Ein neues Buch über Alexander Schalck-Golodkowski fördert viel Vergessenes zutage. Es belegt außerdem mit vielen Beispielen, was nach dem Fall der Mauer ängstlich vertuscht und verschwiegen wurde: Die enge Komplizenschaft des mit Mafiamethoden operierenden ostdeutschen Geschäftsmannes und Stasi-Offiziers Schalck mit Firmen, Banken und Politikern im kapitalistischen Westen. Dass zu seinen Förderern auch Franz Josef Strauß gehörte, ist bekannt. Nach der Lektüre dieses Buches erscheint allerdings der von Strauß und Schalck eingefädelte Milliardenkredit in einem neuen Licht. Er sollte in erster Linie wohl die Profite der Geschäftsfreunde im Westen absichern. Dass dadurch das „Unrechtsregime“ DDR noch ein paar Jahre länger am Leben blieb, wurde billigend in Kauf genommen.
Sein politisches Handwerk als Spiegel-Redakteur hat der Journalist und Autor Norbert F. Pötzl, ab 1972 im Ressort Deutschland II gelernt, das für die Berichterstattung aus den Bundesländern zuständig war. Dessen langjähriger Chef hieß Jochen Bölsche und stand in dem Ruf, ein versierter Akten-Rechercheur zu sein. Man könne Bölsche abends mit zehn oder zwanzig Aktenordnern aus dem Spiegel-Archiv in ein Zimmer sperren, hieß es, und wenn man am nächsten Morgen die Tür aufschlösse, habe er daraus den druckreifen Text einer Titelstory destilliert – ohne mit den Akteuren seiner Geschichte auch nur ein Wort gewechselt zu haben.
Pötzl ist Bölsches gelehrigster Schüler. Jetzt hat er über den einst mächtigen Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, „eine der schillerndsten Persönlichkeiten der DDR“ (Klappentext) ein umfangreiches und profundes Buch geschrieben[1], ohne mit irgendeinem noch lebenden Freund, Gegner, oder Geschäftspartner des vor zehn Jahren an Krebs Verstorbenen auch nur ein Wort zu reden. Er habe es versucht, schreibt Pötzl, aber: „Die wenigen Menschen, die über Alexander Schalck-Golodkowski und den Bereich Kommerzielle Koordinierung (Ko-Ko) noch aus persönlicher Erfahrung Auskunft hätten geben können, wollten oder konnten mit mir nicht reden. Es wäre ohnehin erwartbar auf Rechthaberei und Schönfärberei hinausgelaufen“.
Skandale und Ereignisse
Also machte sich der inzwischen 77jährige Autor, der schon 1988 begonnen hatte, das Material, das bei der Vorbereitung von Spiegel-Geschichten über Personen, Skandale und Ereignisse angefallen war, nachträglich auch in Büchern zu verarbeiten,[2] erneut auf die Suche. Zwei Jahre lang verbrachte er in Lesesälen und Archiven, fotografierte Akten, sichtete digitales und papiernes Material und zog Kopien von Dokumenten, die nicht mehr als geheim klassifiziert waren. Das Ergebnis ist die wohl umfangreichste und detaillierteste, zugleich aber auch spannend erzählte Geschichte über einen Mann, den in der DDR kaum jemand kannte, obwohl er, so Pötzl, „einer der mächtigsten Politiker des Landes war“.
Um den SED-Staat vor der seit den 1970er Jahren immer wieder drohenden Zahlungsunfähigkeit zu retten, betrieb Schalck-Golodkowski über ein weitverzweigtes international operierendes Geflecht von Firmen, Beteiligungen und Strohmännern, seine zum Teil illegalen und moralisch anrüchigen Geschäfte. Er perfektionierte das System der Häftlingsfreikäufe, stieg in den internationalen Waffenhandel ein, half westlichen Firmen Embargobestimmungen zu umgehen, beutete afrikanische und vietnamesische „Vertragsarbeiter“ aus, und zwang die Erben von in Westdeutschland verstorbenen Verwandten, einen Großteil des ihnen vermachten Geldes an die DDR-Kasse abzuführen. Außerdem handelte er mit Raubkunst, indem er wertvolle Kulturschätze und Antiquitäten, die er DDR-Bürgern und aus Museen gestohlen hatte, an westliche Kundschaft verscherbelte. Sogar aus Müll machte der Mann Millionen, indem er westdeutschen Städten erlaubte, ihren zum Teil giftigen Dreck gegen Devisen auf ostdeutschen Deponien abzukippen.
Zwischen Staatsorgan und Mafia
Das von Schalck dirigierte Firmenkonglomerat namens „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) stand – so Pötzl – „über jeglicher Rechtsordnung“. Das Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs bezeichnete es als „ein Mittelding zwischen Staatsorgan und Mafia“. Niemand kontrollierte den Ko-Ko-Chef. Er konnte nach Belieben schalten und walten. „Schalck durfte über Hartwährungskonten in der DDR und im Ausland verfügen“, schreibt Pötzl. „Er konnte sich seine Geschäftspartner ohne staatliche Gängelei aussuchen, nach Belieben Firmen gründen, Anteile an bestehenden Unternehmen erwerben und millionenschwere Investitionen tätigen. Während die planwirtschaftlichen DDR-Betriebe ihre Überschüsse direkt an den Staat abführen, Investitionen über Kredite bei der Staatsbank finanzieren und Devisen für Importgeschäfte eigens beantragen mussten, durften die Ko-Ko-Unternehmen einen nicht genau bestimmten Teil ihrer Deviseneinnahmen auf verschwiegenen Nummernkonten im Ausland anlegen und mit Wertpapieren spekulieren“.
Wieviel Devisen der „schillernde Finanzjongleur“ Schalck tatsächlich dabei erwirtschaftete, wie viele Millionen der „Zahlen Zampano“ später „in dunklen Kanälen“ verschwinden ließ, konnte auch Pötzl nicht ermitteln. Immerhin fand man auf dem einzigen Schalck-Konto, auf das Erich Honecker – wenn auch nur begrenzten – Zugriff hatte im Dezember 1989 (also nach dem Mauerfall) exakt 2.105.781.064,92 DM – hauptsächlich gespeist aus Häftlingsfreikäufen. Damit hätte man natürlich keinen Staat retten können, rechnete der Schalck-Vize Manfred Seidel später vor. „Aber mit mehr als zwei Milliarden, die hinterher auf dem Konto lagen, haben wir Kredite über mindestens sechs Milliarden Mark für die DDR aufnehmen können.“
Dies alles war schon mal bekannt. Aber selbst als vermeintlich gut informierter Zeitgenosse ist man beim Lesen des Pötzl-Buches manchmal überrascht, wie weit weg inzwischen die turbulenten Monate der friedlichen Revolution, des Mauerfalls und der spektakulären Enthüllungen aus den ersten Jahren des vereinten Landes zu liegen scheinen, wie viel man selbst, obwohl damals mittendrin, schon wieder vergessen hat. Dass Pötzl diese Details in seiner umfangreichen Akten-Recherche wieder ins Gedächtnis gerufen hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Jeder Historiker, der sich mit der Geschichte der DDR und ihres Niederganges beschäftigt, muss für die umfangreiche Materialsammlung dankbar sein.
Aussicht auf Milliardengewinne
Pötzl erzählt aber nicht nur die Geschichte des „Schattenmannes“ Schalck. Weil er wirklich alle verfügbaren Quellen benutzt und nichts ausgelassen hat, hat er – ganz nebenbei und vielleicht sogar unbeabsichtigt – auch enthüllt, dass dieser Mann nur deshalb so erfolgreich sein konnte, weil er einige kapitalkräftige westdeutsche Unternehmer mit prominenter politischer Unterstützung und der Aussicht auf Milliardengewinne für sich und seine Zwecke einspannen konnte.
Sie ließen sich gern einspannen, weil sie mit Schalcks Hilfe Steuern hinterziehen, Embargobestimmungen umgehen und sich auf Kosten der DDR bereichern konnten. Ohne diese geldgierigen Komplizen im Westen wäre der Devisen- und Gemischtwarenhändler Schalck-Golodkowski nie so erfolgreich gewesen. Auch dieses Fazit lässt sich nach der Lektüre von Pötzls Buch ziehen, wobei der Autor nicht verschweigt, dass Schalck genau dies bereits 1970 in seiner Doktorarbeit vorhergesagt hat. Dort nämlich vertrat er die These „dass in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine Vielzahl von Personen käuflich sind und bei entsprechenden Gewinnaussichten zu jeder Art von Geschäften legaler und illegaler Art…bereit sind.“
Erleichtert wurden die Geschäfte dadurch, dass die DDR für die Bundesrepublik kein Ausland sein durfte. Für Waren, die über oder aus der DDR in die Bundesrepublik geschleust wurden, entfielen also Einfuhrzölle. Der bayrische Fleischgroßhändler Josef März – und nicht nur er – machte sich diesen Umstand zunutze. Weil die Aufzucht von Schlachtvieh in der DDR wesentlich billiger war als in der Bundesrepublik, ließ er seine Tiere in der DDR mästen und schlachten, um das Fleisch danach steuerfrei in die Bundesrepublik zu importieren. Dank der günstigen Konstellationen konnte März die heimische Konkurrenz ausstechen. Er verdiente Milliarden – und Schalck bekam ein paar Millionen davon ab.
Made in Billiglohnland DDR
März war aber nicht der Einzige, der von der Teilung des Landes profitierte. Westdeutsche Versandhäuser wie Quelle und Neckermann, Discounter wie Aldi und auch das schwedische Möbelhaus Ikea operierten nach derselben Methode: sie ließen ihre Waren (z.B. Kühlschränke, Waschmaschinen, oder Billy-Regale) im Billiglohnland DDR produzieren (häufig wurden Häftlinge in ostdeutschen Gefängnissen dafür eingespannt). Im Auftrag westlicher Unternehmen produzierten volkseigene Betriebe in der DDR qualitativ hochwertige Waren. Pötzl zählt sie akribisch auf: „Schuhe für Salamander, Sportartikel für Adidas und Puma, Trikotagen für Schiesser, Hautcreme für Beiersdorf, Pralinen für Trumpf. Mehr als 120 West-Artikel wurden seit Mitte der 1970er Jahre in der DDR hergestellt… Die Westfirmen nutzt das Billiglohnland DDR als verlängerte Werkbank, die Ostbetriebe erhielten dafür Devisen.“
Die Profiteure der Teilung hatten kein Interesse daran, dass sich das ändert. Und so verwundert es nicht, dass der Fleischgroßhändler Josef März, der seit Jahrzehnten eng mit dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß befreundet war und den Ko-Ko-Chef Schalck seit 1975 persönlich kannte, diesem eines Tages nicht nur schöne Grüße des CSU-Chefs übermittelte, sondern ihn auch mit dem Vorschlag verblüffte, der gerade wieder sehr klammen DDR durch ein westdeutsches Banken-Konsortium mit einem von der Bundesregierung verbürgten Milliardenkredit zu helfen. Strauß habe zugesagt, das Vorhaben „wohlwollend zu prüfen“, notierte Schalck. Der einzige noch offene Punkt sei „das noch nicht stattgefundene Gespräch zwischen Strauß und (Bundeskanzler Helmut) Kohl in dieser Frage.“
Lästern über Kohl
März war es auch, der in seinem Gästehaus die ersten Treffen zwischen dem Kommunisten Schalck und dem Kommunistenhasser Strauß arrangierte. Zwischen ihm und Strauß, so beschrieb es Schalck später entwickelte sich „gemessen an unserer prinzipiellen politischen Gegnerschaft“ eine „ungewöhnliche Vertraulichkeit und Intensität“. Die Beziehungen wurden immer enger. Insgesamt 329mal hatte Strauß bis zu seinem Tod 1988 bei Treffen, Telefongesprächen und Briefen Verbindung mit Schalck. Strauß habe, schreibt Pötzl, hemmungslos aus vertraulichen CDU-Zirkeln geplaudert, gern über Kohl gelästert und auch Privates mitgeteilt, „etwa, dass er an einer ‚Entzündung im Bereich des Hüftgelenks‘ leide.“
Nein, auch Franz Josef Strauß hatte kein Interesse am Untergang des Billiglohnlandes DDR, an dem sein Freund März und so viele andere westliche Kapitalisten so wunderbar verdienten. Der Stasi-Offizier Schalck schrieb hinterher immer alles auf, was der CSU-Chef ihm erzählt hatte, er schöpfte ihn ab, wie es im Agentenjargon heißt. Einmal habe Strauß, als er wieder einmal Interna ausplauderte, gesagt: „Eigentlich darf ich Ihnen dies gar nicht sagen, Herr Schalck, aber nehmen Sie das mal mit, ich und meine politischen Freunde sind froh darüber, dass Erich Honecker als Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär der Partei die Geschicke der DDR leitet. Wir hoffen, dass das noch viele Jahre der Fall ist.“
Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Den Fall der Mauer erlebte Strauß nicht mehr. Er hätte ihn vermutlich ebenso wie Schalck für eine große Katastrophe gehalten. Es blieb ihm erspart. Er ist ein Jahr zuvor, am 3. Oktober 1988, an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Nachfolger und Parteifreunde haben viele Jahre versucht, die anrüchige Komplizenschaft des CSU-Paten und überhaupt des westdeutschen Kapitals mit dem SED-Regime zu verheimlichen. Eine Zeitlang gelang dies auch. Pötzl hat aber auch diese Vertuschungsversuche jetzt wieder publik gemacht. Er hat sie genau beschrieben – penibel und akribisch, so wie er es einst als Spiegel-Redakteur gelernt hat.
[1]Norbert F. Pötzl: Das Schattenreich des Alexander Schalck-Golodkowski. Vom Entstehen und Verschwinden der DDR-Milliarden, EuropaVerlag, 287 Seiten, 25 Euro
[2] So entstanden Bücher über den Fall Barschel (1988), den Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (1997 und 2014), eine Biographie über Erich Honecker (2002), und ein Buch über die Treuhand (2019).













