Gesucht wird… der mündige Bürger. Im Fortschreiten der Corona-Pandemie ist mehr Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen erwünscht. Rücksichtnahme und Solidarität sind plötzlich gefragte Tugenden in Gesellschaften, die seit Generationen auf Egoismus und Selbstsucht getrimmt worden sind.
Selbstständiges Denken, kritisches Reflektieren und das Verstehen von Wissenschaft und Forschung gehören zu den notwendigen Kompetenzen, um den Alltag im Krisenmodus bewältigen zu können. Die Anfälligkeit für Propaganda, Verschwörungsmythen und Fälschungen zeigt jedoch, wie schlecht es um diese Fähigkeiten bestellt ist. Die Errungenschaften der Aufklärung kommen uns schleichend abhanden und mit ihnen das Ideal einer mündigen Bürgerschaft.
Die pessimistische Pauschalisierung mag eine Überzeichnung sein, schließlich hat die Corona-Krise gerade in der deutschen Bevölkerung viel Verantwortlichkeit und mehrheitlich Einsicht in die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen zutage gefördert. Im Kontrast dazu erscheinen allerdings völlig entfesselte Partys und leichtsinnstaumelnde Happenings ebenso wie die im Internet sprießende Anhängerschaft abenteuerlichster Influencer und Propagandisten umso unverständlicher.
Alles Bemühen um Erklärung und Aufklärung prallt an den Klugscheißern und Besserwissern ab, versickert in den Echokammern und erreicht die vom Virus der Verschwörungstheorien Infizierten nicht. Sie nehmen selektiv nur solche Informationen wahr, die in ihr Konstrukt passen, und blicken mit ihren selbstgefertigten Scheuklappen auf das Geschehen, das eine völlige Uminterpretation erfährt.
Das Erschrecken darüber, wie tiefgreifend und resistent ein solcher Realitätsverlust im menschlichen Denken sein kann, wirft die Frage nach der Ursache auf. Und neben den psychologischen Erklärungsansätzen, die auf die angstgesteuerten Reaktionen von Menschen und ihr irrationales Verhalten in Krisen verweisen, führt auch diese Frage zu der Standardantwort für gesellschaftliche Missstände: Es hapert an der Bildung.
Medienkompetenz erweist sich nicht erst seit der Corona-Krise als ein vernachlässigtes Thema. Das Internet ist voll von Fälschungen und Manipulationen, Pseudo-Nachrichten und Betrug, Hass, Hetze und kriminellen Machenschaften, denen unkritische Nutzergruppen schutzlos ausgeliefert sind.
Der Gesetzgeber kommt mit der Regulierung nicht nach, die Ermittlungsbehörden hinken immer hinterher. Minderjährige sind nur einen Klick von Pornoseiten entfernt und verbreiten selbst pornografisches Material. Die abscheulichen Fälle massenhaften sexuellen Missbrauchs gegen Kinder, die erst in jüngster Zeit nach Jahren unvorstellbarer Grausamkeit und Brutalität in Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster aufgedeckt wurden, erreichen durch das Internet nie dagewesene Dimensionen.
Schafft das Internet ab!, möchte man in ratloser Verzweiflung ausrufen, und gelangt doch wieder zu der einzig realistischen Forderung nach Prävention und Aufklärung, nach dem mündigen Bürger, der seine Verantwortung für das Ganze wahrnimmt.
Bielefelder Forscher haben den Stellenwert der politischen Bildung untersucht. Die steht in der Sekundarstufe I der deutschen Schulen erst spät und nur in geringem Umfang auf dem Stundenplan. In sechs deutschen Bundesländern wird Politische Bildung frühestens ab der 8. Klasse unterrichtet, in Bayern erst ab der 10. Klasse und nur für ein Halbjahr.
Professor Dr. Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak von der Universität Bielefeld haben zum dritten Mal ein Ranking zum Stellenwert des Politikunterrichts in allen Bundesländern erstellt. Ihr Fazit: „Wie viel politische Bildung junge Bürger*innen in der Schule erhalten, hängt in Deutschland davon ab, in welchem Bundesland sie zur Schule gehen. Von einer Gleichwertigkeit der politischen Bildung kann keine Rede sein.“
Demnach findet Politische Bildung in drei Viertel der Bundesländer in den 5. und 6. Klassen überhaupt nicht statt, in sechs Bundesländern frühestens ab der 8. Klasse. „Auch wenn wir aus anderen Studien wissen, dass Schüler*innen bereits im Grundschulalter politisch interessiert sind, können sie sich in der Schule erst spät mit politischen Inhalten auseinandersetzen“, so Reinhold Hedtke.
Die Debatte über die Lehren, die für unsere Schulen aus der Corona-Krise zu ziehen sind, konzentriert sich zurzeit auf die Digitalisierung. Das birgt die Gefahr, dass der Blick auf die Inhalte verlorengeht. Die aber machen den Wesen der Bildung aus.
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Wenn in den Schulen systematisch und obligatorisch Quellenkritik gelehrt würde, wäre schon viel gewonnen, meine ich.