Der Mann kam von ganz unten, bei ihm zu Hause war das Essen knapp, kein Fleisch, kein Geld, der Gerichtsvollzieher stand schon mal vor der Tür. Das Gymnasium war ihm zunächst versperrt, er lernte Porzellanverkäufer, die Aussichten waren wirklich nicht rosig. Dennoch nahm dieser junge Gerhard Schröder in verzweifelten Lagen seine Mutter in den Arm und machte ihr -und wohl auch sich selbst- Mut. „Warte nur Löwe“, so nannte er seine zupackende Mutter, die sich durch Putzen Geld verdiente, „eines Tages hol ich dich im Mercedes ab.“ Bis dahin dauerte es 40 Jahre, Schröder wurde Ministerpräsident, Bundeskanzler, heute wird er 75 Jahre alt.
Das Versprechen gegenüber seiner Mutter löste er ein, als er als Regierungschef von Hannover einen silbergrauen Daimler hatte. Sie wohnte in Paderborn, also fuhr er vor und nahm sie mit zum „Hirschsprung“ in Berlebeck, einem Restaurant in der Nähe vom Lemgo, wo die alte Dame ihren 80. Geburtstag feierte, eine Feier, die Sohn Gerhard ausrichtete. Ein feines Restaurant. Der Geschäftsführer begrüßte den hohen Gast nebst seiner Mutter persönlich:“Willkommen, Herr Ministerpräsident.“ Momente wie diese genoß der Mann, der es schon damals sehr weit gebracht hatte und das nun auch zeigen konnte in Anwesenheit seiner Mutter, die sich freute, weil es der Sohn geschafft hatte und sie teilnehmen ließ. Nachzulesen ist diese Schilderung in einem kleinen Büchlein der Journalisten Béla Anda(er wurde später Regierungssprecher von Schröder als Kanzler) und Rolf Kleine, der für die Bildzeitung und die Berliner Zeitung gearbeitet hat und der Schröder sehr gut kannte. Genugtuung, das war es, was einer wie Schröder empfand in diesem Restaurant, ob Stolz, das weiß ich nicht. Aber man muss den Lebenslauf von Schröder kennen, die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, auch wenn er später bekannte, dass ihm an nichts gefehlt habe.
Als er am Tor des Kanzleramts rüttelte
Er wollte da raus, wie es Erhard Eppler, einer der Großen aus der Sozialdemokratie, der gern gegen den Strich bürstete und Schröder später beistand, als es um die Verteidigung seiner Reformpolitik ging. Ja, Eppler kämpfte für Schröder wie auch Hans-Jochen Vogel. Ich habe beide erlebt auf den Parteitagen, als es um die Agenda 2010 ging. Er wollte nach oben, er empfand es als ungerecht, dass mancher Bauernjunge aufs Gymnasium durfte, obwohl der weniger wusste, aber er nicht. Schröder holte alles nach, die Mittlere Reife, das Abitur, er studierte Jura, machte beide Examina, wurde Anwalt, trat der SPD bei, der er heute noch angehört. Ein Kämpfer war er, ein Politiker mit Machtanspruch. Deshalb ist die Szene, die jeder vom Hörensagen oder Lesen kennt, so wichtig, dass er einst, als Helmut Kohl noch residierte im Kanzleramt, an den Toren gerüttelt und gerufen hat: „Ich will hier rein.“
Schröder ist umstritten wie sonst kaum jemand in der lichter gewordenen Riege der führenden Sozialdemokraten, wobei man bei Schröder nie weiß und früher nie wusste, ob er provozieren, einfach nur andere ärgern oder sticheln wollte. Der Genosse der Bosse, der sich gern mit den Großen der Industrie umgab, mit ihnen schwere Rotweine trank und dicke Zigarren rauchte. Aber haben nicht alle Präsidenten Berater? Der Kaschmir-Kanzler, der sich ablichten ließ von einem Fotografen, als ihn ein italienischer Edelschneider vermaß, damit Schröder feinste Beinkleider für teures Geld bekam. Und alles sah und las man dann in einer Boulevard-Zeitung. Absicht? Niemand hätte ihm das feine Tuch missgönnt, zumal er es selbst bezahlt hat, aber muss man das öffentlich machen? Aber so war, so ist Schröder auch. Ein Parvenu? Nein. Der Mann schätzt die Kunst, liebt die Malerei, pflegt Bekanntschaften zu Künstlern.
75 Jahre und kein bisschen weise? Na ja, so weit würde ich nicht gehen. Umstritten war er, aber er war auch populär. Dass er Kanzlerkandidat der SPD 1998 wurde und nicht Oskar Lafontaine, lag auch daran, dass dieser Schröder sehr beliebt war, er konnte mit Arbeitern, mit Professoren, mit Generaldirektoren. Später sah derselbe Lafontaine ein, dass er verloren hatte, gegen Schröder. Dann warf er hin mit der Begründung, ihm habe der Wirtschaft-, Finanz- und Sozialkurs des Kanzlers nicht gepasst. Aber hätte man da nicht nachbessern können, mit der Macht des Finanzministers und SPD-Chefs Lafontaine? Schröder schaute dem Volk aufs Maul, kannte deren Sorgen, aber er wusste auch ziemlich schnell, dass die Wirtschaft florieren muss, damit es auch den Beschäftigten, den Arbeitern und Angestellten gut geht. Seine Kritiker haben ihm oft vorgehalten, er sei zu sehr wirtschaftsfreundlich gewesen, zu sehr Genosse der Bosse, wobei man nicht unterschlagen sollte, dass er sehr wohl auch die Interessen der Arbeitnehmer im Auge hatte.
Die Sache mit der Abrissbirne
Man warf ihm vor- und tut es heute noch- , dass er mit der Agenda 2010 die Sache der kleinen Leute verraten habe. Das stimmt mit Sicherheit nicht. Es wird leicht vergessen, dass es damals in Deutschland über fünf Millionen Menschen ohne Arbeit gab. In den Medien wurde an die 30er Jahre erinnert, als die Massenarbeitslosigkeit -sechs Millionen hatten keinen Job- die Weimarer Republik ins Wanken brachte. Mit der Agenda 2010 wurde ein Großteil des Problems gelöst. Vielleicht hätte er damals den Mindestlohn durchsetzen müssen, vielleicht, hätte, hätte Fahrradkette, um mal wieder Peer Steinbrück zu zitieren. Andrea Nahles sprach im Zusammenhang mit Schröders Politik von der Abrissbirne, ein schlimmer Vorwurf, völlig überzogen, die Kritiker Schröders aus der SPD gingen der Links-Partei auf den Leim, die damals mit der Losung Wahlkampf machte: Hartz IV, das ist Armut per Gesetz. Schröder konterte vor einiger Zeit, indem er Nahles die Wirtschaftskompetenz absprach und dann noch dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet die Kanzlertauglichkeit zuerkannte. Da war er wieder, der Mann, der gern stichelt und die eigenen Leute auf die Palme bringt. Aber wer weiß, wer ihn in dieser Frage beraten hat? Das war ja schon ein Problem zu Kanzlerzeiten.
Richtig ist, dass die SPD durch Schröders Reformen Tausende und Abertausende von Mitgliedern verloren hat, Mehrheitsmeinung der Partei-Funktionäre ist, dass mit Schröder der Niedergang der Partei begonnen habe. Schröder selbst hält dem dagegen, der Fehler sei gewesen, dass die SPD nicht zu den Reformen gestanden habe. Und sein Hinweis, dass sein Wahlergebnis 2005 deutlich besser war als alle folgenden Wahlergebnisse der nächsten Kanzlerkandidaten der Partei, von Steinmeier bis Schulz, ist ja nicht zu widerlegen. Er verlor nur um Haaresbreite gegen Angela Merkel. Schröder hat ja auch der Partei später zugerufen, weder sei er Moses noch handele es sich bei der Agenda um die zehn Geboten, will sagen, im Lichte der Entwicklung kann man Gesetze überprüfen und verbessern, Fehler korrigieren. Und auch wenn das die SPD-Linke nicht gern hört: Der Wirtschaftsboom, der die Politik der Kanzlerin Merkel seit Jahren trägt, basiert auf den Reformen der Regierung Schröder. Was nicht heißt, dass alles richtig war und alles gut ist. Ohne den Kritikern zu nahe zu treten, auch den SPD-Kanzler Helmut Schmidt behandelte die eigene Partei am Ende nicht wirklich gut, sie folgte ihm nicht in der Sicherheitspolitik und ließ ihn auch in Fragen der Finanz- und Sozialpolitik im Stich mit der Folge, dass Helmut Kohl die FDP dazu bewog, ihn in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Bundeskanzler mitzuwählen. Später, viele Jahre später erfuhr der Hamburger durch seine Partei jene Zustimmung, die ihm am Ende der Amtszeit fehlte.
Schröder tut so, als jucke ihn das nicht. „Mir doch egal“, hört man schon mal, wenn man ihn auf Kritik aus der Partei anspricht. Aber so ist das nicht, der Mann war ja auch mal SPD-Parteivorsitzender und wer damals bei der Wahl richtig hingeschaut hatte, konnte bei Schröder eine gewisse Rührung nicht übersehen, Nachfolger des von ihm hoch verehrten Willy Brandt geworden zu sein.
Er sagte Nein zum Irak-Krieg
Dass er damals dem USA-Präsidenten George W. Bush ein „Nein“ zum Irak-Krieg hingeschleudert hatte, wird ihm noch heute hoch angerechnet. Und Recht hatte er mit seiner Ablehnung, ungeachtet der Polemik aus dem Weißen Haus, das versuchte, in dieser Frage Europa zu spalten in ein neues, angeblich modernes, weil in den Krieg ziehendes Europa, und in ein altes Europa, das sich weigerte. Der Kriegsgrund, Saddam Hussein produziere chemische Waffen, entpuppte sich als Lüge. Der Irak hat sich von diesem Krieg nie erholt. Die Terroristen, die sich auch Islamischer Staat nennen, wurden hier geboren. Und noch etwas: Es darf daran erinnern werden, wie die damalige CDU-Chefin Angela Merkel in Washington versuchte, Schröder blosszustellen, in dem sie in einem Zeitungsartikel behauptete: „Herr Schröder spricht nicht für alle Deutschen“. Das war eine Blamage, nicht für den amtierenden SPD-Kanzler, sondern für Merkel. Vergessen?
Seit Jahren ist er mit dem russischen Präsidenten Putin befreundet, seit Jahren arbeitet er für russische Öl- und Gas-Konzerne, Gazprom, Rosneft, wo er im Aufsichtsrat sitzt. Der CDU-Politiker Pofalla hielt ihm das damals vor, dass er quasi vom Kanzleramt in Putins Arme gewechselt sei. Wenig später musste Merkels Kanzleramtschef klein beigeben, weil er vom Kanzleramt in den Vorstand der Deutschen Bahn gewechselt war, ohne dass er dazwischen ein Sabbatjahr gelegt oder sich anderweitig in ein Abklingbecken gelegt hätte. Diese Debatte ist immer wieder auch von Neid geprägt. Geld ist im Spiel, klar, umsonst arbeitet Schröder nicht, aber auch all die anderen nicht. Und dass er seine guten Dienste gelegentlich einer guten Sache opfert, weiß man spätestens seit dem Moment, als er bei Erdogan vorstellig wurde, um mit Zustimmung Merkels Deutsche aus türkischer Haft zu befreien. Ganz nebenbei hat der Fußball-Fan Schröder die Strippen gezogen, damit Schalke 04 in den Genuss der Sponsor-Gelder von Gazprom gekommen ist.
In der „Süddeutschen Zeitung“ habe ich gelesen, dass Gerhard Schröder seinen Geburtstag mit seiner fünften Frau in der Nähe von Weimar verbringt, wo das Ehepaar Urlaub macht. Am 24. April richtet die Stadt Hannover für ihren Ehrenbürger eine Feierstunde aus. Die Feier dürfte ein wenig getrübt sein von der Tatsache, dass sein Verein Hannover 96 wieder mal aus der ersten Bundesliga absteigt. Es könnte auch sein, dass er auf entsprechende Fragen so reagiert: Ist mir doch egal.
Bildquelle: Wikipedia, Campus Symposium GmbH, CC BY-SA 3.0
„Man warf ihm vor … dass er mit der Agenda 2010 die Sache der kleinen Leute verraten habe. Das stimmt mit Sicherheit nicht. … Mit der Agenda 2010 wurde ein Großteil des Problems (der Massenarbeitslosigkeit) gelöst.“
Das scheint mir eine etwas unterkomplexe Sicht der Dinge zu sein. Andere Meinungen hierzu:
Patrick Schreiner auf Blickpunkt WiSo: „Die rot-grüne »Agenda 2010« der Regierung Schröder habe Arbeit geschaffen, so der Tenor vieler Medienberichte zu den jüngst veröffentlichten Beschäftigungszahlen des Statistischen Bundesamts. Doch davon kann keine Rede sein.“
https://tinyurl.com/y5kk9dgu
Gerhard Bosch, Makroskop: „Die Agenda 2010 sollte Probleme lösen, die es nicht gab … 2003 verzeichnete Deutschland bereits kräftige Exportüberschüsse und seit Mitte der 90er Jahre hatte sich bereits durch die abnehmende Tarifbindung ein im internationalen Vergleich großer Niedriglohnsektor entwickelt. Durch den weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors sollte also ein Problem gelöst werden, das wir gar nicht hatten.“
https://tinyurl.com/yymbc4cj
Christoph Butterwegge: „Ernst Niemeier zeigt, dass nicht etwa die „Aktivierung“ der Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV für den Anstieg der Beschäftigung seit Inkrafttreten dieses Gesetzespakets verantwortlich war, sondern die konjunkturell bedingte Zunahme der Arbeitsplatzangebote durch den bereits kurz nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005 spürbaren Wirtschaftsaufschwung. (Siehe auch Gustav Horn, Die große Illusion). Der durch die Arbeitsmarktreformen angeblich mit induzierte „Beschäftigungsboom“ ist eher eine Scheinblüte.“
https://tinyurl.com/y65hqky6