartige Konflikte und Gefahren anzuzeigen. „Wie eine Wanderdüne bewegt sie sich als erste Abwehrfront auf diese Technologien zu und versucht, mit natürlich umstrittenen Verboten eine Grenze zu ziehen. Sie stellt sich ihnen als Argument in den Weg, solange ein ausdifferenziertes Instrumentarium vom Gesetzgeber noch nicht entwickelt worden ist.“
Die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber betrifft in vielen Fällen soziale Fragen. Der Schutz der Menschenwürde gibt „ein ungefähres Maß vor, was uns zusteht“, schreibt Frankenberg, und zwar „in puncto Status, Behandlung, Lebensumstände und materiellen Lebensbedingungen“. Konkretisieren müsse dies jeweils der Gesetzgeber oder im Einzelfall die Verwaltung. Die Gerichte müssen dann häufig die Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Die Hartz-IV-Gesetze mit ihren Regelsätzen und Sanktionen sind Gegenstand solcher Auseinandersetzungen, auch die Ansprüche von Asylbewerbern, weil es um das Existenzminimum und damit um die Frage eines menschenwürdigen Daseins geht.
Die Würde-Garantie des Grundgesetzes unterliegt der Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG), sie darf nicht verändert werden. Das gilt auch für das im zweiten Absatz von Artikel 1 folgende Bekenntnis: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum (also wohl wegen Achtung und Schutz der Würde, so Frankenberg) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Auf dem Papier hat also jeder Einzelne umfassende Rechte. Die Menschenrechte sind universell, sie gelten für alle. In Frankenbergs Worten: „Es kommt nur auf das bloße Menschsein an, nicht auf die nationale Zugehörigkeit zu einem Staat oder einem Stand, auf ein bestimmtes Geschlecht oder das Erreichen einer Altersgrenze.“
Doch an der Verwirklichung hapert es. Und zwar zunehmend, wie etwa mit dem Blick auf die Lage geflüchteter Menschen gesagt werden muss. Hier kommt das grundlegende Recht, Rechte zu haben, ins Spiel. Frankenberg erwartet, dass dieses Recht „eine späte, vom Würdeverständnis beschleunigte Karriere machen“ wird. Entwickelt es sich durch die Rechtssprechung von einer philosophischen Idee hin zu einem Recht im juristischen Sinn, wird das Auswirkungen auf konkrete Politik haben und etwa menschenunwürdige Abschiebe- oder Abwehrpraktiken unterbinden. Es bleibt eine Aufgabe, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verringern.
Bildquelle: Wikipedia, Dontworry, CC BY-SA 3.0
Die würde des Menschen und des deutschen Volkes ist unantastbar.
Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder Lebensentwurf. Dafür steht auch Anneliese Hegnauer.