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Zum literarischen Werk von Dieter Wellershoff

Petra und Joke Frerichs Von Petra und Joke Frerichs
2. November 2024
Dieter Wellershoff

Am 3. November 2024 wäre Dieter Wellershoff 99 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass möchten wir an ihn erinnern.

Dieter Wellershoff gehört zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. In seinen Romanen, Novellen und Erzählungen schildert er die Schattenseiten einer Gesellschaft, der trotz aller Glücksversprechen eine gemeinsame, verbindliche Sinnstiftung abhanden gekommen ist. Für sein Werk hat Wellershoff zahlreiche Literaturpreise erhalten, u.a. den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln.

Für Wellershoff ist Literatur kein apartes, von der Realität losgelöstes Unterfangen. Er entlehnt die Stoffe seines Schreibens dem Leben selbst. Sie handeln von den existentiellen Problemen der Menschen, die sich in einer zunehmend undurchschaubaren Wirklichkeit zurechtfinden müssen. Dieser Realität sind sie ausgeliefert – mehr oder weniger gut ausgestattet mit ökonomischen und kulturellen Ressourcen; sie müssen ihre Wahlen treffen; sich entscheiden; anpassen oder widersetzen.

Wellershoff schildert in seinen Romanen fast ausnahmslos Figuren, die sich in extremen Lebenslagen befinden: Verlierer, Gescheiterte, Verzweifelte, Außenstehende und Verbrecher. Er zeigt am Beispiel ihrer Lebenswege ein ganzes Spektrum an möglichen Facetten auf; vor allem aber schildert er, wie prekär die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die wir als „Normalität“ bezeichnen. Gesellschaftliche und individuelle Krisen sind für ihn kein Extremfall, sondern der Normalfall. Ob sie zum Ausbruch kommen, ist eine Frage mehr oder weniger zufälliger Ereignisse und Konstellationen. In welche Zeit wir hineingeborgen werden; in welchen persönlichen Lebensumständen wir aufwachsen; in welche Lebenslagen wir geraten – all das ist oft von Zufällen abhängig, auf die wir wenig Einfluss haben. Schon kleinste Veränderungen im gesellschaftlichen oder persönlichen Umfeld können  Alltagsroutinen infrage stellen und Gewissheiten erschüttern, von denen wir angenommen haben, sie seien selbstverständlich.

Wellershoff sieht in der Literatur ein Medium der Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung unseres Lebens. In immer neuen Konstellationen spielt er die oft fragilen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen durch und liefert Gründe für ihr häufiges Scheitern. Die moderne Gesellschaft mit ihren Freiheitsversprechen und Konsumangeboten weckt ein Übermaß an Ansprüchen und Wünschen, vor denen viele in Phantasie- und Traumwelten flüchten, weil ihnen die Mittel fehlen, ihre Sehnsüchte nach einem gelungenen Leben zu verwirklichen.

Der Zerrissenheit und Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechen auf der subjektiven Seite Individuen, die mit ihrer Situation vielfach überfordert sind. Viele leiden, verzweifeln und gehen zugrunde, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht durchschauen oder weil das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen die Balance zwischen Realitätswahrnehmung und subjektiver Identitätsstruktur erschüttert. Das Resultat ist die Erfahrung von Sinn- und Wirklichkeitsverlusten, die folgenschwere Lebenskrisen auslösen können.

Um zu erklären, wie die Wellershoffschen Protagonisten sich verhalten, ist es hilfreich, Anleihen beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu nehmen. Mit seinem Begriff des Habitus hat dieser versucht, das Zusammenwirken von subjektiven Dispositionen und objektiven Strukturen zu verstehen. Der Habitus ist demnach ein untrüglicher inkorporierter Kompass dafür, was ein Individuum für seinen Platz in der Gesellschaft hält und wie es sich seiner gesellschaftlichen Position gemäß zu orientieren und verhalten hat. Der Habitus ist durch Herkunft und Erziehung erworben und besitzt die Eigenschaft, rigide und starr zu sein, zumindest solange er nicht durch Krisen in seiner Substanz erschüttert wird.

In diesem Sinne konstruiert Wellershoff seine Figuren. Sie stecken oft in einem Gehäuse der Hörigkeit (Max Weber) fest oder ihnen fehlen die Mittel, auf ihre Lebenssituation einzuwirken. So sind sie Täter und Opfer in einer Person, da sie in ihrem alltäglichen Verhalten, ihren Routinen usw. die Zwänge, denen sie unterliegen, auch mit produzieren. Das macht es ihnen so schwer, ihr Leben zu ändern, und viele haben das Gefühl, im falschen Leben zu stecken.

Das ist es wohl, was viele Leser Wellerhoffs anspricht: die Probleme, die er schildert, kennt jeder aus eigener Erfahrung. Da ist das praktische Leben, der Alltag, der Anpassung und Einsicht in das Notwendige erzwingt; und die Tugenden, die man durch Erziehung, Sozialisation und Gewohnheit erworben hat. Und dann gibt es die Welt der Gefühle, der Liebe, der Sexualität, für die in den eingelebten Alltagsabläufen oft nicht genügend Raum und Zeit bleibt, so dass die Phantasien, Träume oder Sehnsüchte als ungelebtes Leben zurückkehren. Wellershoff zeigt, wie sie in uns wirksam sind und beginnen, ein Eigenleben zu führen; wie sie als Verdrängtes und Unbewusstes fortleben und durch unvorhersehbare Ereignisse aktualisiert werden; inwieweit sie als menschliche Regungen Realität erlangen oder umgebogen werden und in Pathologien oder Aggressionen münden.

In Wellershoffs Werken werden viele der möglichen Handlungsoptionen aufgezeigt und als virtuelle Lebensentwürfe durchgespielt. Dadurch erweitert sich der Horizont unserer Wahrnehmungen und Einsichten. Allerdings hütet er sich davor, Ratschläge zu erteilen. Im Gegenteil: Es ist sein spezifischer Realismus, gespeist aus den eigenen Lebenserfahrungen, die ihn skeptisch auf  die erbärmliche Unbelehrbarkeit des Lebens  schauen lassen. Er überlässt es dem Leser, welche Schlüsse er selbst zu ziehen bereit ist, und das ist es wohl, was die Lektüre seiner Schriften so reizvoll macht.

*

Viele Motive des Wellershoffschen Schreibens finden sich in seinem Roman Der Sieger nimmt alles wieder, den er selbst wohl für seinen besten hielt. Der Roman handelt vom Aufstieg und Scheitern seines Protagonisten. Aus kleinen Verhältnissen stammend, fällt es diesem schwer, im Leben Fuß zu fassen. Er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und landet so als Werkstudent in der Firma seines späteren Schwiegervaters, dessen Fahrer er  wird. Dieser erkennt die Fähigkeiten des jungen Mannes und betraut ihn nach und nach mit einer ganzen Reihe von Sonderaufgaben, die dieser scheinbar mühelos bewältigt. Auf einer Geburtstagsfeier lernt er dessen Tochter kennen, die er schließlich heiratet. Damit eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ins Geschäftsleben einzusteigen, und diese Chance lässt er sich nicht entgehen. Nachdem er sich eingearbeitet hat und mehr und mehr die geschäftlichen Angelegenheiten der Firma bestimmt, wird ihm der wirtschaftliche Rahmen, in dem er sich bewegt, schon bald zu eng. Er möchte mehr als nur routinemäßige Geschäftsabläufe abwickeln. Auf die Frage nach seinen Zielen antwortet er: Das kleine Geld ist bloß eine Sache des Fleißes. Um das große Geld zu machen, braucht man Phantasie. Und das ist es, wonach er strebt: das große Geld, das ihm die Türen zur Welt öffnet. Der Roman spielt in der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders. Es ist die Zeit, in der  wirtschaftlicher Erfolg zum Maß aller Dinge wird. Er entscheidet darüber, ob jemand gesellschaftliche Anerkennung erfährt oder nicht.

Es ist interessant, wie Wellershoff seine Hauptfigur konstruiert: diese möchte zwar so schnell wie möglich wirtschaftlichen Erfolg haben; aber sie ist nicht der typische Aufsteiger. Vielmehr spürt sie die Distanz zu den Leuten, mit denen sie es zu tun hat: der aufstrebenden wirtschaftlichen und kulturellen Elite. Statt sich dieser anzupassen, meidet sie diese Kreise so weit wie möglich. Sie entwickelt ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen; gleichzeitig wird ihr klar, dass sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft nur eingeschränkt in der Lage ist, bestimmte Verhaltensweisen zu entwickeln und beispielsweise den eiskalten Geschäftsmann zu spielen. Sie kann buchstäblich nicht aus ihrer Haut: Alle Generationen vor ihm hatten Demut und Geduld empfunden, Gehorsam und Bescheidenheit, und er erst hatte begriffen, dass es nicht Tugenden waren, sondern Fesseln. Und von da an hatte er versucht, sich davon zu befreien. Seele bedeutete Angst, Hemmung, Ergebung, und es war nur eine Eigenschaft der Oberschicht, keine Seele zu haben.

Das Gespür, nicht dazu zu gehören, ja es vielleicht auch gar nicht zu wollen, treibt den Protagonisten an, es allen zu zeigen. Dabei scheint ihm der Instinkt für Gefahren abhanden zu kommen. Statt nach geschäftlichen Rückschlägen vorsichtiger zu agieren, verstrickt er sich in immer riskantere Geschäfte, deren Tragweite er nicht überschaut. So kommt es, wie es kommen muss: die Firma gerät in immer größere Turbulenzen und treibt schließlich dem Ruin entgegen.

Als es bereits zu spät ist, noch umzukehren, zieht er eine bittere Bilanz seines bisherigen Lebens: Warum hatte er kein Glück mehr? Seit Wochen wich alles, was er erreichen wollte, vor ihm zurück, und es schien besser zu sein, nichts mehr zu tun, anstatt weiterzukämpfen. Die Augen schließen und alles laufenlassen. Das war es vielleicht. Er musste aufhören zu kämpfen und einfach leben, etwas, das er nie gekonnt hatte. Leben. Es war immer nur eine Erwartung gewesen, der dauernde Versuch, endlich irgendwo anzukommen, wo das Leben stattfand. Nun saß er hier, und das war es.

Dieses Gefühl, am Leben vorbei gelebt zu haben bzw. im falschen Leben zu stecken, ist eines der Hauptmotive des Wellershoffschen Schreibens, das sich in vielen seiner Romane und Erzählungen findet. Darüber immer erneut nachzudenken, erweitert den Horizont für die eigene Lebenswahrnehmung.

Bildquelle: Wikipedia, Bodow, CC BY-SA 4.0

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