Der Autor titulierte dieses Buch, das 1971 erschien und den vierten Teil einer neunbändigen Romanchronik darstellte, als bürgerlichen Roman. Damit ist zugleich die soziale Stellung der Familie benannt, um deren Schicksal es in den Jahren von 1938 bis 1945 geht: Die Familie Kempowski gehört dem deutschen Bürgertum an und hat das nationalsozialistische Regime und den Zweiten Weltkrieg hautnah mitbekommen. Die Familiengeschichte in diesem Zeitraum wird aus der Perspektive des jüngeren Sohnes Walter erzählt, der 1938 sieben Jahre alt war, und zwar in Form von Collagen aus der unmittelbaren Erlebniswelt und Alltäglichkeit, episodenhaft und detailgenau, erfahrungsnah und lebendig. Dass dabei auch Komik und Sprachwitz im Spiel sind, wird an Textbeispielen noch zu zeigen sein.
Vater Karl, Veteran des Ersten Weltkriegs, ist Reeder in Rostock mit eigenem Kontor und verfügt über ein Vermögen, das den bürgerlichen Lebensstil der fünfköpfigen Familie gut absichert. Mutter Grete ist Hausfrau und stolz auf ihre Abstammung; sie kommt aus einer frommen Hugenottenfamilie namens de Bonsac und repräsentiert die gesittete, feinere Lebensart, zu der auch ein gewisses Maß an kultureller Bildung gehört. Der ältere Sohn Robert absolviert nach dem Gymnasium eine gehobene kaufmännische Ausbildung und wird das väterliche Unternehmen beerben; er schwärmt für Jazz, damals als Niggerjazz verpönt, und hängt lockeren Lebensformen (in Kleidung, Haltung, Auftreten, Musikgeschmack) an, damit seinem jüngeren Bruder ein Vorbild. Tochter Ulla schließlich macht Abitur, studiert Anglistik und heiratet den Dänen Sven Sörensen, mit dem sie in den 1940er Jahren nach Dänemark zieht.
In der zeitnahen Kritik ist der Roman schlecht weggekommen (Gerhard Henschels Biografie Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski, 2009, kommt das Verdienst zu, die unzähligen Verrisse in den Feuilletons der späten 1970er Jahre dokumentiert zu haben). Hier sei nur die Tendenz der Kritiken wiedergegeben: Kempowski ergehe sich in der Idylle bürgerlichen Alltagslebens, verharmlose die NS-Zeit; er ignoriere den Holocaust durch Verschweigen der Konzentrationslager und der Naziverbrechen; er versäume es, den ökonomischen Gesamtzusammenhang (sic!) darzustellen u.a.m. Da war zeittypisch viel Ideologie im Spiel, aber auch reine Böswilligkeit; statt sich auf Form, Inhalt und Struktur des Romans einzulassen, wenn nicht gar auf die Absichten des Autors, fokussierte man sich auf das, was angeblich zu wünschen übrig ließ, auf das, was nicht drinsteht also. Kurzum: Hier wurde Rufmord begangen.
Will man Kempowski halbwegs gerecht werden, dann stellt sich die Frage, wie eine bürgerliche Familie den Nationalsozialismus und den Krieg erlebt und welche Anpassungsleistungen sie vollzogen hat, um möglichst ungeschoren und unbescholten davonzukommen. Ohne Zweifel gibt es deutliche autobiografische Bezüge, allein schon die Wahl des Familiennamens lässt darauf schließen.
Die Werthaltung der Kempowskis ist konservativ. So sagt Karl von sich, er sei konservativ bis auf die Knochen, aber doch kein Nazi. Und Grete hat an ihrem Mann das Überkorrekte beobachtet, dass es ihm zu ihrem Leidwesen sogar verbiete, einmal was Schönes und gute Lebensmittel aus dem Krieg mitzubringen, wie andere das tun. Das Alltagsleben der Kempowskis, als noch alle zusammen waren und der Krieg fern, ist regelgeleitet und von Normen bestimmt. Man nimmt die Mahlzeiten gemeinsam ein, und der Vater ist darauf bedacht, vom aktuellen Leistungsstand seiner Kinder in der Schule zu erfahren. Sie werden regelmäßig abgefragt (ansage mir frisch), was besonders Robert oft gegen den Strich geht. Der Älteste nimmt sich auch relativ viel heraus und spart nicht mit Widerspruch. So sagt er anlässlich eines Zwistes mit dem Vater einmal: Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich das Borstenvieh dran wetzt. Die Empörung über so viel Respektlosigkeit gegenüber der Autorität des Vaters ist groß; nur mit Mühe erlangt er seine Beherrschung wieder, und mit dem Verweis: früher hätte es so etwas nicht gegeben, wird eingelenkt.
Insgesamt jedoch sind die Familienszenen vom Bemühen um Harmonie und Eintracht gekennzeichnet. Ja, man pflegt so etwas wie einen Familien-Code, d.h. man verständigt sich mit nur den Mitgliedern vertrauten Wortkreationen – oft aus dem mecklenburgischen Plattdeutsch zusammengesetzt – oder Wortspielen, die eine bestimmte Bedeutung haben. Die Einteilung von allem Bestehenden in Gut und Böse oder Schlecht erfolgt hier nach zwei Zigarrenherstellern (Karl ist leidenschaftlicher Zigarrenraucher): der Gute heißt Löser & Wolff, und wenn man tadellos sagen will, wird daraus eben der Komparativ Tadellöser & Wolf; der Schlechte heißt Miesnitzdörfer & Jenssen, und so wird alles benannt, was einem nicht passt und gefällt. Geflügelt auch die Ausdrücke klare Sache und damit hopp; total verbumfeit (für danebengegangen); Scheiße mit Reiße; gut dem Dinge; allerhandlei (aus allerlei und allerhand); immerhinque (sagt der Lateiner); Jija, jija; primig (für prima); Tomatenauto (für Automat), völlig iben (für hin, kaputt, im Eimer) und so fort. Hier sind viel Sprachwitz und Kreativität im Spiel, die bisweilen an Arno Schmidt (den Kempowski sehr verehrt hat) gemahnen.
Auch bestimmte, immer wiederkehrende Redewendungen ziehen sich durch den Roman. Einen besonderen Sprachstil pflegt Mutter Grete. Wenn sie beispielsweise um etwas bittet, sagt sie: Tut mir die Liebe und … Oder um sich und andere wieder zuversichtlich zu stimmen, sagt sie: Das Rad dreht sich, so kann es ja nicht weitergehen. Oder, wenn sie sich an etwas erinnert, leitet sie ihre Aussage so ein: Nee, was war das auch immer … oder: Oh, wie war das … Oder, wenn sie mit etwas nicht einverstanden ist, sagt sie: Wie isses nun zu fassen bzw. Wie isses nur möglich …
Die Normen und Werte, die im Hause Kempowski hochgehalten werden, stehen mit denen des Naziregimes oft in Konflikt, aber im Stillen, unausgesprochen. Nur dann nicht, wenn es um Ordnung und Organisation geht. Sie halten Hitler für einen guten Organisator, etwa was die Versorgung der Bevölkerung und die Vorratshaltung in Kriegszeiten angeht (auch Walters Hamburger Großvater de Bonsac sagt von Hitler, er sei ein fabelhafter Kerl), und sie vertrauen ihm auch als Stratege der Kriegsführung (von Sieg zu Sieg). Das ändert sich im Laufe der Jahre, als die Verluste allzu groß wurden und die Männer des eigenen Umfeldes reihenweise „fallen“, also zu Tode kommen. Generell halten die K.s es mit dem Regime nach der Devise: Nur nicht auffallen, nicht anecken, sich anpassen, auch wenn man anderer Überzeugung ist, mitmachen, wo es „geboten“ erscheint und immer auf dem Quivive sein.
Gutes Beispiel hierfür ist der jüngere Sohn Walter: er ist unter den Pimpfen bei der Hitlerjugend, ob er will oder nicht, und schiebt zweimal wöchentlich Dienst; da geht es anfangs noch ganz harmlos zu, noch nicht um Schliff, sondern es hat etwas von Geselligkeit. Auch die treusorgende Mutter, die ihren Putzel oder Peterpump (so wird er von ihr genannt, auch noch mit 15) abgöttisch liebt, hat nichts dagegen.
Erst im Laufe der Zeit (die Dienste werden straffer und militanter, die Strafen brutaler) und mit der persönlichen Reifung von Walter gibt es Anzeichen von Widerstand: er lässt sich die Haare lang wachsen, versäumt mehr und mehr den Dienst, schreibt sich selbst die Entschuldigungszettel und täuscht vor, seine Uniform sei bei einem Besuch beim Hamburger Großvater verbrannt, weswegen er ohne sie erscheinen müsse – Walter schlägt sich mit dem Mittel durch, strategisch die Unwahrheit zu sagen. Für dieses Verhalten zahlt der Junge einen hohen Preis.
Wie verpönt damals lange Haare bei Jungen waren und in welche Außenseiterposition Walter sich damit brachte, zeigt sich an zweierlei: er wird von den eigenen Kameraden überfallen, die versuchen, ihm das Haar abzuschneiden; und schlimmer noch: er wird in die sogenannte Pflichtgefolgschaft zwangsrekrutiert, eine Strafmaßnahme und Disziplinierungseinrichtung für Schwänzer und Bummelanten, und auf das Übelste geschliffen, gedemütigt, beleidigt, schikaniert. Aber das zeigt Haltung bei dem Heranwachsenden. Mit seinen langen Haaren, dem weißen Schal zu langen Hosen, dem Schlips vom Vater, dem Schwärmen für Jazz, Kino und Bücher zeigen sich Elemente einer Gegenkultur (auch zu seinem Elternhaus), die auf Eigensinnigkeit und Exzentrik basiert. Der spätere Schriftsteller Kempowski entwickelt schon früh seine Anlagen.
Ansonsten: Vater Karl, Reserveleutnant, meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst, wird wegen Mitgliedschaft bei den Freimaurern zunächst abgelehnt (was ihn tief trifft) und später dann doch eingezogen. Tochter Ulla und Sohn Robert verrichten diverse Arbeits- und Hilfsdienste, ob freiwillig oder erzwungenermaßen, bleibt offen. Mit der Zeit schleicht sich auch so etwas wie eine Militarisierung des Alltagslebens mit festen Feindbildern ein: Walter und seine Freunde spielen Krieg mit kleinen Holzfiguren und rufen ‚Heil! Heil!‘ Es kursieren Feindbilder, hauptsächlich von den Polen und den Russen. Und die Juden sind ganz besondere „Andere“. Die folgende Szene sagt einiges darüber, wie die Jugendlichen sie voller Vorurteile und Aversionen gesehen haben:
Auf dem Schulweg – ‚Seifenheimchen‘– kam man an einem sehr schmalen Haus vorbei. Anno 1903 stand über der Tür.
Im Fenster lagen stets zwei Pekinesen, wenn sie uns sahen, kläfften sie wie rasend.
Gleich gegenüber die ausgebrannte Synagoge, mit einem zerbrochenen Davidstern am gußeisernen Tor.
‚Da wohnen noch richtige Juden‘, sagte Manfred. Er habe im Adressbuch nachgeschlagen. ‚Abraham Glücksmann, Synagogendiener‘.
Im Patriotischen Weg habe man abgeschnittene Finger gefunden, das Werk Israels. Die mordeten Christen, zerstückelten sie und schmissen sie weg. Das war für die eine gute Tat. In jeder Synagoge existiere ein verkrusteter Blutkeller. Dafür kämen sie in’n Himmel.
Und auf dem jüdischen Schlachthof würden die Tiere alle erstmal gemartert und dann langsam zu Tode gequält.
Man fragt sich, wie solche zu Schreckbildern gewandelten Ammenmärchen in die Köpfe der Kinder gekommen sind. Alles ist auf den Kopf gestellt: nicht Christen morden Juden, sondern umgekehrt; sog. Blutkeller gibt es vielleicht in den KZs, aber wohl eher nicht bei ‚den Juden‘; und das Schächten ist reine Tierquälerei und grausamer als das Schlachten. Alles nur so daher gesponnen und ohne jegliche Prüfung einfach übernommen von Erwachsenen.
Interessant der Hinweis des Schülers Manfred, dass dort ‚noch richtige Juden‘ wohnen; also hat „man“ doch das „Abholen“ ganzer jüdischer Familien irgendwie mitbekommen? Weiß man doch vielleicht von den Massendeportationen, die auch die Rostocker Bevölkerung von den Juden ‚gesäubert‘ haben? Und ‚Seifenheimchen‘ – eine Wortkreation vom Schlage Arno Schmidt – kann als Verweis auf die KZs gelesen werden, wo aus den verbrannten Leichenknochen der Juden Seife gesiedet wurde.
Über die Konzentrationslager gibt es, wenn überhaupt, nur ein Raunen und Gemunkel. Man weiß ja nichts Genaues.
Dann dämpfte man die Stimme und schaute sich um.
Im Nachbarrevier habe man KZ-Häftlinge arbeiten sehen.
‚Fahren Sie schnell weiter‘, habe der SS-Mann gesagt.
Die hätten böse ausgesehen. Schlimm.
‚Konzertlager‘ wurde gesagt, und: ‚Das rächt sich.‘
Aber bloß den Mund halten – ‚Junge, hörst du?‘ – Herr Hitler müsse es ja wissen.
Kempowski arbeitet auch hier wieder mit den Mittel der Sprache: Konzertlager für Konzentrationslager ist eine bitterböse Verharmlosung und Verballhornung einer grausamen Wirklichkeit, von der die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung nichts wissen oder nichts gewusst haben wollte. Auch Karl Kempowski verwendet einmal diese Bezeichnung. Diese Ignoranz und Gleichgültigkeit verschafft den Protagonisten des Romans wahrscheinlich eine Gewissensentlastung. Aber der Zusatz, dass sich das räche, spricht dafür, dass die Verleugnung von Schuld ihren Preis haben wird. Es sind Feinheiten wie diese, die den Wert des Romans ausmachen.
Entlang der Chronologie der Ereignisse wird am Beispiel der Familie Kempowski deutlich, dass und wie zunächst das ganz normale Alltagsleben in bürgerlichen Verhältnissen weitergelebt wird – ohne große Einschränkungen und Entbehrungen, aber doch in der Gewissheit, dass es Krieg geben wird. Solange dieser aber noch fern ist – man liest in der Zeitung oder sieht in der Wochenschau von Großangriffen auf Coventry und Exeter – berührt einen das nicht weiter. Doch die Vorstellung von einem nahenden Angriff auf deutsche Städte versetzt Grete schon in einen ängstlichen Zustand des Schon wieder. Denn die Erinnerung an den Weltkrieg ist, da sein Ende erst 20 Jahre her ist, noch wach; sie denkt in Versorgungskategorien und befürchtet Verknappung und Rationierung.
Und dann kommt der Krieg wirklich, Rostock wird wie andere Städte schwer bombardiert, und die Familie fliegt (im Einsatz der verschiedenen Dienste) auseinander. Nur Grete und Walter bleiben zurück und leben zwischen Wohnung und Luftschutzkeller in Angst und Schrecken. Sohn Robert hat als Aufseher den Überblick über das Ausmaß an Zerstörung und berichtet regelmäßig. Er und seine Freunde meinen, Gott sei Scheiße, weil er den Krieg zulasse. Das ist zu viel für die gläubige Protestantin Grete, sie sucht Rat und Trost bei dem von ihr hochgeschätzten Professor Knesel, der immer so schön über Blumen und Tiere predigt. Und der spricht auf ihr Bitten zu den jungen Leuten wie folgt:
Man müsse das anders sehen, sagte er zu den ‚Boys‘. Gott sei nicht Schiete, wie sie in ihrem so sympathischen jugendlichen Überschwang behaupteten – übrigens wirke dieser Ausdruck seines Erachtens im Plattdeutschen keineswegs anstößig – das sei wie ein Reinwaschen, dieser ganze Krieg, ein Reinwaschen von Schlechtigkeit. Ein durch und durch schmerzhafter Prozeß. Das könnten sie ihm glauben. Durch den müßten wir hindurch.
Spricht so ein Humanist? Nichts von Schuld, Verbrechen und Verantwortung, sondern Krieg als Gottes Prüfung, aus der eine Katharsis entsteht? Das ‚Reinwaschen‘ lädt wiederum zur Assoziation mit ‚Säuberung‘ ein – genaues Lesen ist geboten. Dann erschließt sich aus solchen Stellen beispielhaft die Stellung der Kirche zu Krieg und Nationalsozialismus.
Zum Schluss soll noch auf die Figur des Sven Sörensen eingegangen werden, der als gern gesehener Gast bei der Familie Kempowski wohnt und sich hier in einer Art Auslandsaufenthalt (nah an seinem Zuhause) befindet. Der Autor konturiert den jungen Dänen als eine Art Gegenspieler zu Karl: er sieht Deutschland von außen, und mit diesem Blick entwickelt er einen feineren Sinn für so manche Widersprüche und Unstimmigkeiten, angefangen bei der deutschen Nationalhymne, wo in der ersten Strophe die Flüsse Belt und Etsch eingedeutscht und damit einverleibt würden, statt sie Dänemark und Italien zuzusprechen. Bei seinen Reflexionen über Sprache und Denken stellt er einen gravierenden Unterschied zwischen Deutsch und Dänisch fest, und er befürchtet, sich mit dem Deutschsprechen schon zu sehr an das Deutschdenken angepasst zu haben: Sein Charakter verbiege sich womöglich, weg von Klarheit und Wahrheit des dänischen Denkens, hin zum Mystisch-Dunklen, wie die Deutschen eben seien. Sörensen, obwohl so nahe an der Kempowski-Familie dran, scheut sich auch nicht, die Deutschen als Kriegstreiber zu bezeichnen – Mutter Grete besteht darauf, dass sie aber auch Kulturträger seien – und wirft unverblümt die Frage der Kriegsschuld auf. So deutliche und kritische Worte sind die K.s nicht gewöhnt. Auch Roberts klares Feindbild von den Russen hinterfragt der zukünftige Schwager:
Sörensen sah Robert an und sagte: ‚Feinde? Wie meinst du das?‘
Na, Russen, das sind doch unsere Feinde.‘
‚So?‘
Alles in allem: Ein Roman mit vielen Facetten. Bitterernste Sujets wie Krieg, Zerstörung und Judenverfolgung sind eingebettet in Szenen aus dem fast normalen Alltagsleben, dem Banalen und Nebensächlichen, und dies wiederum ist gewürzt mit sprachlichen Finessen, die es in sich haben und die es zu entschlüsseln gilt. Nur vordergründig waltet die ohnehin fragile Harmonie des bürgerlichen Familienlebens, darunter brodeln nicht nur die gefährlichen Zeiten und Zustände, sondern es klafft auch der politische und moralischen Abgrund. Wenn es beispielsweise immer wieder heißt: Wie sie so sanft ruhn all die Toten (ein Zitat des Kirchenliedes von F. G. Klopstock/F. B. Beneken), dann ist damit nicht der Friedhof von nebenan gemeint. Wenn Frau Kempowski so stolz ist auf ihre Herkunft (ganz feines Blut) und man in der Verwandtschaft der Überzeugung ist, der Name de Bonsac komme schlicht von Bohnensack, dann wird hier auf liebevolle Art und mit den Mitteln des Sprachwitzes bürgerlicher Hochmut aufs Korn genommen und lächerlich gemacht. Tadellöser & Wolff hat auch nichts von einem Regionalroman; obwohl er regional verankert ist, sind seine Aussagen mehr als überregional: Sie erklären, wie es möglich war, dass ein ganzes Volk an seinen Führer geglaubt hat und mitgelaufen ist, vor allem auch das Bürgertum, für das die Familie K. eine gutes Beispiel abgibt.
All das, gerade auch die feinen Anspielungen auf das NS-Regime und seine Verbrechen, hat die zeitnahe Literaturkritik leider ignoriert – ob sie es nicht erkannt hat oder nicht wahrhaben wollte, sei dahingestellt. Der Roman ist unter der Regie von Eberhard Fechner mit einer großartigen Besetzung 1975 verfilmt worden; eine gelungene Ergänzung und Veranschaulichung des Buches.
Bildquelle: Bild von Jochen Schaft, Pixabay License
Sehr geehrte Frau Frerichs,
»Und ‚Seifenheimchen‘ – eine Wortkreation vom Schlage Arno Schmidt«, ist keine Kempowski-Schöpfung. Tatsächlich hatte die Firma »Heimchen Seifen Versandhaus GmbH«, ein 1935 »arisiertes« jüdisches Unternehmen (Haushaltswaren) in Berlin, eine Niederlassung, »Heimchen Versandhaus«, Augustenstr. 96 in Rostock. – »Seifenheimchen« ist keine Anspielung auf das Gerücht, dass aus den verbrannten Leichenknochen der Juden Seife gesiedet wurde. Walter Kempowski ist immer sehr präzise und hat kaum zu der so genannten Seifenlegende beitragen wollen. Eigentlich ein geschmackloser Witz, eine Umdeutung des Aufdrucks RIF der Einheitsseife in »Rein jüdisches Fett«. RIF war die Abkürzung für »Reichsindustrie für Fettversorgung«.
In aller Bescheidenheit verweise ich auf die Stellenkommentare zu »Tadellöser & Wolff« auf der Homepage des Kempowski-Archivs in Rostock.
Mit freundlichen Grüßen aus Dänemark
Lars Bardram