Medien- und ideologiekritische Beobachtungen zu einem Kommentar von Johan Schloemann: Zwei Klassen. In: Süddeutsche Zeitung vom 11./12. 05.2019, S. 4
Das gab es in der Republik schon lange nicht mehr: Gymnasiast/inn/en gehen „Fridays for Future“ auf die Straßen und bereits ihre gebremste Aufsässigkeit reicht hin, Berufspolitikern zumindest selbst-entlarvende, möglicherweise auch selbst-schädigende Offenbarungen zu entlocken. So empfindlich sind die Sachwalter der herrschenden Interessen in einem stabilen Land. Und jetzt protestieren auch noch die Abiturienten gegen zu schwierige Mathematik-Aufgaben in den Landesabituren von bislang 11 Bundesländern. Mittlerweile haben sich mindestens 110 000 Schülerinnen und Schüler in die offenen Petitionen eingetragen (Recherchestand: 14.05.2019, 18.05 Uhr) und zumindest auf der Web-Seite der bayerischen Petition kommen zusätzliche Einträge im Sekundentakt hinzu. Das ist zwar nicht der erste Protest dieser Art, aber der erste in diesem Ausmaß. Natürlich ist die Anzahl der Protestierenden kein Argument, aber auch nichts, was man ignorieren könnte oder sollte. Klar, wenn ein Buch und ein Kopf zusammenprallen und es hohl klingt, muss das nicht am Buch liegen, so Lichtenberg, aber auch nicht von vornherein am Kopf. Immerhin waren schon einige dieser Schüler-Proteste durchaus berechtigt, so etwa in Hessen 2009.
Tatsächlich ist es so: Erstens sind bislang nur einige der in Frage stehenden Aufgaben bekannt. Zweitens widersprechen sich darauf bezogene öffentlich gewordene Expertenurteile, zum Teil auch in sich selbst. So gab die Süddeutsche Zeitung vom 09. Mai dem Präsidenten des Brandenburger Pädagogenverbandes das Wort. In dem Interview mit ihm bezeichnete sich dieser Experte als „unabhängiger Zweitkorrektor“, was immer das bedeuten soll, und bekannte, bisweilen Rat bei seiner Tochter einzuholen, die „Profi-Mathematikerin“ sei. Dieser Mann, der überdies „zurzeit nur Physik und kein Mathe“ unterrichtet, befand, die Aufgaben seien nicht zu schwierig, aber zu umfangreich. Für das Pensum, das den Abiturienten vorlag, habe er 7,5 Stunden gebraucht, 3-2, 5 Stunden mehr, als den Prüflingen zur Verfügung standen, und habe dabei, wenn es klemmte, die Lösungshinweise zu Rate gezogen, eine Erleichterung, die den Prüflingen ‚naturgemäß‘ nicht gewährt wird. Zudem hätten die Aufgabentexte erst umständlich in die „gewohnte Denkweise“ der Schüler übersetzt werden müssen. Schließlich haben drittens einige Kultusministerien aus dieser Lage und durch frühere Erfahrungen klug geworden die Konsequenz gezogen, die inkriminierten Aufgaben von einem Expertenteam überprüfen zu lassen und erst dann über das weitere Verfahren zu entscheiden.
Aus diesen drei Gründen ist im Moment die Faktenbasis, auf der die Öffentlichkeit den Sachverhalt beurteilen könnte, denkbar schmal. Wenn die Massenmedien es trotzdem riskieren, die Proteste in Kommentaren zu beurteilen, wäre zumindest zu verlangen, dass der Kommentator auf die schwache Grundlage seines Urteils und damit konsequenterweise auf dessen Vorläufigkeit hinwiese. Und wenn man sich das Ideal eines Kommentars zurechtträumen wollte, müsste man sogar fordern, dass es einen davon unabhängigen Bericht gibt, der eine ausreichende Anzahl von urteilsrelevanten Fakten enthält, oder dass der Kommentar in Form einer Diskussion mögliche Gegenargumente in Betracht zieht, damit der doch gern postulierte ideale Leser des Qualitätsmediums in die Lage versetzt wird, gegebenenfalls ein begründetes Urteil gegen die Intention des Kommentators entwickeln zu können.
Dass dieser Anspruch mittlerweile bodenloser Idealismus geworden ist, soll am hier untersuchten Kommentar Johan Schloemanns in der Süddeutschen Zeitung demonstriert werden.
- Fast schon sympathisch bekennt Schloemann: Er weiß nichts. Er kennt die Abi-Aufgaben nicht. Er spricht von einer „möglicherweise überfrachteten Aufgabenstellung“. Bei diesem Befund hätte er es ohne Gesichtsverlust belassen können. Stattdessen legt er sich auf eine Ursachenvermutung fest und spinnt darüber ein ideologisches Gewebe. Älteren wird vielleicht eine TV-Minute mit Herbert Wehner einfallen: „Herr Lüg (eigentlich: Lueg), ich weiß nichts und Sie wissen nichts.“ Als der Journalist unbeeindruckt weiter bohrte, gab ihm Wehner einen guten Rat: „Werden Sie nicht ungeduldig!“ Dies ist der Punkt, an dem einer der letzten Artikel Frank Schirrmachers vor seinem Tod ansetzte: „Echtzeitjournalismus“ minimiere die „Reflexionskraft“ des Journalisten und erzeuge das „Remmidemmi“ einer „Eskalations- und Herzschlagssteigerungssemantik“. Dies mag in vielen Fällen so sein. Mit guten Gründen kann man darin sogar ein strukturelles und damit chronisches und unheilbares Übel des Journalismus überhaupt zu sehen. Man wird aber nicht vermeiden können, auf den blinden Fleck in dieser Hellsicht aufmerksam zu machen, denn Schirrmacher nimmt zu sehr die Empörung für bare Münze und ignoriert die kalte Berechnung, die ihr zugrunde liegt. So gesehen ist seine Kritik fast schon wieder eine Entschuldigung, auf jeden Fall nicht hinreichend, denn, so Kant, das „kalte Blut“ macht den Bösewicht gefährlicher als den, der bewusstloses Rädchen im Sensationsbetrieb ist oder seinen Gefühlen freien Lauf lässt.
- Statt innezuhalten und geduldig zu sein, umgibt der Kommentar recherchelos und ohne zu zögern den Fall mit einem schon längst vorhandenen und unabhängig von ihm existierenden Rahmen, sortiert ihn in eine antithetisch konstruierte Verfallsgeschichte ein. Die geht so: Das Gymnasium war „früher“ einmal eine „Eliteneinrichtung“ und öffnet sich heute und morgen zu einer „weiterführenden Schule der Mehrheit“. Dabei wird aus Gründen, die noch zu diskutieren sind, verschwiegen, dass diese Entwicklung, um in den vagen Zeithorizonten des Kommentars zu bleiben, bereits gestern begann, nämlich vor etwa 50 Jahren. Wer nun in dieser Verfallsgeschichte einen Wiederaufguss aristokratischer Weltbilder vermutet, liegt richtig, denn der dominanten Antithese wird nicht nur eine zeitliche Dimension (früher-heute), sondern es werden ihr selbstredend eine soziologische (geschlossen-geöffnet, Elite-Mehrheit) und eine der Qualität (anspruchsvoll-leicht) zugeordnet. Je mehr Menschen an einem Bildungsangebot partizipieren, desto dümmer, pardon „leichter“ muss dieses werden. Es fehlt ein weiteres Schlüsselwort, um den Eindruck zu verfestigen, dass hier massenfeindlicher, antidemokratischer Aristokratismus in zeitgemäßer Einkleidung wiederbelebt werden soll. Denn der hier entworfene Verfallsprozess soll der „Egalisierung“ geschuldet sein, die vom Autor als hegemonialer Trend der (nicht nur neuesten) Geschichte imaginiert wird. Jeder Blick auf die Geschichte menschlicher Bildung widerlegt seine These. Und wer es mit Geschichte nicht hat, blicke einfach nach China, um zu begreifen, was es bedeutet, den Vielen Bildung zu ermöglichen, und zwar in einer Gesellschaft, die ‚gestern noch‘, genauer: vor 20 bis 30 Jahren eine Nation von Kleinbauern und ihren Kindern war (während die Europäer das Papier erfunden haben, wie wir heute glauben sollen, aber damit sind wir doch noch einmal bei der Geschichte). Jörg Kronauer hat jetzt mit Bezug auf eine Untersuchung des Berliner Mercator Institute for China Studies darauf hingewiesen, dass auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz China im Jahr 2018 rund 30.000 Patente angemeldet habe, zweieinhalbmal so viel wie die USA. Das wäre dem Mythos vom Bildungsverfall durch die Öffnung von Bildungsmöglichkeiten für die „Mehrheit“ entgegenzuhalten.
- Schloemanns Formulierung von der „ehemaligen Eliteneinrichtung“ Gymnasium verknüpft also soziale Exklusivität mit exzellenter Bildung. Diese Verknüpfung ist nicht nur zu simpel, sie ist falsch. Das Gymnasium war nach 1945 nie eine „Eliteneinrichtung“ im Sinn der meritokratischen Basisideologie des Bürgertums, sondern es reproduzierte die bestehenden sozialen und daher nur so genannten „Eliten“ des Groß- und Kleinbürgertums, letzteres vor allem in der Gestalt der „traditionellen Intellektuellen“, der Professoren-, Ärzte-, Rechtsanwalts- und Pfarrerskinder – und dies weitgehend unabhängig von der ‚Intelligenz‘ dieses Nachwuchses. Wer es von denen trotz Nachhilfe und ordentlicher Elternspende auf den öffentlichen Gymnasien nicht schaffte, ‚musste‘ auf eine Privatschule oder ein Internat gehen und das wurde von den Jugendlichen der 50er und 60er Jahre durchaus nicht als Auszeichnung und Privileg wahrgenommen, sondern als Makel. Diese Einrichtungen für die, die sie sich leisten konnten, aber die sie auch nötig hatten, wurden von uns damals mit ähnlicher Geringschätzung und Verachtung bedacht wie so manche dieser Einrichtungen heute noch. Sie sind die privilegierten Asyle für Kinder wohlhabender Eltern und ihre wichtigste Mission besteht nicht in der Herstellung von Bildung und Qualifikation, sondern in der Herstellung von Beziehungen.
- Dass das Gymnasium eine Eliteneinrichtung war, gilt also nicht mit Blick auf sein pädagogisches Innenleben: Die Lehrer waren stolz auf ihre methodisch-didaktische Unbedarftheit, das Lernen zu lehren war für sie eine Zumutung, ein schlechter Witz, diese Fähigkeit hatte „man“ mitzubringen und wenn das nicht der Fall war, wurde man schnell an die Luft befördert. Das war die Drohung im Satz meines Musiklehrers Mitte der 60 Jahre: „Ihr kommt von der Muss-Schule und ihr seid jetzt auf der Darf-Schule!“ Ein anderer mokierte sich über die beginnende Bildungsreform mit der witzig gemeinten Bemerkung, man könne Menschen nicht „begaben“; er glaubte, sich die Sache dadurch vom Leib halten zu können, dass er dem Verb ironisch einen falschen, transitiven Gebrauch unterschob, als seien die Bildungsreformer dieser Zeit noch nicht einmal der deutschen Grammatik mächtig. Mein erster Klassenlehrer auf dem Gymnasium einer mittelhessischen Universitätsstadt brüstete sich damit, an einem anderen Ort, in einer südhessischen Kleinstadt, alle Kinder, deren Sprache noch Spuren des Dialektes erkennen ließ, also, fügte er zur Verdeutlichung hinzu: die Kinder der Bauern aus der Umgebung dieser Stadt innerhalb eines Jahres aus dem dortigen Gymnasium ‚bugsiert‘ zu haben.Nebenbei: Dieses auffälligen Stigmas hätte es nicht bedurft. Jedes Schuljahr in dem von mir besuchten Gymnasium begann mit der Verlesung des Namens und Berufes des Vaters und die angesprochenen Schüler und Schülerinnen hatten diese Daten zu bestätigen. Sobald wir gelernt hatten, uns in der Gesellschaft zu orientieren, wussten wir wenigen Kinder aus den Nicht-Akademiker-Familien, wo und wie wir uns einzuordnen hatten, und wussten, was wir davon zu halten hatten, wenn der Deutschlehrer mit bräsiger Bonhomie in die Klasse blickte und zustimmungserheischend sagte. „Wir sind doch alle Mittelstand“.Jeder, der in den 60er Jahren ein „Elitengymnasium“ besucht hat oder der die damaligen Lehrpläne mit heutigen Curricula vergleicht, wird sofort zugeben, dass die Anforderungen an heutige Schüler größer sind! Ich selbst besitze noch das Jahrbuch des Gymnasiums aus dem Schuljahr 1962/63, es wurde allen Sextanern des folgenden Jahrgangs mit dem Wechsel auf diese Schule überreicht. Es enthielt eine Liste aller auf der Oberstufe geschriebenen Deutsch-Aufsätze des genannten Schuljahres. Darin fiel mir, viel später, als ich das Heft bei einem meiner Umzüge fand, dieses Aufsatz-Thema für die 11 Klasse auf: „Nehmen Sie Stellung zu folgender Zeitungsnotiz: ‚Zwischenfall auf einem Schülerfest!‘ (Verweisung eines Negerstudenten von einem Schülerfest durch den Direktor eines Gymnasiums.)“ Nicht besser war ein Aufsatz-Thema für die Jahrgangsstufe 13: „Welche Probleme sehen Sie verbunden mit der Tatsache, daß a) viele Tausende von ausländischen Arbeitern und b) eine große Anzahl farbiger Studenten aus den Entwicklungsländern in Deutschland tätig sind?“ Über diese Inhalte die Nase zu rümpfen, würde verkennen, wie sehr wir uns mittlerweile diesem Bewusstseinszustand einer „Eliteneinrichtung“ aus den frühen 60er Jahren wieder angenähert haben und dass diese Überheblichkeit auch in einer einstmals als liberal geltenden Qualitätszeitung ein Echo findet (dazu unten). Was aber die Fachlichkeit angeht, ist das Niveau jeder heutigen durchschnittlichen Deutsch-Klausur solchen fälschlicherweise „Besinnungsaufsatz“ genannten Anforderungen haushoch überlegen. Bei allen Schreibübungen, die vielleicht häufiger angesagt waren als heute, darf nicht vergessen werden: Lernziel des Deutschunterrichtes war es, Blödsinn, wenn es harmlos blieb, oder eben zum Beispiel rassistische Ideologeme ‚schön‘ und gefällig formulieren zu können! Die Hauptaufgabe meiner ersten Ganzschriftlektüre auf dem Gymnasium bestand darin, nach Regie des Lehrers in Adalbert Stifters „Bergkristall“ „alle schönen Stellen zu unterstreichen“. Autobiographische Nachbemerkung: In Hessen konnten schon in den 60er Jahren Eltern mitbestimmen, ob ihr Kind auf das Gymnasium geht, hinzu kam, dass der Besuch der „höheren Schule“ nicht, wie in anderen Bundesländern, die Entrichtung von Schulgebühren erforderte – ohne beide Bedingungen wäre ich nie auf einem Gymnasium gelandet; meine Mutter hat sich über das Votum des damaligen Volksschulleiters hinweggesetzt, der freilich nicht mit meinen Leistungen oder meiner Intelligenz argumentierte, sondern schlicht und brutal das „Schuster bleib bei deinem Leisten“ predigte.
- Wenige Mitschüler und ich – wir waren damals eine kleine Zahl, aber trotz allem und uns natürlich nicht bewusst die Vorboten der auf die Bildungskrise antwortenden Bildungsexpansion seit den späten 60er Jahren. Der Kommentar schließt diese Öffnung des Gymnasiums für die Mehrheit aus seiner Kulturkritik nicht ausdrücklich aus, obwohl die selbst noch vage Zeitangabe, dass der Verfall der „ehemaligen Eliteeinrichtung“ durch ihre Öffnung „zur weiterführenden Schule der Mehrheit“ „seit einigen Jahren“ erfolge, nahezulegen scheint, dass sein Fokus nicht auf dieser Bildungsexpansion liegt. Da aber der Sündenfall prinzipiell in der Abkehr von der „Eliteneinrichtung“ besteht, ist diese natürlich immer in seinen Verdikten mit eingeschlossen. Was er als Treibmittel des Bildungsverfalls ausmacht, „Karriereorientierung“ und die Fokussierung aufs „Geldverdienen“ bei den Eltern und Kindern der Unterklassen (den „Eliten“ sind solche niederen Motive natürlich völlig fremd!), verbleibt im Subjektiven und verkennt ökonomische Notwendigkeiten. Selbst wenn an den mentalitätsgeschichtlichen Spekulationen des Autors irgendetwas dran wäre, verblassen sie doch gegenüber diesen Faktoren. Wie immer gilt: „It is the economy, stupid!“ Die damals, eben „früher“ einsetzende Öffnung der gymnasialen Bildung war nicht der idealistischen Verwirrung der Bildungspolitiker geschuldet oder zu verdanken, sondern war (und ist) Resultat gewachsener Ansprüche des Berufssystems an das Bildungssystem, grob gesagt, die Entwicklung der Produktivkräfte hat diese Öffnung ‚verlangt‘ – und diese konnte nur durch den Willen wirklicher Subjekte realisiert werden. Man muss dem Autor des Kommentars nicht unterstellen, dass ihm dieser Zusammenhang unbekannt geblieben sei. Viel näher liegt die Vermutung, in der Tabuisierung aller ökonomischen Determinanten der verfluchten Entwicklung „absichtliche Blödstellerei“ (Dietmar Dath) an der nicht eben leichten Arbeit zu sehen.
- In dieses Paradigma geschichtlicher Verneblung fügt sich auch die Art ein, wie die Bildungsmotive der Vielen gegen die der „Eliten“ kontrastiert werden. Nachdem den „Eliten“ die „Karriereorientierung“ und der Sinn fürs „Geldverdienen“ abgestreift wurden, wird ihnen und ihrer „Einrichtung“, dem ehemaligem Gymnasium, ein Sinn für die „Voraussetzungen des gelingenden Lebens“ attestiert. Als solche erkennt unser Autor „Neugier, Entwicklung der Persönlichkeit, Allgemeinbildung, demokratisches Bewusstsein, kritisches Denken und, ja: Spaß am Lernen“, und wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann man sich durchaus vorstellen, dass die lernenden Subjekte in diesem Aneignungsprozess „Fleiß, geistige Anstrengung und Beharrlichkeit“ aufbringen. Aber leider, leider – und jetzt kommt die historische Dimension ins Spiel, „derzeit scheint die Tendenz eher in Richtung kurzfristiger Fleiß ohne Sinn zu gehen“. Gut gefaucht, braver Iltis!, möchte man ihm zurufen. Leider aber auch wieder zu kurzatmig-asthmatisch. Falsch an seinen Beobachtungen sind der zeitliche Index, mit dem sie versehen werden, und die soziologische Zuordnung zu den verqueren Vorstellungen der Unteren, die in ungehemmter Begierde das gelungene Leben haben wollen, ohne den steinigen Weg seiner Voraussetzungen gehen zu müssen. Wir wollen alles und sofort und holen es uns auf dem Gymnasium light. Dass dem Gegensatz zwischen echtem und kurzfristigen Lernen durchaus etwas anderes als die Dekadenz der Armen zugrunde liegt, lässt der Autor für einen Moment aufscheinen, wenn er eine Erkenntnis aufblitzen lässt und ihr kleines Fünkchen im gleichen Satz zertritt: „Die Schule übt mit der Schulpflicht einen Zwang aus, mit dem sie eigentlich auch einen Raum der Freiheit schaffen soll, bevor der Ernst des selbständigen Lebens beginnt.“ Schafft sie das nun oder bleibt es beim bloßen Sollen? In dieser Ambivalenz verschwimmt die nahegelegte, aber sofort verdrängte Erkenntnis, dass es eben dieser „Zwang“ schulischen Lernens ist, der dieser „Freiheit“, nämlich des selbstbestimmten und daher auch mit Sinngebung versehenen und Spaß machenden Lernens den Riegel vorschiebt. Der von ihm gesehene Gegensatz ist nicht der Öffnung des Gymnasiums für die ‚minder Begabten‘ anzulasten, sondern ist Resultat des Schulsystems, ist der Schulförmigkeit des Lernens selbst geschuldet, in dem es nicht primär um die Aneignung von Lerngegenständen geht (was individuelle Sinngebung, Interesse voraussetzte), sondern um gute Noten. Gelernt wird, wenn überhaupt, mit dieser Zielrichtung, und deshalb wird das in diesen engen Schranken antrainierte Wissen auch so schnell nach der Klausur oder dem Abitur vergessen. Wer von den Angehörigen meiner Generation erinnert sich an Sternstunden der Pädagogik in seiner eigenen Schulzeit? Ist es nicht so, dass wir uns an unsere Schulzeit nur in Form von Anekdoten, Geschichten über Kauziges und Skurriles erinnern? Klaus Holzkamp, der leider viel zu früh gestorbene große Psychologe, nennt diese Form schulischen Lernens „defensives Lernen“ und weist schlüssig nach, dass sein Gegenteil, „expansives Lernen“, das nicht nach der Benotung innehält, sondern ausgreift, bis der Lerngegenstand angeeignet ist, in der Regel nur, wenn überhaupt, an den ‚Rändern des Schulsystems‘ entsteht. Klar, man kann die Schule nicht abschaffen, aber wenn es um echtes Lernen gehen soll, muss man zugleich die schulische Überformung und Blockierung des Lernens zurückdrängen. Gut (fürs Lernen) wird eine Schule dann, wenn sie zugleich Anti-Schule ist. Nachbemerkung: Das an vielen Schulen als „selbstständiges Lernen“ etikettierte Lernen ist real nur „selbstgesteuertes Lernen“ vom Lehrer vorgegebener Inhalte und daher nur das Schönheitspflästerchen der Anstalt.
- Wenn nun die Bildungsaufsteiger der ersten Bildungsexpansion zwar aufgrund der Argumentationslinie des Kommentars nicht gänzlich außen vor bleiben können, aber im Subtext versteckt bleiben, wer von den Unteren gelangt dann an die Oberfläche des Textes? Welche „gesellschaftliche Realität“ wird jetzt in die Gymnasien hineingelassen, um dort ihre destruktive Gewalt zu entfalten, wenn es nicht diejenigen sind, die in der Allegorie des katholischen Arbeitermädchens vom Land erschienen? Da braucht man im Jahr 2019, nach den „einigen Jahren“ seit 2015 nicht lange zu raten: Die Realität, die jetzt ins Gymnasium dringt, ist die der „Einwanderungsgesellschaft“, die dem Gymnasium die zerstörerischen „größeren Unterschiede“ beschert, solche der „Erziehung, der Sprachfähigkeit und der sozialen Herkunft“, und offenbar nicht mehr die Heterogenität durch die weiße Arbeiterklasse. Es mangelt der dunklen Unterklasse also an „Sprachfähigkeit“. In der Tat, so wird im wörtlichen Sinne das Bild der neuen Barbaren evoziert, die schon längst nicht mehr ante portas warten, sondern sich bereits intra muros ausbreiten. Sie die „Crux“ und nicht den Halbmond „des gegenwärtigen Gymnasiums“ zu nennen, klingt da schon beinahe zärtlich. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen, wir haben es, unökologisch gesprochen, mit der Zärtlichkeit der Wölfe zu tun. Auf die Öffnung des Gymnasiums muss „natürlich die Abgrenzung nach außen“ folgen, und zwar eine schärfere als bisher. Dieser Forderung in der neutralisierten Form einer Aussage entspricht auf operativer Ebene ein Zynismus, der im vorletzten Absatz zum Vorschein kommt: „[W]enn am Ende fast alle das Abitur kriegen“, finde die „Selektion“ vor der nächsten Stufe statt, etwa als „Eingangsprüfungen und Vorstellungsgesprächen an den Universitäten über den Studiengang“. Wir erinnern uns an die fatalen Folgen der ersten Bildungsexpansion. Die damalige „Selektion“ durch den numerus clausus machte die alten „Eliten“ fuchsteufelswild, bis sie diese Bastion mithilfe findiger (und teurer) Anwälte schleifen oder durch Studienplätze im südosteuropäischen Ausland umgehen konnten. Solche Auslagen, wer will das nicht verstehen, möchte man sich gerne sparen. Billiger ist es, die vermeintliche Ungerechtigkeit anzuprangern, dass die Falschen aufs Gymnasium und in die Unis gehen, „[w]ährend Pflegeheime händeringend nach Fachkräften suchen“. Jetzt redet der Kommentator bestimmt nicht von den Berufsperspektiven seiner eigenen hochbegabten Kinder, sondern dieser Lebensweg, das ist jetzt eine begründete Unterstellung von mir, ist dem neuen Sockel der „Einwanderungsgesellschaft“ zugedacht. Die vermeintliche Paradoxie des Textes, von einer schrankenlosen Öffnung des Gymnasiums bei gleichzeitig schärfer werdenden „Abgrenzung nach außen“ zu reden, lässt sich jetzt entschlüsseln: Den Kindern der neuen, nicht mehr weißen Unterklasse die ohnehin geringen Aufstiegsmöglichkeiten zu blockieren, ist das hidden curriculum dieser reaktionären, neo-konservativen Klagen über den Niveauverfall an den Schulen. Neo-konservativ sind sie deshalb, weil es natürlich nicht darum gehen kann, die bildungspolitischen Verhältnisse der 50- und 60-ger Jahre zu restaurieren. Im Gegenteil. Solche Gedanken sind nicht in erster Line die der alten „Eliten“, sondern in einem nicht geringen Ausmaß die eines Teils der Bildungsaufsteiger von gestern. Die wollen nicht zurück zu dem status qo ante der „Eliteneinrichtung“ der 50er Jahre, sondern den jetzigen status quo des Bildungssystems gegen die nach(d)rückenden Gruppen der Unteren abschotten, um dadurch ihren erreichten Status (und die damit verbundenen, relativen Privilegien) zu verfestigen, nach Unten abzudichten, nach dem Motto: Bildungsexpansion bis hierher, aber keinen Schritt weiter. Schließlich muss ja jemand die (schlecht bezahlte) Drecksarbeit machen. Würden die eigenen Kinder das machen, müsste ja Arbeiten in den Pflegeheimen besser bezahlt werden. Meine alten Lehrer würden sich freuen, dass ausgerechnet die früheren Rebellen der Klassenzimmer ihrem vermeintlich treffendsten Einwand gegen den Kommunismus: Wer will denn dann noch die Straße fegen?, zu einer unverhofften Wiedergeburt verhelfen. Ein Bündnis mit den alten „Eliten“ ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen.
- Tatsächlich, und das ist jetzt nicht mehr nur kritische Hermeneutik eines Kommentars aus der Süddeutschen, resultiert die geforderte schärfere „Abgrenzung nach außen“ und, zu ergänzen, nach unten aus einer Lage, die seit 10-20 Jahren langsam in Bewegung kommt und an Dynamik gewinnt. Bisher sah es so aus: Während die „alten Bildungsblockierer“ vor 60 Jahren sich gegen den Trend und die Notwendigkeiten einer kapitalistisch erforderten Modernisierung stellten („Reformstau“) und an dieser Kräftekonstellation scheiterten, agierten die heutigen Bildungsblockierer zunächst unbelastet von solchen starken Gegentrends. Qualifizierte Arbeitskraft kann unter den Bedingungen der Globalisierung gegebenenfalls günstig importiert werden – im brain drain. Auch von den Ausgegrenzten selbst erfolgte wenig Druck. Im Unterschied zur fordistischen Phase des Kapitalismus verstetigen sich in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften die Gruppen der angelernten und ungelernten Arbeitskräfte zu einer Schicht von dauerhaft Beschäftigungslosen oder Unterbeschäftigten mit nur schwachem Protestpotential und starker Resignation und Ohnmachtsgefühlen. Ihre Kinder werden in den „Hauptschulen“ eingepfercht, obwohl der Hauptschulabschluss zu immer weniger Ausbildungs- und später zu Beschäftigungsverhältnissen führt. Das dadurch entstehende lebensweltliche Konfliktpotential (Drogen, Gewalt, Kriminalität) wird repressiv eingehegt. So sieht es zwar immer noch auch heute aus, aber nicht mehr nur so. Der Befund stimmt noch am ehesten für die weiße Unterklasse, nicht mehr so ganz für verschiedene Segmente der Emigranten. Die Basis ihres Drangs nach besserer Bildung ist vielfältig: Sie besteht in dem erreichten Niveau des ökonomischen Status; es sind nicht die am härtesten Depravierten, die den Weg des Bildungsaufstiegs für ihre Kinder zu öffnen versuchen, es ist die Einsicht darin, dass ein Leben in den Onkel-Geschäften der Verwandtschaft oder in der Kriminalität oder im Anschluss an scheinbar identitätsstiftende und aussichtsreiche Terrororganisationen (Vgl. zum Beispiel Untersuchungen zur Befindlichkeit junger Männer der zweiten Generation türkischer Einwanderer in der zweiten Hälfte der 90er Jahre: Nikola Tietze: Ausgrenzung als Erfahrung. Islamisierung des Selbst als Sinnkonstruktion in der Prekarität. In Bude, Willisch, S. 147-173) in die Sackgasse führt und es ist die Einsicht, spätestens nach den Morden des „NSU“, dass lammfromme Anpassung im Zweifelsfall ebenso zum Scheitern verurteilt ist. Das Gewicht des daraus resultierenden Drängens in die weiterführenden Bildungseinrichtungen kann man daran ermessen, dass diejenigen, die ihre alten oder erst in der jetzigen Elterngeneration erlangten Privilegien durch den Aufstiegsdrang der ‚neuen Barbaren‘ gefährdet sehen, nicht mehr nur auf das institutionelle Machtgefüge vertrauen, sondern sich in sozialen Bewegungen der besser Gestellten mobilisieren. Eine Ahnung davon, was zu erwarten ist, wenn diese Schichten die weitere Öffnung der Bildungseinrichtungen nicht gegen außen und unten blockieren können, gibt der Hamburger Volksentscheid 2010, der den Beschluss der von CDU und Grünen regierten Bürgerschaft, die Wege gemeinsamer Bildung durch eine Ausweitung der Grundschulzeit um zwei Schuljahre zu verlängern (durch Einrichtung einer sechsjährigen Primärschule), zu Fall brachte. Das ARD-Magazin Panorama sprach damals davon, dass „Egoismus Schule macht“. Stellt man diesen Moralismus auf materialistische Füße, heißt das, die Wahlberechtigten der von Einkommensschwächeren bewohnten Wahlkreisen blieben der Abstimmung fern, diese wurde von den Bewohnern der wohlhabenderen Bezirke entschieden. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass diese ihren politischen Repräsentanten die prinzipielle Zustimmung entzogen hätten. Sie bleiben für diese Parteien weiterhin eine zuverlässige Basis, wie auch die Süddeutsche Zeitung nicht befürchten muss, dass dieser schwache und demagogische Kommentar zum Abiturskandal 2019 zu nennenswerten Kündigungen in den Reihen des akademischen Abonnentenstamms führen wird.
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Prüfungen sind deshalb so scheußlich, weil der größte Trottel mehr fragen kann, als der klügste Mensch zu beantworten vermag.
Charles Caleb Colton
Dass sich Abiturienten mit den Mathe-Abituraufgaben so schwer tun, ist in den meisten Fällen damit begründet, dass ihnen Grundwissen aus der Mittelstufe fehlt, welches sie in der begrenzten Zeit nicht mehr nachholen können. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Schüler bei Problemen im Fach Mathematik frühzeitig mit Nachhilfe beginnen. Auf diese Weise verbessern sich die Noten nämlich auch langfristig.