In den Erinnerungen meines Vaters Kurt Wolff (1916-2003) hat er festgehalten, wie er nach dem Ende des 2. Weltkriegs am 8. Mai 1945 in einem britischen Gefangenenlager irgendwo in Schleswig-Holstein am 6. August 1945 um 12.00 Uhr mittags über den Lagerlautsprecher hörte, „dass über der japanischen Stadt Hiroshima die erste Atombombe gezündet wurde. Die Stadt sei nach vorläufigen Beobachtungen der beiden Begleitflugzeuge vollständig zerstört worden.“ Weiter notierte er: „Von Hiroshima hatte ich noch nie etwas gehört. Und dass Japan immer noch Krieg führte, hatte ich fast vergessen. Dass etwas Besonderes geschehen war, kam mir erst langsam zu Bewusstsein.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, „wusste der Lautsprecher in der Lagermitte zu berichten, dass eine zweite Atombombe die japanische Stadt Nagasaki zerstört habe. … Der Lautsprecher war voller Begeisterung, dass nun dem Krieg mit Gewalt ein Ende gesetzt wurde – und das für alle Zeiten.“ Doch das Ende mit einem großen Schrecken leitete, wie mein Vater schon damals vermutete, weltweit einen „Schrecken ohne Ende“ ein. Auch wenn bis heute keine weitere Atombombe eingesetzt wurde – der Krieg wurde dadurch nicht zu einer Vergangenheit. In vielen Regionen dieser Welt wurde und ist er grausame Gegenwart. Und selbst in Zentral-Europa, das auf eine 80-jährige Friedenszeit zurückblicken kann, ist er zur greifbaren Zukunft geworden.
Dass dies so ist, hat wesentlich mit der atomaren Abschreckung zu tun. Diese hat nicht nur bis heute den weiteren Einsatz von Atomwaffen verhindert – die atomare Abschreckung hat das Führen von Kriegen mit konventionellen Waffen weiter ermöglicht. Vor dieser bitteren Tatsache sollte – bei aller berechtigten Sorge um einen atomar geführten Krieg – niemand die Augen verschließen. Zwar ist es nicht nur richtig, sondern notwendig, dass gerade die Kirchen Atomwaffen ächten, ihren Einsatz grundsätzlich ablehnen und für eine von Atomwaffen befreite Welt eintreten. Doch sollte uns immer bewusst sein: Alle Argumente, die dafür herangezogen werden, gelten auch im Blick auf einen mit sog. konventionellen Waffen geführten Krieg. Ein solcher ist nicht ein moralisch oder ethisch „besserer“ Krieg. Er kann genausowenig gerechtfertigt werden wie der Einsatz von Atomwaffen.
Wenn wir in diesen Tagen an den Abwurf der beiden Atombomben vor 80 Jahren mit seiner Totalzerstörung alles Lebens und seinen grauenhaften, bis heute wirksamen Folgen für die Menschen in Hiroshima und Nagasaki denken, dann ist es Aufgabe der Kirchen, nicht nur „ein Nein ohne jedes Ja“ zur Herstellung, Lagerung und zum Einsatz von Atomwaffen zu sagen – so wie es 1982 die Reformierte Kirche getan hat. Dieses „Nein ohne jedes Ja“ muss die Kirche auch zum Ausgangspunkt ihrer Haltung zur Herstellung, Lagerung und Anwendung von konventionellen Waffen zur Kriegführung machen. Damit sind die Waffen nicht verschwunden und kriegerische Handlungen auch nicht weggezaubert oder -gebetet. Doch wie sonst wollen wir als Kirche und als Christ:innen eine Alternative aufbauen zu all dem, was jetzt die Weltpolitik, aber auch unser gesellschaftliches Leben bestimmt: eine hemmungslose, gigantische Hochrüstung, eine ideologische Ertüchtigungswelle für die politische Institution des Krieges auf breiter Front, die militärisch-kriegerische Intervention als fast selbstverständliche politische Option im Konfliktfall – und: eine zunehmende Gerwaltbereitschaft unter uns Menschen. Gerade weil uns die atomare Abschreckung nicht vor Krieg und seinen zerstörerischen Folgen schützt, benötigen wir eine neue, grundsätzliche Ächtung des Krieges. Diese muss sich politisch und ethisch niederschlagen in einer klaren Option für eine auf Minimierung von kriegerischer Gewalt ausgerichteten Friedenspolitik, die sich auch im innergesellschaftlichen Miteinander auswirkt.
Nun ist mir der Einwand „Aber was machst du, wenn dich jemand mit kriegerischen Mitteln angreift?“ sehr bewusst. Das trifft auf den Angriffskrieg Putin-Russlands gegen die Ukraine in besonderer Weise zu. Ja, es ist legitim, sich zu wehren – notfalls auch mit Gewalt. Nur: Es ist gefährlich und aus meier Sicht mit dem christlichen Glauben unvereinbar, wenn die ultima ratio immer mehr zum Ausgangspunkt alles Handelns, zur Normalität erklärt wird. Darum benötigen wir die Überzeugung: Nicht ein „Ende mit Schrecken“ verheißt Frieden. Vielmehr sollten wir das grundsätzliche NEIN ohne jedes Ja zum Krieg als Möglichkeit immer wieder erneuern. Das unter den gegebenen Umständen ethisch und politisch umzusetzen, heißt für mich, die richtigen Konsequenzen aus der verbrecherischen Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki zu ziehen.
Dieser Beitrag wurde im Blog unseres Autors Christian Wolff am 5.8.2025 erstveröffentlicht













