Es war einmal ein grausamer Herrscher im Osten, hart wie Stahl, der schon vor dem Großen Krieg über 17 Völker herrschte und danach 6 Völker im Osten Europas adoptierte. Seine Untertanen mussten ihn „Väterchen“ nennen, so dass man die 23 Völker als Söhne bezeichnen kann. Erst 4 Jahrzehnte nach seinem Tod schafften es diese Söhne, sich aus der Zwangsgemeinschaft zu befreien und ihren weiteren Weg nach eigenem Willen zu gehen; denn sie hatten gesehen, dass es anderswo viel schöner war mit besserem Essen und tolleren Autos. So wollten sie nun auch leben.
So war Kain, der mächtigste Nachfolger, in seinem Schloss im größten Reichsteil schließlich ganz allein. Natürlich vermisste er, der Väterchen am ähnlichsten war, dass er nun nicht so herrschen konnte wie der Alte; besonders ärgerte ihn, dass Abel, der zweite Bruder, von ihm nun nichts mehr wissen wollte und in eigenen Grenzen lebte. Und er gedachte voller Wehmut und Zorn, dass Väterchen sich die Weltherrschaft in Jalta mit nur zwei Konkurrenten teilen musste, während sich sein Reich als Entwicklungsland mit Atom-Raketen verspottet lassen musste.
Seine 22 Brüder bemerkten lange Zeit nicht, wie es in Kain brodelte; was immer er versuchte, die anderen Kinder des Kaisers waren erfolgreicher – vor allem diejenigen, die sich dem europäischen Geist geöffnet und ihrem Volk die Herrschaft überlassen hatten. Auch alle anderen Menschen dachten „Wunderbar, der alte Despot und sein Regime sind tot. Nun leben alle im Frieden miteinander und werden glücklich“.
Und das ärgerte Kain; denn er wollte herrschen wie Väterchen S.. Und wie dieser wusste er, dass er in seinem Volk die Wünsche und Träume unterdrücken musste, die sie in anderen Teilen des ehemaligen Reiches erfüllt sahen. So achtete er darauf, dass seine Untertanen möglichst nicht erfuhren, wie gut es anderen ging, und er sperrte Leute ein, wenn sie Gutes aus anderen Teilen der Welt berichteten. Auch beauftragte er eine Gruppe von gut bezahlten Märchenonkeln, seinem Volk mit langem Atem das Gegenteil der Wirklichkeit zu erzählen, bis alle in den phantasierten Luftschlössern ihre eigene traurige Wirklichkeit vergessen würden und voller Ekel auf die anderen Reiche herabblicken würden, die es nicht so gut hatten wie sie unter Kain. Besonders wichtig unter den Märchenonkeln war ihm ein Freund aus krimineller Vergangenheit, der die christliche Kirche zur Propagandamaschine seiner Herrschaft machte.
Nun ist es in der Welt immer so gewesen, dass solche Herrscher am Anfang Lügen in Auftrag geben, dann diesen Lügen ein Monopol verschaffen, so dass sie am Ende ihre Lügen selbst glauben, weil auch sie nichts anderes mehr hören.
Abel hatte es sich in seinem Teil anders eingerichtet; auch er hatte eigentlich nur die väterliche Despotie studiert; er musste und wollte nun umlernen. Kein Wunder, dass dies nicht auf Anhieb gelang. Es ist ja fast eine Regel, dass Despotien nicht unmittelbar von perfekten Ordnungen abgelöst werden, sondern eine Chaos-Phase fast unvermeidlich ist. Aber Abel sorgte dafür, dass sich die Wünsche und Träume in dieser Phase nicht verloren, sondern stabil blieben, so dass – auch mit Hilfe von Freunden – ganz langsam ein Reich ohne Despotie entstand, in dem ein freies Volk das letzte Sagen darüber behielt, wer regieren durfte.
Es war dann wie in der Bibel: während die wärmenden Feuer des Wohlstands in Abels Reich nach oben züngelten, blieben sie in Kains Reich am Boden. In seinem wachsenden Unmut machte Kain nun auch noch den Fehler, seine reichlich vorhandenen Schätze Generälen und Waffenproduzenten in den Hals zu schütten und in immer tollere Raketen zu investieren, die bis zum Mond fliegen konnten, aber – und das war Kain viel wichtiger – die auch Bomben nach Washington tragen konnten. So regierte er mit harter, ja brutaler Hand ein Land, das in vielem weit zurück lag, aber mit seinen Panzern, Raketen, Drohnen und Bomben von allen gefürchtet werden musste.
Wie ein römischer Kaiser dachte er wohl: „Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten“; dem eigenen Volk aber gebot er, ihn auch noch zu lieben, wobei ihn die stattliche Zahl geschickter Märchenonkel wirkungsvoll unterstützten. Dabei nutzte ihm am meisten die Lüge, er müsse sein Volk vor Angriffen Abels und seiner neuen Freunde schützen; dabei ging es ihm nur um sein persönliches Sicherheitsinteresse, vor der Freiheit seines betrogenen Volkes geschützt zu bleiben.
Jene Freunde Abels aber sahen allmählich sehr wohl die psychopathischen Charakterzüge Kains, vermeiden aber gerade deshalb, ihn offen zu demütigen oder zu schneiden. Hatte es sich doch gegenüber dem despotischen Väterchen bewährt, durch offene Handelsbeziehungen und Kontakte zwischen den Völkern das erkannte Aggressionspotential zu mindern. Dass Kain sich tatsächlich zur Tötung seines Bruders Abel entscheiden würde, wurde allenthalben für zu unwahrscheinlich gehalten.
Aber es war eben doch im Dunkel von Kains Gehirn zu einer fixen Idee geworden, vor allem diesen Bruder zu töten, zumindest ihn zu besiegen und das „Bruder-Land“ unter seine Herrschaft zu zwingen. Die Märchenonkel bekamen dazu einen Spezialauftrag: sie sollten in Kains Reich und überall auf der Welt erzählen, dass Abels Untertanen keine Eigenständigkeit als Volk zukomme und Abel letztlich eine Inkarnation von Adolf Hitler sei.
Ein zweiter Spezialauftrag war schon vor vielen Jahren an seine Generäle gegangen: sie sollten minutiös ausarbeiten, wie man Abels Reich erobern könnte; Spione mit genauen Informationen gab es dort genug. Der Plan war in den Grundzügen sicher schnell erstellt; man veranstalte an allen Grenzen zu Abels Reich Manöver, überprüfte die Einsatzbereitschaft der Waffensysteme in Syrien und motiviere die Soldaten mit der Behauptung, es ginge um die Befreiung der Untertanen Abels von Völkermordpraktiken und Nazi-Herrschaft.
Zwar war sich Kain lange Zeit nicht sicher, ob er es wagen könnte, Abel anzugreifen, aber seine Lügen- und Mobilisierungsstrategie hatte den Nachteil, dass er sich selbst immer mehr unter Zugzwang brachte; wie konnte er sein Gesicht als kluger, allmächtiger Herrscher wahren und wie die Angst der übrigen Welt aufrechterhalten, wenn er am Ende den Schwanz einzog und nicht handelte, wie er als notwendig verkündet hatte?
So nutzte er eine olympische Friedenspause am Schwarzen Meer zum entscheidenden Nachdenken mit dem Ergebnis: ICH TU’S.
Er zündete noch einige Nebelkerzen von „Verhandlungen“ und Friedensrhetorik, um die Welt und insbesondere die Opfer zu verwirren. Er sonnte sich in den ängstlichen Gesichtern seiner hochrangigen Besucher, der vielen Regierungschefs, die flehten, er möge Abel leben lassen. DAS war die Rolle, die er sich immer gewünscht hatte: der machtvolle Mittelpunkt des Weltgeschehens, der Gestalter von Geschichte, der Shahinshah der Welt oder einfach nur Mega-Zar Peter; den richtigen Namen hatte er schon: Vladimir, auf Deutsch „beherrsche die Welt“. Er selbst, der gut deutsch sprach, würde wahrscheinlich anders übersetzen: „mir“ kann Welt, aber auch Frieden heißen – und Frieden wollte er der Welt ja bringen durch klare, bei ihm liegende Führung.
Sein Ziel über den Tod hinaus war, als größter Staatsmann in die Geschichte einzugehen, dem auf allen Marktplätzen Standbilder errichtet würden Diese Standbilder sah er schon im Geiste: nicht zu Pferde wollte er auf den Plätzen stehen, sondern in einer Laokoon-artigen Darstellung, bei der er mit nacktem Oberkörper einen Bären niederringt und mit bloßen Händen erwürgt.
Nun ist nur noch offen, ob Kain auch diesmal, nach Äonen menschlicher Geschichte, Abel töten kann, oder ob Abels Freunde diesen so unterstützen, dass Kain scheitert und wie in der Bibel, Moses I, 4, 9-16, „vom Acker getrieben“ wird und „zu anderen Leuten im Osten von Eden“ verschwindet, wo ihm höchstens ein Denkmal im Monstermuseum einer hoffentlich friedlicheren Welt gesetzt wird.












