Die Städte sind die Schulen unserer Demokratie. Hier können die Menschen ihr Lebensumfeld selbst gestalten. Soweit die Theorie. Seit 2004 bin ich in Gladbeck Kommunalpolitiker und das erste, was ich lernen musste, war, dass in der Schule der Demokratie im nördlichen Ruhrgebiet ziemlich wenig geht. 2,6 Mrd. Euro Schulden haben allein die zehn Städte im Kreis Recklinghausen in den vergangenen Jahrzehnten aufnehmen müssen, um Soziallasten zu finanzieren. Bei dieser finanziellen Situation muss man jeden Cent zweimal umdrehen, wenn man Schulen renovieren, Kitas bauen oder Sportplätze herrichten will.
16 Jahre später hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass ein Virus den entscheidenden Anstoß zum großen Wurf für die „städtischen Kontos“ im Ruhrgebiet geben könnte. Olaf Scholz war zu Beginn dieser Corona-Krise – kurz bevor Großveranstaltungen abgesagt, Schulen und Kitas geschlossen wurden – zu Gast beim Vestischen Jahresempfang im Kreis Recklinghausen und hat dort einen Plan vorgestellt: Die Hälfte der Schulden der besonders finanzschwachen Kommunen sollen einmalig durch den Bund übernommen werden, damit diese aus der Schuldenfalle zu entkommen können. Damit ist er der erste Bundesfinanzminister, der sich ernsthaft für die finanzielle Lage unserer Städte interessiert. Seine Forderung lautet aber auch: Die betroffenen Länder – allen voran NRW – müssen ihren Teil beitragen und dafür sorgen, dass die Städte nicht wieder die gleichen Schuldenberge aufbauen müssen. „Ich habe einen großen und gemeinsamen Akt der Solidarität vorgeschlagen. Von den anderen Ländern erwarte ich, dass sie sich solidarisch zeigen. Es geht um die Handlungsfähigkeit unseres Landes“, sagt Scholz bei seiner Rede in Recklinghausen.
Gut drei Monate später macht sich bei mir – mal wieder – Ernüchterung breit. Für einen gemeinsamen Akt der Solidarität gab es in einem Teil der großen Koalition offenbar zu viele Egoisten. Es gab zu viele Ministerpräsidenten mit Kurzzeitgedächtnis. Denn der Scholz-Plan – also ein Altschuldenfonds für unsere Städte – wurde nicht Teil des Corona-Konjunkturpakets. Die Städte im Ruhrgebiet sitzen noch immer auf einem Pulverfass. Geht es so weiter, wird an „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in diesem Land nicht zu denken sein.
Dabei hätte die Schuldenübernahme der Städte allein aus nüchterner wirtschaftlicher Betrachtung schon Sinn gemacht. Denn der Bund muss deutlich weniger Zinsen an die Banken zahlen, als unsere Städte. Bleiben die Schulden bei unseren Städten, werfen wir das Geld der Steuerzahler zum Fenster hinaus.
Scholz erinnerte auch an eine sehr symbolträchtige Geschichte aus den Nachkriegsjahren. In seiner Heimatstadt Hamburg standen nach dem Krieg die vielen Theater vor der Schließung, weil sie keine Kohle hatten, um ihre Säle zu heizen. Die Chefs der Staatsoper und des Schauspielhauses fuhren in Richtung Ruhrgebiet, um auf den Zechen um Hilfe zu bitten. Sie kamen in Recklinghausen an, wo die Kumpel kurzerhand die LKW mit Kohle beluden – vorbei an den Kontrollen der Militärpolizei der Besatzungsmächte. So lange, bis sie von den Soldaten erwischt wurden. Später kamen die Schauspieler und Regisseure aus Hamburg wieder zurück ins Ruhrgebiet und führten für die Kumpel Theaterstücke auf – die Geburtsstunde der heutigen Ruhrfestspiele.
„Den Hamburgern etwas Kohle abzugeben war selbstlos, mutig und auch gefährlich. Hätte ja jeder kommen können. Da ist eine Brücke geschlagen worden, zwischen Regionen und Kulturen in Deutschland. Mit Solidarität. Und genau um diesen Zusammenhalt und gemeinsames Anpacken geht es auch heute“, sagte Scholz.
Jetzt kam die kalte Dusche. Die erste Reaktion auf Scholz Vorschlag kam aus Bayern. Man würde nicht einsehen, warum Bayern dafür geradestehen sollte, wenn Städte in Nordrhein-Westfalen nicht mit dem Geld auskämen, das sie einnehmen. Aber niemand hat das je von Bayern verlangt. Und wie kurz das Gedächtnis der Politiker aus dem Süden ist, zeigt ein Blick auf den Länderfinanzausgleich. Fast 40 Jahre waren es die Bayern, die hier von der Solidarität der anderen Bundesländer – allen voran Nordrhein-Westfalens – profitiert haben.
Die nächste kalte Dusche kam jetzt aus Nordrhein-Westfalen – dem Bundesland, in dem mit Abstand die meisten der gut 2.000 Städte mit besonders hohen Schulden liegen. Auf ihren Kontos fehlen gut die Hälfte der insgesamt 45 Mrd. Euro, um die es geht. Aber die CDU-Fraktion im Düsseldorfer Landtag meint, die Entlastungen für unsere Städte – ebenfalls Teil des Konjunkturpakets der großen Koalition – reichten aus. Angesichts der niedrigen Zinsen seien die kommunalen Schulden ja nicht so schlimm. Das mag für den Moment stimmen – auch die Städte im Ruhrgebiet zahlen für ihre Kredite bei den Banken keine hohen Zinsen. Und dass der Bund dauerhaft einen größeren Teil der Wohnungskosten für Bedürftige übernimmt, ist eine riesige Entlastung. Damit wird eine der Ursachen für die hohen Schulden der Städte beseitigt, an denen sie selber nicht schuld sind. Trotzdem: Die Entschärfung vom Pulverfass „Altschulden“ auf die lange Bank zu schieben, ist alles andere als weitsichtig.
An diesem 9. März 2020, als Scholz in Recklinghausen von der großen Solidarität der Recklinghäuser Kumpel erzählte, wusste auch noch niemand, welch große Schäden das Virus in der Wirtschaft anrichten würde. Es gab noch keine Rettungsschirme, Soforthilfen oder Überbrückungs-Kredite. Noch niemand sah den Shutdown kommen.
Wie wir die Krise gemeistert haben und es noch immer tun, wird hier vor Ort entschieden. Hier, in unseren Städten, arbeiten jeden Tag Menschen daran, das Virus zu bekämpfen. Hier machen Unternehmer, Kitas, Schulen, Vereine oder Stadtverwaltungen Hygiene-Konzepte. Hier entstehen die Ideen, wie wir wieder auf die Beine kommen. Das Gute daran ist: Hier vor Ort, hier in unseren Städten können wir die Menschen aus der Praxis mitnehmen. Hier gehen ihre Erfahrungen nicht verloren. Aber voller sind die Kontostände der Städte nach der Corona-Krise nicht geworden. Dabei werden doch gerade in den Städten öffentliche Investitionen getätigt. Schon vor der Krise waren sie mit 75 Mrd. Euro Investitionen die staatliche Ebene, auf der die Zukunft unseres Landes im wahrsten Sinne des Wortes gebaut wird. Deshalb sind es auch die Städte, die wir nach dieser Krise stärken müssen. Die Entlastung bei den sogenannten Kosten der Unterkunft sind ein erster Schritt hin zu einer gerechteren Finanzverteilung zwischen Bund, Land und Stadt. Unsere Städte müssen die Konjunkturmotoren nach der Corona-Krise werden und diese Entlastung hat den Städten etwas Luft für Investitionen verschafft. Aber eigentlich wurde so der zweite vor dem ersten Schritt gegangen. Der Schuldenschnitt fehlt!
Das alles ist kein Selbstzweck. Es ist die Grundlage dafür, dass wir in unserer Region, im Ruhrgebiet, unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Auch wenn einen Menschen mitleidig anschauen, sobald man ihnen erzählt, dass man im Ruhrgebiet lebt, wissen wir: Der Himmel über der Ruhr ist schon lange nicht mehr grau, das Wasser der Emscher schon lange nicht mehr schmutzig. Es macht Spaß, hier zu leben. Trotzdem müssen wir uns verändern, wieder mal. Wir müssen lernen, in unserer Region effektiver zusammenarbeiten. Wir müssen mutig investieren und klare Prioritäten setzten. Wir müssen entscheiden, wofür wir unser Geld ausgeben. Wir brauchen ein gemeinsames Ziel. Das ist für mich das Ruhrgebiet von morgen: Das Zentrum eines menschlicheren Gesundheits- und Sozialwesens. Europas Vorbild für eine neue, saubere Industrie. Mobil, nicht Region des Stillstands. Metropole der starken Städte.
Zum Autor: Michael R. Hübner wurde 1973 in Kirchhellen geboren. Seit 2010 ist er für den Wahlkreis Gladbeck und Dorsten Mitglied des Landtag und seit 2015 stellvertretender Vorsitzender der SPD Landtagsfraktion. Der ausgewiesene Experte für das Ruhrgebiet kandidiert am 13.09. bei der Kommunalwahl im Kreis Recklinghausen für das Amt des Landrats und auf Platz drei der SPD-Liste für das Ruhrparlament.
Bildquelle: Michael Hübner