Als ich das erste Mal in Auschwitz war, am 2. September 1989, und das frühere Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau besichtigte, ganz allein, hatte ich nach den ersten Bildern einen Kloß im Hals. Eine Fabrik, errichtet allein um Menschen, vor allem Juden zu töten, mit Gas. Made in Germany. Ich sah die Reste von Kindern, Greisen, Frauen, Haare, Schuhe, Brillen, Koffer. grauenhaft. Gut, dass ich allein unterwegs war, der polnische Fahrer hatte mich von Warschau für 100 DM nach Auschwitz gefahren und war draußen geblieben. Ich konnte ohnehin nichts sagen, mir hatte es die Sprache verschlagen. Eine Million Tote, ermordet, weil sie Juden waren. Als ich nach Stunden diese Gedenkstätte wieder verließ, dachte ich darüber nach, wem wir es zu verdanken gehabt hatten, dass man uns Deutschen nach diesem Krieg und nach diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder die Hand gegeben hatte, dass man uns überhaupt wieder gegrüßt und so schnell wieder anerkannt hatte. Man hätte uns genauso gut isolieren können, außerhalb der Gesellschaften dieser Welt, schließlich hatten Deutsche Verbrechen begangen, nicht Adolf Hitler allein, nicht Himmler allein, und Goebbels, Göring, Heß und all die anderen Nazis, SS-Leute, SA-Schläger, Generäle. Millionen hatten mitgemacht, weggeschaut, hatten die NSDAP gewählt, den Nazis zugejubelt, in Berlin und Nürnberg und anderswo. Erst als die Siegesserie der Wehrmacht vor Moskau ins Stocken geraten war und in Stalingrad die 6. deutsche Armee vernichtend geschlagen wurde, hatte sich die Stimmung verändert.
8. Mai 2020, 75 Jahre nach Kriegsende, Kapitulation. „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben“, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anläßlich einer kleinen Gedenkfeier vor der Neuen Wache in Berlin-Mitte gesagt. Nein, einen Schlusstrich kann es unter diese Geschichte nicht geben, diesen Zivilisationsbruch, begangen von den Deutschen, begangen an sechs Millionen Juden. Der Holocaust führte der ganzen Welt vor Augen, was ideologische Verblendung vermochte, schreibt der Historiker Heinrich-August Winkler in seinem großen Werk „Geschichte des Westens“, wenn ein Staat sich erst einmal wie Deutschland 1933 von der Herrschaft des Rechts verabschiedet hatte. Dieses Menschheitsverbrechen wurde ja begangen von einer Nation, die man mit Goethe und Schiller verband, die man das Volk der Dichter und Denker nannte und das dann diese Verbrecher in Ämter wählte, eine Nation, die zum Westen und damit zum Chor der Träger der kulturellen Werte des Westens gehörte und daran gemessen wurde. Deshalb sprach der Historiker Friedrich Meinke von der „deutschen Katastrophe“.
Ein Land mit Brüchen
Ja, dieses Land und seine Geschichte muss mit diesen Brüchen leben und dazu stehen, damit es nie wieder passiert, damit nie wieder Nationalismus die Sinne verblendet, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Hass und Hetze die Richtschnur politischen Handelns bestimmen. Die Katastrophe darf nicht verdrängt werden, sie muss weitergegeben werden, weil die letzten Zeit- und Augenzeugen bald nicht mehr erzählen können, wie es damals war, wie es dazu kam, dass man sie abholte, brandmarkte, in KZs sperrte, nicht nur die Juden, sondern auch Sinti und Roma, Behinderte, Kommunisten, Christen, Sozialdemokraten, Menschen, die der Diktatur widersprachen. Und kaum jemand erhob sich dagegen, kann sein aus Angst vor dem Terror der SS und der Gestapo, die kurzen Prozess machten mit ihren Gegnern.
„Wir hatten uns die ganze Welt zum Feind gemacht“, sagte der Bundespräsident in Erinnerung an die Verbrechen der Nazis. Deshalb bin ich dankbar gegenüber denen, die es nach 1945 geschafft haben, dass wir wieder in den Kreis der Demokraten aufgenommen wurden, dass man wieder mit uns sprach, trotz allem, was passiert war. Konrad Adenauer war einer der Politiker, Kurt Schumacher ein anderer, um auf deutscher Seite die beiden Kontrahenten der ersten Jahre der Bonner Republik zu nennen. Theodor Heuss gehört sicher auch in diesen Kreis. Später kamen andere dazu wie Willy Brandt, der vor den Nazis nach Skandinavien geflohen war und als Emigrant zurück kam in das Land der Täter.
Viele Dörfer niedergebrannt
Der 8. Mai 1945. Wer überlebt hatte, atmete auf. Gott sei Dank, es war vorbei. Keine Angst mehr haben zu müssen vor der Gestapo, vor Bomben. Es galt in den Trümmern das Leben zu organisieren, ein Dach über dem Kopf zu bekommen, was schwer genug war, weil Großteile des Wohnungsbestandes in Schutt und Asche lagen, zertrümmert von den Bombenangriffen der Alliierten. Ja, das war auch die Reaktion auf die Angriffe der Nazis auf Städte in fast ganz Europa, auf London, Rotterdam, Warschau, um nur einige zu nennen. Ja, es stimmt, es gab tausendfache Verbrechen der Roten Armee an deutschen Zivilisten, Vergewaltigungen von Frauen. Es war die Rache für das, was deutsche Soldaten Russinnen angetan hatten.
Ich habe gerade den Film gesehen „Berlin 1945. Tagebuch einer Großstadt“, er lief bei „Arte“. Jeder müsste ihn sehen , er schildert all die Grausamkeiten auf beiden Seiten, die begonnen worden waren von den Deutschen. Ein Rotarmist wurde befragt nach seinen Eindrücken. Er beschrieb, was er damals zunächst in Ostpreußen staunend gesehen habe, diese Strukturen, diese Felder, Güter, Straßen. Er habe sich angesichts dieser Bilder gefragt, „was wolltet Ihr bei uns?“. Da kann ich ihm nur mit Hitler und Himmler antworten, die vor dem Angriff auf die Sowjetunion den Offizieren der Wehrmacht den Auftrag erteilt hatten, die Menschen in der UdSSR zu vernichten und andere zu Sklaven zu machen. Zig Dörfer haben die Nazis mit Hilfe der Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion dem Boden gleichgemacht. Darf man sich über die furchtbare Reaktion der anderen Seite wundern? Wir waren zuerst die Täter und erst später die Opfer. Ein anderer Rotarmtist wurde in dem Film gefragt, ob er angesichts der in Schutt und Asche liegenden deutschen Städte Mitleid gehabt habe mit den deutschen Zivilisten? Nein, antwortete er, er habe zuvor erlebt, was die Deutschen bei ihm zu Hause in Russland angerichtet hatten. Das ist die historische Wahrheit, auch wenn das eine Verbrechen das folgende nicht rechtfertigt, aber vielleicht erklärt.
Der 8. Mai 1945. Zwangsarbeiter waren wie KZ-Häftlinge froh, der Hölle entkommen zu sein. Man war befreit, nach Jahren der Demütigung, Verfolgung, der Folter begann für sie dás Leben neu. Um alle herum ein Bild der Zerstörung: 500 Millionen Kubikmeter habe der Schutt betragen, der Schutt aus zerstörten Gebäuden, las ich. Unvorstellbar. Brücken waren kaputt, Kanäle ausgelaufen, Fabriken eingestürzt, es galt etwas zu essen zu besorgen, Wasser war knapp, Armut und Elend an jeder Ecke, man hauste in Deutschland, das es als Staat nicht mehr gab, zumindest für kurze Zeit. Es wurde aufgeräumt, Zeit, um über die Vergangenheit nachzudenken, darüber, wie das alles passieren konnte, nahm man sich nicht. Viele sahen sich als Opfer und vergaßen, dass sie als Täter die Schlacht gegen andere eröffnet hatten. Schuld oder sogar Reue? Gab es kaum, man räumte den Schutt weg, warf Hitler-Bilder und andere NS-Erinnerungsstücke in den Müll, damit man vor den Alliierten nicht als Nazis dastehen musste.
Über Nacht war das Millionen-Heer der NSDAP fast verschwunden, keiner wollte mehr dabei gewesen sein, keiner die Hand zum Hitler-Gruß gehoben haben. Entnazifierung auf privater Ebene, man wechselte einfach die Hemden, weiße gegen braune. Die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert in ihrem Leitartikel zum 8. Mai die US-Reporterin Martha Gellhorn, die über die Deutschen im besetzten Reich „lodernd vor Zorn“ geschrieben habe: „Niemand ein Nazi. Niemand ist je einer geworden. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da 20 Kilometer entfernt war eine regelrechte Brutstätte des Nationalsozialismus. Oh, die Juden? Tja, es gab eigentlich in dieser Gegend nicht viele Juden. Zwei vielleicht oder sechs. Sie wurden weggebracht. Wir haben nichts gegen Juden. Wir haben lange schon auf die Amerikaner gewartet. Ihr seid gekommen und habt uns befreit.“
Moralische Schuld
Die moralische Schuld wog schwer auf den Schultern vieler Deutscher, auch wenn sie sich wegduckten und teils unter falschem Namen Karriere machten und sogar nicht wenige mit einstigem NSDASP-Parteibuch später ein Mandat im Deutschen Bundestag hatten- als wäre nichts gewesen. Einige von ihnen saßen dann auch neben Willy Brandt und versuchten ihn zu kritisieren, weil er emigriert war vor den Nazis, um sein Leben zu retten. Und dann hielten sie ihm noch vor, dass er eigentlich Herbert Frahm geheißen habe, ein uneheliches Kind gewesen war. Schamlos fand ich das, finde ich das heute noch. Ich habe es immer als späte Genugtuung gesehen, dass derselbe Brandt 1971 den Friedensnobelpreis bekam für seine Politik der Aussöhnung gerade gegenüber den Völkern Polens und Russlands. Ausgerechnet einer wie Willy Brandt fiel dann in Warschau auf die Knie und bat um Vergebung.
Der 8. Mai 1945. Deutschland wie große Teile Europas lagen im Dunkel von Tod und Zerstörung, schreibt Ian Kershaw in seinem Werk „Höllensturz“, er beschreibt, wie Europa sich fast selbst zerstört hatte zwischen 1914 und 1949. 1945 glich es einem Gräberfeld, so die polnische Schriftstellerin Janina Broniewska beim Blick auf das völlig zerstörte Warschau. „Hier ist der Tod“, so ihr Eindruck. Und so erging es Alfred Döblin(Berlin, Alexanderplatz), als er aus langem Exil ins zerstörte Deutschlad zurückkehrte und Städte sah, „von denen wenig mehr als die Namen existieren.“
Europa, Deutschland, Warschau, alles steht gut da heute. Achten wir darauf, dass es nicht wieder zerstört wird. 75 Jahre nach Kriegsende ist das unser Auftrag- gerade am 8. Mai 2020, 75 Jahre nach dem Ende des bisher schrecklichsten Krieges, der mindestens 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Demokratien brauchen Demokraten, die sie verteidigen. Es ist gerade in dieser Zeit, da Nationalisten wieder an Boden gewinnen in vielen Teilen Europas, wichtig, daran zu erinnern, als alles in Scherben lag und Neues erstand auf und aus den Ruinen.
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Ich wurde 1950 geboren. Ich danke für diesen Artikel. Er hat mich berührt und zum Weinen gebracht.
mfg Horst Reich-Quistorp