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Abendland – Morgenland. Christentum – Islam

Gerd Eisenbeiß Von Gerd Eisenbeiß
20. April 2024
Symbole für Islam und Christentum in 2 skizzierten Köpfen

Christliche und islamische Religion haben vieles gemeinsam, aber unterschiedliche Entwicklungen genommen, ebenso Abendland und Morgenland. Darüber nachzudenken ist wichtig, auch weil insbesondere die Konflikte rund um Israel immer wieder zu gefährlicher Konfrontation führen dürften.

Beide Religionen wurden von starken Propheten-Persönlichkeiten auf die  Erfolgsschiene gesetzt, vor 2000 Jahren von Paulus und von Mohamed fast 600 Jahre später; dieser Zeitversatz ist heute noch spürbar. Beide Religionen fassten ihre zentrale Lehre in einem Buch zusammen, der Bibel und dem Koran, die einige Geschichten des Alten Testaments und damit auch jüdische Mythologie gemeinsam haben, insbesondere die Berufung auf den Urvater Abraham.

Während sich die christliche Religion lange im Widerstand gegen die römische Staatsgewalt entwickelte, bevor sie zur Staatsreligion wurde, begann der Islam vor gut 1400 Jahren in Medina und dann in Mekka sofort als ein alle Lebensbereiche beanspruchendes, also auch politisches System.

Mögen die Urgemeinden jeweils hierarchiearme Gemeinschaften gewesen sein, die Paulus und Mohamed unmittelbar mit Briefen und Predigten führten, so entstanden in der christlichen Welt bald kirchliche Strukturen (zunächst unter Kontrolle des Kaisers), während im Islam die Nachfolger Mohameds die religiösen und staatlichen Strukturen als Kalifen in einer Person führten.

Während die Christen einen existierenden Staat vorfanden und unterwanderten, schufen Mohamed und die Kalifen überhaupt erst einen Staat, der den Namen verdiente. Christen waren daher von Anfang an gewöhnt, dass ihr Gott sie unter staatlicher Gewalt leiden ließ; dagegen konnten die Anhänger des Islam sofort von Sieg zu Sieg eilen. So dehnte sich das islamische Herrschaftsgebiet innerhalb von 50 Jahren über ganz Arabien, Persien, Syrien und Ägypten aus.

Für die Gläubigen war das der Beweis für die Richtigkeit der Botschaft des Propheten. Als später auch Niederlagen häufiger wurden, war eine häufige Begründung bis heute, man habe Gottes Gesetze nicht rein genug erfüllt.

Es war und ist geradezu kennzeichnend für den Islam, dass er davon ausgeht, dass Gott alles minutiös geregelt habe; die Menschen müssten nur herausfinden, was diese Regeln seien. Da hatte Mohamed viel bei den jüdischen Gemeinden aufgenommen, die ja mit ihren hunderten von Vorschriften in den arabischen Städten wie Medina und Mekka existierten. Am Anfang galt nur Mohameds Wort und dann der Koran als Gottes unmittelbare Anweisung. Später versuchten tausende von Theologen herauszufinden, wie Mohamed als Gottes Prophet entschieden hätte, wenn er noch lebte: es entstanden die Hadithen – auch mit frei erfundenen Regeln, wenn Herrscher ihren Willen religiös verankern wollten. Aber das reichte dem islamischen Perfektionismus nicht, vielmehr wurden auch Interpretationen und Regeln als Gottes Gebot verstanden, die sich in der Gemeinschaft der Experten, der Ulama, ergeben hatten. In diesem System ist bei strenger Befolgung bis heute kaum Raum für unabhängiges Denken, denn alle Aussagen und Entscheidungen müssen sich aus diesen Quellen belegen lassen.

Und nach wie vor wird jede Niederlage oder Demütigung der islamischen Welt, wie die heutige Unterlegenheit gegenüber anderen Weltregionen, von wesentlichen Gruppen dahingehend gedeutet, man müsse wieder zum ursprünglichen Islam des Propheten zurückkehren (Salafismus, Taliban).

Nun ist die christlich-abendländische Entwicklung in vielem ähnlich. Auch die Kirche versuchte als Organisation, sich das staatliche System unterzuordnen; auch gab es immer wieder Strömungen und Sekten, die zur Lebensweise der Urgemeinde zurückkehren wollten, die biblische Gebote und Weltdeutungen wörtlich nahmen und modernisierende Änderungen ablehnten – auch das unabhängige Denken und die wissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse. Die Unterdrückung freien Denkens entspricht einer kirchlichen Forderung auf Vernunftverzicht im Glauben (sacrificium intellectus), der göttlichen Offenbarung durch die Ulama entspricht die Rolle der Tradition in der katholischen Lehre.

Der Unterschied wäre vielleicht nicht so groß, wenn es nicht den Reformationsprozess im 15./16. Jahrhundert gegeben hätte. Da es natürlich auch immer wieder unabhängige Denker im Islam gab, ist zu fragen, warum diese letztlich scheiterten, während Reformatoren in Europa so erfolgreich waren, dass sie sogar die katholische Kirche selbst verändert haben. Mögliche Antworten sind:

  • zentrale Gebiete des europäischen Raums waren machtpolitisch zersplittert, der Kaiser hatte längst keine zentrale Macht mehr, die offizielle Position der Kirche (des Papstes) durchzusetzen.
  • der reformatorische Gedanke, dass der Gläubige ein unmittelbares Verhältnis zu Gott habe ohne vermittelnde Priester und Heilige, war im Islam von Anfang an selbstverständlich.
  • Die Unzufriedenheit der Reformatoren und ihrer Anhänger hatte im Papst und der korrupten Kirchenorganisation (Ablasshandel!) ein Feindbild, das es im Islam mangels einer solchen Organisation nicht gab.
  • nicht unterdrücktes, freies Denken entwickelt sich selbstverstärkend.

Das Resultat dieser Unterschiede ist, dass das große „Haus des Islam“, die Reiche der Araber, Perser und Türken von Mindanao im Osten bis Marokko im Westen, trotz Hochkultur aus Handwerk, Baukunst, Literatur und Kunst sowie komplexer, funktionierender Staatsorganisation seine Denker und Wissenschaftler zu eng an die Religion gebunden hat; so konnten insbesondere keine Technologien und keine Industrien entstehen, wobei wahrscheinlich auch das islamische Zinsverbot eine hemmende Rolle spielte.

Demgegenüber entstanden in Westeuropa aus Wissenschaft Technologien und Industrien, insbesondere auch bessere Waffen und Schiffe, die Grundlage für die spätere Weltherrschaft, die unlängst zu Ende gegangen ist. Zuvor hatten Europäer immer wieder erfolglos versucht, ihre Macht nach Osten auszudehnen, z.B. unter Konstantin gegen die persischen Sassaniden, und in den Kreuzzügen, bis schließlich die türkischen Osmanen vor fast 600 Jahren Konstantinopel eroberten und das römische Reich beendeten. Erfolgreich waren die Europäer nur, wenn sie als Händler nach Osten gingen wie z.B. die Venezianer und Genuesen.

Westeuropa schaute zwar nach Indien, dessen Gewürze und Schätze lockten, musste aber die islamische Welt umschiffen – nach Westen um Kap Hoorn oder um Afrika herum. Ihre soliden Schiffe entdeckten dabei den amerikanischen Kontinent und erlaubten ihnen, Handelsniederlassungen in Indien zu eröffnen; erst waren es Portugiesen, dann Niederländer, Engländer und Franzosen, nicht zufällig die Küstenstaaten am offenen Meer. Eine Parallele ist das arabisch-muslimische Handelssystem, das sehr früh den ostafrikanischen Raum erfasste und kulturell beeinflusste.

Eine Sonderentwicklung fand im christlich-orthodoxen, russischen Osten Europas statt; dort hatte man sich erfolgreich gegen asiatische Reitervölker behauptet und im militärischen Gegenzug das gesamte Nord-Asien kolonisiert und die überwiegend nicht-islamischen Regionen bis heute behalten. Während die russischen Regime der letzten 100 Jahre christlich-islamische Konflikte weitgehend vermeiden konnten, haben sich die autokephalen orthodoxen Kirchen im Osten Europas zu ethno-nationalistischen Organisationen entwickelt, in Russland in extremer Form zu einer Hilfstruppe des aggressiven Herrschers.

Für Europa war die islamische Welt selbst für lange Zeit machtpolitisch ebenso uninteressant, wie die europäische für die islamische Welt, wenn man vom Kampf um Südspanien und von den letztlich gestoppten türkischen Vorstößen über den Balkan absieht. Für die hochentwickelten islamischen Völker war insbesondere das unzivilisierte Zentral- und Nordeuropa ohne Bedeutung.

Dagegen bauten die europäischen Händler ihre Geschäfte in der islamischen Welt immer erfolgreicher aus; sie konnten Gewürze und für die heimischen Industrien billige Rohstoffe kaufen – billig, weil sie mit Waffen und Fertigprodukten wenn nicht gar Glasperlen bezahlten, die industriell zu niedrigeren Kosten hergestellt werden konnten als in traditionell handwerklicher Art. Hinzu kam, dass es ein leichtes war, die korrupten Fürsten und Beamten jener Staaten zu bestechen; so hat der persische Schah mehrfach Monopollizenzen an Europäer gegeben, die dafür lediglich seine persönlich Schatztruhe füllen mussten.

So gerieten die islamisch beherrschten Länder immer tiefer in europäische Abhängigkeit; europäische „Berater“ saßen in den Regierungsämtern und optimierten ihren Rat nach ihrem Nutzen. Keines dieser Länder musste militärisch in Schlachten und Kriegen erobert werden. England übernahm nach dem Ende des muslimisch beherrschten, indischen Mogul-Reiches und nach 1920 auch des osmanischen Reichs schleichend die Macht über Ägypten/Sudan im Westen bis Burma im Osten. Nur Persien/Iran, Afghanistan und das Zentrum der arabischen Halbinsel blieben formal außerhalb des britischen Herrschaftsgebietes. Frankreich eroberte im 19. Jahrhundert weite islamische Gebiete in Nord-, West- und Zentralafrika und erwarb nach 1918 Syrien/Libanon als Mandat des Völkerbunds.

Auch wenn die Staaten dieser Regionen nun wieder unabhängig sind, zehrt die demütigende „Schmach“ am islamischen Selbstverständnis: einerseits einzig im Besitz von Gottes Wahrheit zu sein, moralisch allen anderen weit überlegen, aber geopolitisch machtlos und im täglichen Leben auf lauter Dinge angewiesen zu sein, zu deren Entstehen man nichts beigetragen hat wie Autos, Handys, Maschinen und Waffen aus der Welt der verachteten „Ungläubigen“. Und Allahs große Gabe, Öl und Erdgas unter islamischem Boden, hat sich nicht als Quelle von nachhaltiger Stärke erwiesen; nun soll ihm wegen der Gefahren für das Weltklima sogar sein Nutzwert entzogen werden.

Heute könnten einige Staaten der Region, insbesondere Iran, Syrien und Türkei, aus dieser Situation ausbrechen, die Bevölkerung wäre willens und fähig, demokratischer und laizistischer zu leben. Aber ihre Herrscher blockieren den Aufbruch und ruinieren die gesellschaftliche Kreativität. Dabei ist sicher kein Vorteil, dass die islamischen Staaten nach einer Phase schleichender religiöser Säuberung kaum noch christliche Minderheiten oder gar bekennende Atheisten dulden, während der Anteil der Muslime und Atheisten im offenen Westen beständig zunimmt.

Also werden wir noch lange mit den tief liegenden Spannungen zwischen der europäischen und der islamischen Welt zu tun haben. Klug zurückhaltende Politik und tolerantes interreligiöses Zusammenleben im Westen sowie gesellschaftliche Revolutionen im Osten könnte an der spannungsreichen, gefährlichen Situation etwas ändern – langsam aber langfristig vorteilhaft für alle; dass auch muslimische Gesellschaften Demokratie können, beweist das nicht-arabische Indonesien als größter muslimischer Staat der Erde.

Wenn das nicht gelingt, bleibt die islamische Welt eine Region voller Pulverfässer und Brandstifter.

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