Dieser Tage wurde der Geschwister-Scholl-Preis an den Journalisten und Historiker Götz Aly verliehen- ausgerechnet in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, jener Hochschule, in deren Audimax und Lichthof am 22. Februar 1943 um 18 Uhr, eine Stunde nach der Hinrichtung der Studenten Hans und Sophie Scholl, der Tod der beiden von 3000 Studenten bejubelt wurde. „Das waren 75 Prozent aller Immatrikulierten“, so Götz Aly in der Feierstunde, in der ihm der Preis verlieren wurde. 3000 Jubelstudenten, zwei Widerständler, zu denen man ferner den wissenschaftlichen Mentor der beiden zählen muss, Prof. Kurt Huber sowie Christoph Probst und Alexander Schmorell. Sie bildeten den engeren Kreis der so genannten Weißen Rose. Götz Aly, der für ein Buch „Europa gegen die Juden“ geehrt wurde, stellte in seiner Rede u.a. die Frage, warum die Widerstandsgruppe Weiße Rose isoliert geblieben war, warum sich das deutsche Volk angesichts schlimmster Verbrechen der Nazis so apathisch verhalten habe.
Auf das von Götz Aly beklagte Wegducken, das Wegsehen vieler Deutscher, wenn der Nachbar abgeholt wurde und nicht mehr wiederkam, wenn Juden von der Gestapo verschleppt und nie mehr gesehen wurden, hatte schon der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 hingewiesen und den Deutschen den Spiegel vorgehalten. Weizsäckers Rede hatte weltweite Beachtung gefunden, auch weil er von einem Tag der Befreiung von der Nazi-Diktatur durch die Alliierten gesprochen hatte. Es waren ja nicht die Deutschen selber, die sich befreit hätten, es waren die Amerikaner, Briten, Franzosen und nicht zu vergessen die Russen, die den höchsten Blutzoll zahlen mussten für diesen Krieg, den Nazi-Deutschland vom Zaun gebrochen hatte: Mindestens 27 Millionen Russen starben während des Kriegs, wurden getötet, ermordet, sie verhungerten, kamen in Lagern um. Hitler wollte sie vernichten.
Der stürmische Beifall der Studenten auf die Rede des Gaustudentenführers, da schüttelt man heute mit dem Kopf. Aber der Beifall war eher der Normalfall in jenen braunen Jahren. Die Nazis waren längst die Mehrheit in Deutschland. Im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde lagern die Karteien von rund 13 Millionen NSDAP-Mitgliedern, gegen Ende des Krieges zählte die Partei Hitlers 7,5 Millionen Mitglieder, nach 849000 bei der Machtergreifung 1933. 7,5 Millionen Nazis, Täter, Profiteure, Mitläufer, SS, SA und viele andere. Nachher, als der Krieg verloren war und die Verbrechen öffentlich gemacht wurden, wollte keiner dabei gewesen sein, aber es waren Millionen.
Der Fall Martin Broszat
In den 60er Jahren, zu meiner Studentenzeit, wurde des Widerstands gedacht, natürlich auch der Weißen Rose, waren die Geschwister Scholl ein Thema, aber nur ein Thema unter vielen anderen, selbst am historischen Seminar der Uni München. Wenn man das heute hört und nachliest, was einer wie Götz Aly über die Zeit geschrieben hat, schämt man sich fast. Aber München war wie Berlin, nicht besser oder schlechter. Ich habe auch bei Martin Broszat gehört, der zu meiner Studien-Zeit am Institut für Zeitgeschichte lehrte, habe sein Buch über den Hitler-Staat gelesen, bei ihm ein Hauptseminar belegt. Die Studentinnen und Studenten der Geschichte schätzten Martin Broszat, diesen scharfsinnigen Historiker, dass seine Schüler ihn abgöttisch verehrt hätten, wie ich das aus anderer Quelle gelesen habe, geht mir zu weit. Aber wir gingen gern zu ihm, hörten gern bei ihm. Der Mann wurde dann Leiter des Instituts, ein renommierter Forscher, keine Frage an einem renommierten Institut.
Und viele Jahre später, nach seinem Tod, erfuhr ich aus der Zeitung, dass auch Martin Broszat Mitglied der NSDAP gewesen war. Ich wollte das nicht glauben, hielt den Professor für unbestechlich. Die Nachricht hat mich damals getroffen. Auch der also ein Mitglied der NSDAP. Nein, er war kein Antisemit. Er war, wie es der Vizechef des Instituts, Prof. Magnus Brechtken vor ein paar Jahren formulierte, „Teil seiner Zeit und einer Gesellschaft, die einiges verdrängte. Das tut manchen weh, die ihn verehrten, so weh, dass sie sich noch heute wegducken möchten.“ Aber vielleicht hat ja ein anderer Historiker Recht mit seiner Vermutung, so muss man es wohl nennen, dass Broszat nichts von seiner Mitgliedschaft gewusst habe. Kann sein, wir können ihn nicht mehr befragen. Schade, dass wir das damals 1968 nicht getan haben. Wir ahnten das nicht mal.
Kommen wir zurück zu Götz Aly und seiner Rede. Wenn die Mehrheit sich wegduckt, überschrieb die SZ einen Bericht über die Feierstunde. Das mit dem Wegducken hatte ja auch Weizsäcker angesprochen. Wer ist schon ein Held? Eher ein Opportunist, der mitschwimmt, nichts riskiert, zu allem Ja und Amen sagt, weil er Angst hat. Oder weil er Karriere machen wollte oder seine Kinder etwas werden wollten. Damals konnte der Zeitgenosse Angst haben, wenn er den Mund aufmachte. Dann konnte er verpfiffen werden, denunziert. So wie das mit den Geschwistern Scholl passierte. Die wurden beim Verteilen der Flugblätter gegen das Nazi-Regime vom Hausmeister entdeckt und der meldete sie bei der nächsten NS-Stelle. Angst war verbreitet, absichtlich geschürt von den Machthabern. Wenn Du nicht den Mund hälst, kommst Du nach Dachau- ein geflügeltes Wort jener Jahre. Sage niemand, der damals gelebt hat, er habe nichts gewusst. Er hat es nur nicht ausgesprochen, hat nicht nachgefragt, wenn der Nachbar nicht mehr wiederkam, er hat nicht protestiert, als die Scholl-Geschwister verhaftet wurden, sondern gejubelt, mit den Füßen getrampelt, um seiner Begeisterung über die Ermordung der Nazi-Gegner Luft zu machen.
Angst als Mittel zur Einschüchterung
Angst war verbreitet, ein Mittel zur Einschüchterung. In den ersten Jahren verhängte der Volksgerichtshof unter Freisler 28 Todesurteile gegen Reichsdeutsche wegen politischer oder defätistischer Tatbestände, in den beiden letzten Kriegsjahren aber wurden 869 Deutsche aus eben den genannten Gründen hingerichtet.
Hans und Sophie Scholl hatten in ihrem Flugblatt, unmittelbar nach der Katastrophe von Stalingrad entworfen und verbreitet, Deutschlands Niederlage im Krieg vorhergesagt, hatten geworben für den Befreiungskrieg gegen das nationalsozialistische Untermenschentum und für liberale demokratische Freiheiten. Freisler warf dem Angeklagten Probst, einem 23jährigen Vater von drei Kindern vor, er habe den Führer als „militärischen Hochstapler beschimpft“, der sei ein unpolitischer Mensch, also überhaupt kein Mann“. So steht es im Urteil, zitierte Götz Aly.
Die Mitglieder der Weißen Rose hatten schon im Sommer 1942 ein Flugblatt Nr. II verfasst, in dem sie auf die fürchterlichsten Verbrechen an über 300000 polnischen Juden hinwiesen, Verbrechen an der Würde des Menschen. In Wirklichkeit waren Mitte 1942 rund zwei Millionen Juden ermordet worden.
Verbrechen von Deutschen begangen als Täter, Mittäter, Mitwisser. Die Nazis, so die These von Götz Aly, hätten bewusst alle Deutschen dazu gestempelt, die deutsche Wehrmacht ebenso wie das deutsche Beamtentum, breite Massen zu Tätern und Helfern und Mitwissern gemacht, die dann zu Schweigern geworden seien, weil sie ohnehin mit im Boot der Verbrecher gesessen hätten, ein Aussteigen hätte nichts gebracht. Nicht vergessen dürfe man die Profiteure, jene Deutschen, die von der Enteignung und Arisierung Gewinne gemacht hatten.
Als Bücher verbrannt wurden
Die Todesurteile gegen die Geschwister Scholl wurden um 13.30 Uhr verkündet, um 17 Uhr wurden sie in Stadelheim mittels Guillotine hingerichtet. Schauerlich die Jubel-Veranstaltung, die wegen Platzmangels in den Lichthof übertragen wurde, keiner wollte bei dem Spektakel fehlen, das Gaustudentenführer Dr. Julius Dörfler abzog: derartige Hochverräter müssten künftig an den nächsten Bäumen aufgehängt werden, so hämmerte es Dörfler den Studentinnen und Studenten ein. Die Versammelten hätten jeden Satz mit stürmischem Beifall bedacht und ihre unerschütterliche Treue und Hingabe für ihren Führer deutlich gemacht.
Die Begeisterung für die Nazis war ja nicht erfunden. Man vergesse nicht die Bücherverbrennung 1933. Am Königsplatz in München hatten sich mehr als 50000 vorwiegend Studentinnen und Studenten versammelten, sie warfen die Werke von Brecht, Tucholsky und Kästner und vielen anderen unter lautem Gejohle ins Feuer. Auch namhafte Professoren beteiligten sich daran, wie Martin Heidegger, der dann zum Lohn Rektor der Uni Freiburg wurde. Heines Worte von früher sollten sich bewahrheiten: Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch Menschen.
In stumpfen Schlaf verfallen sei die deutsche Bevölkerung, frei nach Götz Aly. Aber es gab das andere Deutschland, es gab den Schreiner Johannes Georg Elser,, es gab die Mitglieder der Weißen Rose, die Attentäter des 20. Juli 1944. Sie alle wurden exekutiert. „Wären sie und andere nicht gegen Hitler aufgestanden, die Deutschen hätten nach dem Ende des NS-Herrschaft wenig gehabt, woran sie sich beim Rückblick auf die Jahre 1933 bis 1945 aufrichten konnten.“(Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens.“ ) Ja, und danach gab es die Zeitzeugen wie Hildegard Hamm-Brücher, den ungarischen Auschwitz- und Buchenwald-Überlegenden Imre Kertesz, Elie Wiesel, Max Mannheimer, Fritz Stern, der am Ende seines langen Lebens seine Besorgnis äußerte: „So wenig sich die Deutschen genügend darüber im Klaren sind, was für eine Errungenschaft die Bundesrepublik gegenüber früheren Jahrhunderten deutscher Geschichte bedeutet, so wenig ist sich die jetzige Generation der Europäer genügend bewusst, welche Leistung es war, Europa so weit zu bringen, wie es heute ist.“
Kleine Anmerkung zum ansonstrn sehr guten Artikel:
Es starben nicht 27 Millionen Russen, sondern 27 Millionen Sowjetbürger. Die Kriegsopfer Weißrusslands, der Ukraine und der baltischen Staaten werden bei der vereinfachenden Darstellung „UdSSR = Russland“ leider zu oft übergangen.