Wer Russland verstehen will, muss beachten, dass kaum ein Staat und eine Gesellschaft so viel historische Kontinuität aufweist wie Russland – eine imperiale Kontinuität, die alle anderen Staaten Europas verloren haben.
Wie die Russen haben viele europäische Völker vor wenigen Jahrhunderten große Reiche erobert, in denen verschiedene Volker unter ihrer Herrschaft lebten: Portugiesen, Spanier, Niederländer, Engländer und Franzosen sowie erst Ende des 19. Jahrhunderts auch Italiener, Deutsche und Belgier.
Nur das russische Reich ist nicht verschwunden. Schon im 19. Jahrhundert lösten sich die südamerikanischen Provinzen als Einzelstaaten von Spanien und Portugal, mit dem ersten Weltkrieg ging das Osmanische Reich unter sowie das der österreichischen Habsburger – man könnte das preußisch-deutsche Kaiserreich dazu zählen. Zwischen 1945 und 1970 wurde zuerst Indien frei und dann die meisten Übersee-Kolonien europäischer Staaten.
Nur Russland behielt nicht nur, was der Zar bis an die Pazifikküste erobert hatte, sondern gewann sogar baltische und polnische Territorien in Mitteleuropa hinzu sowie eine Art Kolonialreich aus scheinselbstständigen Staaten bis an die Elbe.
Die russischen Eroberungen waren eben stets nebenan, nicht in Übersee, und die unterworfenen Völker Asiens waren klein und nicht in der Lage zu nationalem Widerstand. Zudem waren die eroberten Gebiete klimatisch für russische Siedler geeignet. So stellten die russisch sprechenden Europäer bald überall auch die Mehrheit im sibirischen Raum, während nach Westen die Menschen von Finnland im Norden bis Bessarabien im Süden ihre Identität bewahren konnten, obwohl die Zaren seit hunderten von Jahren glaubten, auch dort „russische Erde sammeln“ zu müssen.
Diese Perspektive der Siedlungseignung war auch für die Westeuropäer von großer Bedeutung gewesen, konnte doch so die Bevölkerungsexplosion im 19. Jahrhundert auf andere Kontinente umgeleitet werden. Wo Siedlungstätigkeit aus klimatischen Gründen möglich war wie auf dem amerikanischen und australischen Kontinent, wurde die Urbevölkerung schlicht dezimiert – mit Waffen getötet, mit Alkohol und europäischen Krankheiten geschwächt oder einfach ins rechtlose Abseits geschoben. Allerdings wollten die Siedler nach einiger Zeit nicht von Europa aus regiert werden; sie gründeten eigene Staaten wie die USA, Brasilien oder Chile. Soweit man das auch auf dem afrikanischen Kontinent versuchte – aus klimatischen Gründen kamen nur Algerien, Kenia und die südlichsten Teile in Frage – scheiterte man letztlich an Freiheitsbewegungen. Nur Südafrika blieb europäisches Siedlungsgebiet, weil die Siedlerzahl bei gemäßigtem Klima groß genug war, um die von Norden in das gleiche Gebiet vorgedrungenen Zulus niederzuhalten; der eigentlichen Urbevölkerung vor der Invasion von Weißen und Zulus, den Koi-San („Hottentotten“ und „Buschmänner“), ging es dabei nicht besser als den Indigenen in Amerika und Australien.
Die Russen hatten dagegen das große Los gezogen: ihre nachbarschaftlichen Eroberungen konnten mangels starker Gegner und durch intensive Siedlungsexpansion leicht gesichert werden.
So war Russland über so gewaltige Umbrüche wie die Oktoberrevolution sowie ihre Überwindung 1990 hinweg stetig, zumal alle Änderungen am Herrschaftssystem seit dem Mongolensturm und Ivan dem Schrecklichen klein blieben.
Einzig der Zerfall der Sowjetunion und der Verlust Osteuropas sowie Zentralasiens fallen aus dem Rahmen dieser reformarmen Kontinuität. Sicher war das Chaos der 90er Jahre mit seinem hoch-korrupten Jelzin-Kapitalismus keine Werbung für das wenig bekannte und immer propagandistisch verleumdete System im Westen.
Auch die christlich-orthodoxe Volksreligiosität gehört zu den stabilisierenden Elementen Russlands, auch wenn diese während der kommunistischen Zeit eher im Untergrund fortbestand; während sie damals überlebte, weil sie keine politische Rolle beanspruchte, wird sie jetzt von Putin als bestätigende göttliche Organisation benutzt, die seine Gewaltherrschaft, seinen Nationalismus und seine Kriege ohne jede christliche Einschränkung unterstützt, wie sie es auch im Zarenreich getan hatte.
So hatte der KGB-geschulte Machtmensch Putin gute Chancen, den Russen als neuer Zar konservative Kontinuität zu bieten. Seine Politik des Machtanspruchs nach innen und außen knüpft an die ungebrochenen Traditionen der russischen Gesellschaft an und wird weithin akzeptiert. Verführerisch ist nicht nur die Tradition strenger Herrschaft ohne Scheu vor machtsichernder Gewalt, sondern auch das Bewusstsein nationaler Größe eines Landes von 17 Mio. km² – das sind 11% der globalen Kontinentalfläche und 70% mehr als die nächst größeren Länder Kanada, USA und. China. Gerade diese Größe verführt den Herrscher und das russische Volk, an eine besondere „russische Welt“ mit endlosen Grenzen zu glauben, alle stalinistischen Verbrechen zu verdrängen und Sätze zu bejubeln wie jenen: „Russland ist, wo ein russischer Soldatenstiefel steht“.
Da beeindruckt oder kümmert es die Russen weniger, dass die Bevölkerungszahl nicht größer ist als die Deutschlands und Frankreichs zusammen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit lt. Wikipedia 2024 nominal weniger als halb so groß war wie die deutsche, nach Kaufkraft 15% geringer.
Denn Russland ist als Atommacht unangreifbar und hat als einziger kolonialer Vielvölkerstaat das 20. Jahrhundert überlebt! Tragisch ist dies für die Welt wie auch für die wenigen Russen (gerade mal 1,5% der Erdbevölkerung), weil es sie glauben macht, sie könnten nicht gleichberechtigte Partner der übrigen Menschheit sein, sondern seien natürliche Herren über viele andere Völker, gar noch von Gott dazu ausersehen. Diese Haltung ist tief verwurzelt und wohl auch nach Putin fortbestehen.
Ein vergleichender Nachsatz zur Entwicklung der USA unter Trump: obwohl es diese Kontinuität gewalttätiger zentraler Herrschaft dort nicht gibt, ist die Ähnlichkeit der derzeitigen Regime in beiden Staaten verblüffend: Auch Trump hebelt demokratische und rechtsstaatliche Mechanismen konsequent aus, auch Trump verfolgt imperialistische Ziele der Beherrschung von zusätzlichen Territorien wie Kanada, Grönland, auch Trump beansprucht von außen uneingeschränkte Vorherrschaft auf „seinem“ Doppelkontinent, auch Trump genießt eine wesentliche Unterstützung christlicher Gruppen sogar bei definitiv unchristlichen Maßnahmen, auch Trump unterstützt vorbehaltlos nahöstliche Kriegs- und andere Verbrechen wie zuvor Putin in Syrien; überhaupt bekämpfen beide das Völkerrecht und internationale Organisationen.
Ein Unterschied? Ja, während Putin wichtige Gegner einsperrt oder tötet, bleibt Trump bei der bloßen Forderung, Gegner zu töten oder einzusperren – wahrscheinlich bleibt das noch so zurückhaltend, bis er die Gerichte völlig entmannt hat.











