Nein, es war kein Parteitag der Ovationen. Die SPD wählte mit Andrea Nahles(47) erstmals in ihrer 154jährigen Geschichte erstmals eine Frau zur Parteivorsitzenden, aber sie wählte keine Heilsbringerin. Das Ergebnis für Nahles, die immerhin die Unterstützung des gesamtes 45-köpfigen Vorstandes hinter sich hatte, fiel mit 66,35 Prozent der Stimmen bescheiden aus. Die bundesweit eher unbekannte Konkurrentin, Simone Lange, OB aus Flensburg, erhielt immerhin etwas weniger als ein Drittel der Stimmen. 414 Ja-Stimmen pro Nahles gegen 172 Stimmen für Lange bei 38 Enthaltungen, das zeigt die ganze Zerrissenheit der Partei, die Unsicherheit, in der man sich nach dem Wahl-Desaster im Bund mit 20,5 Prozent und den Niederlagen bei den Landtagswahlen befindet. Und die Stimmung ist eher noch düsterer, erreicht doch die alte Volkspartei gerade noch rund 18 Prozent in den Umfragen. Und: das Ergebnis Nahles-Lange entspricht genau dem Ergebnis des Sonderparteitags in Bonn pro Koalitionsverhandlungen.
Das Ergebnis macht zugleich deutlich, dass Andrea Nahles noch ein weites Feld vor sich hat, um die Geschlossenheit der Partei wieder zu erreichen, die Zahlen zeigen klar, dass die neue Parteichefin viel Arbeit vor sich hat, um ihre nicht unerhebliche Zahl an innerparteilichen Gegnern auf ihre Seite zu ziehen. Mit Herzblut will sie die Erneuerung der SPD vorantreiben, das betonte sie in ihrer Rede, sie gab sich kampfeslustig. Nahles ist eine Politikerin, die die Ärmel hochkrempelt, wenn es nötig ist. Sie eckte in der Partei immer gern an, scheute keinen Konflikt, harmoniesüchtig ist sie gewiss nicht. In ihrer Rede deutete sie allerdings an, dass sie auch anders sein kann. Seit 30 Jahren ist sie in der SPD, hat in einem Eifel-Örtchen namens Weiler mit gerade mal 500 Einwohnern damals einen Ortsverein der SPD gegründet, das Arbeiterkind Andrea Nahles. Nach Wiesbaden hatte sie ihre Mutter mitgebracht, die sie eigens begrüßte: “ Hallo Mama.“
Hausfrau oder Kanzlerin
„Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ hatte Andrea Nahles(47) als Berufswunsch in ihr Abitur-Buch geschrieben. Nun ist sie zunächst Chefin der SPD geworden. Dass die Mehrheit der rund 600 Genossen auf dem Parteitag in Wiesbaden mit 66,35 Prozent in der Nähe der Schmäh-Erfolge eines ihrer Amtsvorgänger, des ungeliebten Sigmar Gabriel, liegt, wird die ehrgeizige Frau aus der Vulkaneifel nicht weiter stören. Sie ist es. Mehrheit ist Mehrheit, hatte schon Konrad Adenauer gesagt und damals war die Mehrheit viel knapper. Und heute geht es für sie und die sPD ja um einen großen Schritt: das Durchstoßen der gläsernen Decke, an der Frauen in der SPD in der Vergangenheit immer wieder gescheitert waren. Diese Decke ist nunmehr durchgestoßen und sie werde offen bleiben, verspricht die neue Frontfrau der SPD.
Dass sie das kann, die kriselnde Partei aus der Tiefe zu holen, daran hat sie keinen Zweifel gelassen. Das „Ich kann das“ erinnert an Worte eines anderen ehemaligen Vorsitzender der SPD, Oskar Lafontaine, der die Genossinnen und Genossen damals 1995 in Mannheim, als die SPD auch am Boden lag, mit den Worten aus ihrer Depression holte: „Nur wer von sich selbst begeistert ist, kann auch andere begeistern“. Lafontaine erntete Jubelstürme für seine Rede, die eigentlich keine war, die der Saarländer aber mit einer Begeisterung vortrug, mit einer Körpersprache, dass die Parteifreundinnen und -freunde beinah auf die Stühle sprangen, weil sie plötzlich daran glaubten, der Machtwechsel in Bonn stünde unmittelbar bevor. Zur Erinnerung: die SPD war unter ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping in Umfragen bei 23 Prozent gelandet. Jetzt liegt die Partei bei 18 bis 19 Prozent, bei der Bundestagswahl waren es mickrige 20,5 Prozent.
Als Lafontaine Scharping stürzte
Damals in Mannheim war sie auf Lafontaines Seite gewesen, der sie mal als ein „Gottesgeschenk“ gepriesen hatte. Das haben ihr manche verübelt, schließlich war Scharping ein Rheinland-Pfälzer, wie Nahles auch. Aber sie wird die Langeweile Scharpings getrieben haben, für den „Oskar“, wie sie ihn einst liebten in der SPD, zu sein, weil der mit Leidenschaft Politik machte. Lafontaine und Scharping gingen als Feinde. Wenn der Vergleich erlaubt ist: Schulz und Nahles kommen, so der Eindruck gut miteinander aus, dabei ist Schulz gescheitert, obwohl als Heilsbringer einst mit 100 Prozent zum SPD-Chef gewählt. Und dieser Schulz macht heute gute Miene zum Spiel mit Nahles, er zollt ihr brav Beifall, der neuen Vorsitzenden.
Andrea Nahles gilt als bestens vernetzt in der SPD, sie war Juso-Chefin in den 90er Jahren, Generalsekretärin wurde sie, als sie Franz Müntefering in die Parade fuhr und dessen Vorschlag mit Kajo Wasserhövel verhinderte. Das soll sie so nicht gewollt haben. Mag sein, wenngleich in der Politiker-Welt kaum zu glauben. 2013 setzte sie sich als Arbeits- und Sozialministerin durch, weil sie nicht Entwicklungsministern werden wollte. Ja, die Nase hat sie, den Machtanspruch, sie weiß um die Bedeutung des Ministeriums gerade in der SPD. In diesem Ressort konnte sie die Rente mit 63 durchsetzen, die Mütterrente, den Mindestlohn. Volker Kader, der mächtige Fraktionschef der Union-Fraktion, wunderte sich über Andrea Nahles und er würdigte ihre Arbeit, weil er spürte, dass auf sie Verlass ist, dass sie Zusagen einhält, ihr Wort gilt. Auch das ist Andrea Nahles und unterstreicht ihr Durchsetzungsvermögen.
Verhandeln bis es quietscht
Wer sie beobachtet hat auf der Regierungsbank, neben Wolfgang Schäuble sitzend, dem Senior-Minister, hoch angesehen-heute ist er ja Bundestagspräsident- konnte gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass die beiden ganz gut miteinander können. Womit wiederholt wäre, was schon Volker Kauder betont hatte: Nahles hat sich im Kabinett Merkel mit ihrer Arbeit, ihrer Disziplin Anerkennung verschafft. Dass Peter Altmaier, der damalige Kanzleramtschef und Merkel-Vertraute, eine Lobrede auf Nahles hielt, weil sie einen Preis gewonnen hatte als Politikerin des Jahres, passt ins Bild. Nahles sei so lernfähig, zitierte FAZ-Bürochef Günter Bannas, dass sie das „freie Unternehmertum zu neuer Blüte führen“ könne. Wahrheit oder Ironie? Wie auch immer, Andrea Nahles tritt mit ihren Kollegen von der Union auf Augenhöhe auf, was auch eine Frage des gegenseitigen Respekts bedeutet. Aber zu ihr gehört auch, dass sie dann ankündigt, bei den Koalitionsgesprächen werde sie verhandeln bis es „quietscht“. So ist sie, die Nahles.
Man sollte Andrea Nahles nicht unterschätzen. Manche tun das, weil die alleinerziehende Mutter aus der Eifel verbal gelegentlich ins Alberne gleitet. Aber Vorsicht, mit Bätschi und so ist die Sozialdemokratin überhaupt nicht zu definieren. Auch derbe Worte wie „Fresse“ oder „Kacke“ gehören zum gelegentlichen Wortschatz der neuen Frau auf der Brücke der SPD. Das sollte man nicht auf die berühmte Waage legen. Sie ist so, gerade heraus, direkt, impulsiv.
Sie kann auch Basta
Ihren Ehrgeiz haben schon andere wie Franz Müntefering kennengelernt, ihren Arbeitseinsatz, ihren Fleiß, ihre Disziplin lobten die Kolleginnen und Kollegen schon aus der letzten GroKo. Nein, die Dame ist nicht ohne. Und sie lässt sich auch nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen. Zur Not kann sie auch Basta. Ich habe sie als Juso-Vorsitzende beim Redaktions-Gespräch mit der WAZ-Redaktion vor vielen Jahren erlebt. Andrea Nahles wusste genau, was sie wollte, unterschätzen sollte man sie nicht, sie ist ambitioniert und kann knallhart sein. Der politische Gegner wird im Bundestag noch viel „Spaß“ mit ihr haben. Sie wird eine scharfe Klinge im Plenum führen. Nicht umsonst gehört sie dem GroKo-Kabinett von Angela Merkel nicht an, wenngleich sie einen gehörigen Anteil am Zustandekommen dieser umstrittenen Regierung aus Union und SPD gehabt hat.
Gemeinsam mit den Mitgliedern will sie die Erneuerung in Angriff nehmen, so ihre Bitte oder Aufforderung an alle. Einen hat sie schon längst an ihrer Seite: Finanzminister Olaf Scholz, mit dem sie seit Jahr und Tag gut auskommt, fast kann man von Harmonie zwischen dem Mann aus Hamburg und der Frau aus der Eifel sprechen. Scholz steht für das Seriöse, Solide, eben, wie ein Finanzminister zu sei hat. Altkanzler Gerhard Schröder, den Nahles einst als“eine Abrissbirne an der SPD-Programmatik“ beschimpft hatte, mischt sich in solche Debatten schon länger nicht mehr ein, das hat er hinter sich und kümmert sich lieber um andere Geschäfte. Andererseits dürfte es Schröder die Art und Weise durchaus gefallen haben, wie sich Nahles durchgesetzt hat. Sie beide waren ja mal Juso-Chefs.
Partei- und Fraktionschefin Merkel
Die Frage nach dem Kanzlerkandidaten der SPD muss jetzt nicht gestellt werden, es ist viel zu früh. Aber eine Machtfrage ist mit Andrea Nahles Wahl zur SPD-Vorsitzenden beantwortet. Man darf vielleicht an Angela Merkel erinnern, die als Parteichefin auch nach dem Fraktionsvorsitz der Union griff, Friedrich Merz, der damalige Amtsinhaber, ging einer Kampfkandidatur mit Merkel aus dem Weg und überließ ihr das Feld. Merkel, der man über Jahre den Weg zur Macht nie zugetraut hatte, war plötzlich die starke Frau an der Spitze der CDU. Dass sie erst Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur gegen Gerhard Schröder überließ, erinnerte an die Schläue des Helmut Kohl gegenüber Franz Josef Strauß. Merkel regiert seit 2005. Es könnte ihre letzte Legislaturperiode werden. Und dann?
Zuletzt ein Blick in die Ahnengalerie der SPD, um die Bedeutung der Wahl von Nahles zu ermessen: Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck, Franz Müntefering, Sigmar Gabriel, Martin Schulz und jetzt Andrea Nahles. Von 1946 bis 2018 lauter Männer und jetzt erstmals eine Frau als Chefin im Willy-Brandt-Haus in Berlin.
Bildquelle: Wikipedia/flickr,Thomas Rodenbücher, CC BY 2.0
Schlimmer kann es nicht mehr kommen.