„Wie kam es zu Hartz IV“, fragt der Blog der Republik und Yannick Moebius antwortet: „Die Gesetzesinitiative geht auf den SPD-Genossen und ehemaligen VW-Manager Peter Hartz zurück.“ Leider nicht richtig. Hartz ist offenbar zu einer Art Mythos geworden, dem Jüngere willig folgen. Mythen solcher Art sollten wir, noch von den Flügeln der Aufklärung gestreift, abtragen. Wenn wir so mit unserer Geschichte umgehen, kann uns passieren, was der Historiker George Santayana sinngemäß so beschrieben hat: Wer seine eigene Geschichte nicht versteht, dem kann´s widerfahren, dass sich die Geschichte wiederholt.
Tatsächlich hat Hartz IV viele „Väter und Mütter“ und eine durchaus komplizierte Zeit der „Schwangerschaft“. Die beginnt bereits in den neunziger Jahren, ein Jahrzehnt, das bereits hinter dem Horizont zu verschwinden beginnt.
- Mythos: Hartz hat einen Niedriglohnsektor erzeugt und millionenfache Armut.
Tatsächlich gab es 1997 und 1998 bereits über fünf Millionen Menschen in Deutschland, die von 630 D-Mark- Arbeitsverhältnissen lebten (in der Spitze 5,6 Millionen). Teils zwei und drei Beschäftigungsverhältnisse pro Person. Steuer- und Abgabenfrei. Das war der seinerzeitige Niedriglohnsektor. Die Betriebsräte liefen übrigens Sturm. Damals lag der Anteil der gering fügig Beschäftigten unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bereits knapp unter 20 Prozent. Heute liegt er zwischen 24 und 25 Prozent.
Richtig ist, dass Länder wie Schweden, Dänemark, Großbritannien und andere früher als Deutschland wachsende, schlechtbezahlte Dienstleistungsbereiche aufwiesen. In Deutschland wurde diese Entwicklung, begünstigt durch Hartz rasch nachgeholt. Schlecht bezahlt in vielen Fällen, aber nicht mehr arbeitslos.
- Mythos: Peter Hartz habe Hartz Pate gestanden.
Tatsächlich haben die „Hartz“- Arbeitsmarkt-Reformen viele Ursachen und Anlässe. Bereits Anfang 2001 war ein leider weitgehend wirkungslos gebliebenes Gesetz vom Bundestag beschlossen worden (es hieß Job AQTIV), das
- als Kern den späteren Hartz-Kern enthielt: Fördern und Fordern.
- Und Lohnkostenzuschüsse für oder bei Einstellung eines arbeitslos gewordenen und arbeitslos gebliebenen Menschen.
- Und Kürzung der Stütze, wenn Angebote abgelehnt werden. Zuschuss- Programme wurden freilich von den Arbeitgebern nicht nachgefragt. Das bekannteste war das Mainzer-Modell. Es wurde lediglich in einigen hundert Fällen in Anspruch genommen.
Für manche war damals vergebliche Arbeitssuche nicht das Problem, sondern das war die Schwarzarbeit. Der Spiegel schrieb (21/2001): „Eine Untersuchung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt: Von den vorgeblichen Jobsuchern über 55 Jahren will etwa die Hälfte keine neue Stelle.“
Jedenfalls waren manche Hartz- „Ideen“ im Kern nichts Neues und Peter Hartz war nicht deren Erfinder.
Der „GAU“ – so kann ich durchaus schreiben – trat ein, als ein Innenrevisor der damaligen Bundesanstalt für Arbeit Anfang 2001 berichtete, die Arbeitsverwaltung täusche und trickse in großem Umfang mit den Erfolgszahlen. Der damalige Arbeitsminister versuchte sofort das Ruder herum zu werfen – Riester sprach dann mit Hartz, der als unkonventioneller Denker und Macher galt. Das war der Akzelerator für die Hartz-Reformen.
- Mythos: Hartz hat die Arbeiterklasse gedemütigt
Ich komme zum infamen Teil der Mythos- Bildung, zu dem Teil, der mit dem Sätzlein: Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten, schrill betitelt wird.
Darin steckt ein handfester moralischer Vorwurf, der nicht stimmt und der aber tatsächlich auf eine Tradition hinweist.
Die Gewerkschaften der Bundesrepublik haben während ihrer gesamten Zeit – von wenigen Ausnahmezeiten abgesehen – stets der Sicherung der Arbeitsplätze Vorrang vor dem Ausreizen des Verteilungsspielraums gegeben, wenn es in eine Lohnbewegungen ging. Bereits in den fünfziger Jahren haben die Gewerkschaften den Unternehmen die Chance gegeben, rasch Kapital zu akkumulieren, um zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen. In den neunziger und den folgenden Jahren war die Richtung der Lohnbewegungen nicht anders; wenngleich es dafür andere Gründe gab. Zu Anfang der Nullerjahre hieß es: „Deutschland- der kranke Mann Europas“ – so etwa das Münchener ifo- Institut für Wirtschaftsforschung, der Economist und viele andere bis in die Talk Shows von Sabine Christiansen hinein. Ein Kennzeichen: Die Arbeitslosigkeit wuchs von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus.
Unternehmer und vor allem deren Verbände standen Schlange, um der Regierung zu sagen: So geht’s nicht weiter, wir verlieren Kundschaft, weil wir an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wir hauen ab! Vor allem klagten sie über die 100 Milliarden €, die Steuer- und Abgabenzahler damals – netto – pro Jahr abzudrücken hatten, um die Modernisierung der sogenannten neuen Bundesländer zu finanzieren. Das war auf Jahrzehnte so programmiert! Es herrschte in den Vorständen depressives Denken vor.
Die dann entwickelte polit-ökonomische Linie lautete: Staats-Ausgaben runter, Lohn-Stück-Kosten senken oder zumindest gleich halten. Man wollte unter schwieriger werdenden Wettbewerbsbedingungen dennoch die Arbeitslosigkeit senken wollte. Ob man das als Verrat bezeichnen kann, wage ich doch zu bezweifeln, zumal die Kritiker damals nichts anderes hatten als die Parole: weiter wurschteln!
Ein Hauptargument der Hartz-Kontrahenten lautete: Der Schröder hat den Arbeitslosen die Sicherheit genommen, 32 Monate Arbeitslosengeld zu kriegen. Was ist wahr? Von 1985 bis 1987 wurde die Bezugsdauer für ältere Beschäftigte unter der Regierung Kohl nach und nach ausgeweitet. Ab Juli1987 konnten Arbeitslose ab einem Alter von 43 Jahren bis zu 18 Monate, ab einem Alter von 44 Jahren bis zu 22, mit Vollendung des 49. Lebensjahrs bis zu 26 und mit 55 Jahren gar bis zu 32 Monate lang Arbeitslosengeld beziehen. Zuvor war der Bezug von Arbeitslosengeld grundsätzlich auf 12 Monate beschränkt gewesen. Das war die Tradition. Arbeitsminister Blüm hatte aber bereits 1997 beschließen lassen, dass nur noch über 57- Jährige Anspruch auf bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld haben sollten. Da wurde schon gebremst. Eine Art Gewohnheitsrecht auf 32 Monate gab es nicht.
Die Hartz- Regulierung zurück auf 12 Monate ist ja längst wieder passe – jetzt beträgt die Höchst-Bezugsdauer 24 Monate. Wahr ist, dass von den 1,9 Millionen Beziehern von Arbeitslosenhilfe viele kaum ertragbare Einbußen hatten, als sie 2005 auf Arbeitslosengeld II zurückfielen. Wahr ist auch, dass aus diesen 1,9 Millionen von der damaligen Arbeitsverwaltung kaum eine nennenswerte Zahl vermittelt wurde (von über 90 000 Beschäftigten der Nürnberger BA vermittelten nur zehn Prozent, der Rest war mit Daten sammeln, auswerten, verwalten beschäftigt). Im Gegenzug erhielten erstmals 1,4 Millionen Bezieher und Bezieherinnen von Sozialhilfe einen Rechtsanspruch auf Förderung und Vermittlung!
- Mythos: Hartz hat überhaupt nichts genutzt
Das ist Blödsinn. Hartz hat die Arbeitslosigkeit zweifellos stark verringert. Aber Hartz hat die Kurve zum Aufschwung nicht alleine genommen. In Europa blieben die realen Zinsen niedrig, so dass sich die Unternehmen mit billigen Krediten versorgen konnten, wenn sie investieren wollten. Und das wollten sie! Der Euro war schwach. Die Entwicklung der Lohn-Stück-Kosten war akzeptabel, die Tarifbewegungen waren moderat. Die europäischen und die Weltmärkte und dabei besonders die Volksrepublik China mit seinen schier unerschöpflichen Geldmitteln sogen deutsche Produkte und Dienstleistungen geradezu auf. Das ging gut bis zur Bankenkrise. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir sollten jedenfalls anfangen, mit unserer eigenen Sozial-und Wirtschaftsgeschichte anständig um zu gehen. Wenn´s sich machen lässt: sogar ehrlich. Sonst kommt George um die Ecke.
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Es stimmt leider tatsächlich, das durch Hartz IV der Niedriglohnsektor und der wirtschaftliche Aufschwung erst möglich wurde. Daher wird die SPD so schnell nicht nochmal an die Macht kommen. Denn sie handeln nicht mehr Sozial sondern im Interesse der Industrie und Lobbyverbände.