1. Die Rolle der NATO-Fähigkeitsziele
Die europäischen NATO-Staaten haben sich auf „Fähigkeitsziele“ („Minimum Capability Requirements (MCR)“) festgelegt und sie zu erfüllen verpflichtet. Ort der Verabredung war der Gipfel der Verteidigungsminister der NATO-Staaten am 5. Juni 2025. Diese Fähigkeitsziele wurden unter Leitung der Kommandeure der strategischen Kommandos SHAPE und ACT (Allied Command Transformation) durch deren US dominierten Stäbe formuliert. Grundlage ist ein Kriegsbild und auch ein Kriegsverlaufsziel. Abgeleitet sind diese Ziele aus einer neugefassten NATO-Strategie, die kurz nach Beginn des Ukraine- Kriegs 2022 in Auftrag gegeben wurde. Mit ihr wurde weggegangen von der Abschreckung qua Bestrafung (deterrence by punishment) und übergegangen zur Abschreckung durch Versagen des Zutritts (deterrence by denial) – damit ist entschieden, den Gegner auf Abstand halten zu wollen.
Die Fähigkeitsziele sind im Detail vertraulich, aber doch in der Substanz weitgehend öffentlich bekannt. Deutschland übernimmt traditionell 10% der als erforderlich bestimmten Fähigkeiten der NATO in Europa. Im Koalitionsvertrag haben sich die aktuell regierenden Parteien verpflichtet, diese (formal öffentlich, auch für die Abgeordneten, unbekannten) Fähigkeitsanforderungen, die die NATO (mit deutscher Regierungs-Zustimmung) für Deutschland vorgesehen hat, zu liefern. Der Beschluss ist als Blanko-Check formuliert: Ändert die NATO (durch geheime Regierungsbeschlüsse) die Fähigkeitsziele, z.B. im Rahmen der in diesem Herbst anstehenden strategischen Neuausrichtung der US-Truppen, so haben die Koalitionspartner auf Parteiebene schon zugesagt, die frei gewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag den Anforderungen auch in ausgeweitetem Umfang entsprechen werden.
Das den Fähigkeitszielen zugrunde liegende Kriegsbild hingegen liegt im Dunkeln. Das Verteidigungsministerium weigert sich, es öffentlich zu kommunizieren. Der Verteidigungsminister Deutschlands verlangt zwar programmatisch, Deutschland solle „kriegstüchtig“ werden. Doch auf die Rückfrage, was „Krieg“ denn heiße, pressen er und sein Haus die Lippen zusammen. Und mit dieser Haltung ist er nicht alleine: Im Deutschen Bundestag hat keine der vertretenen Parteien bislang danach gefragt.
Der Bürger sieht sich einem All-Parteien-Schweige-Kartell gegenüber – und denkt sich seinen Teil. Die werden wissen, warum sie nicht wissen wollen.
2. Kriegsbild “deterrence by denial”
Die NATO hat erklärt, jeden Quadratmeter NATO-Territorium „verteidigen“ zu wollen. Das gilt insbesondere für die baltischen Staaten, wo die Verteidiger wegen fehlenden Rückraums und wegen der engen Schlüsselpassage „Suwalki-Korridor“, der eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus, Polen mit den baltischen Staaten auf dem Landweg verbindet, schlechte Karten haben. Für die Strategie, jegliches, auch strategisch extrem ungünstig gelegenes, Territorium „verteidigen“ zu wollen, sind die europäischen NATO-Mitglieder in einer äußerst ungünstigen Position. Das militärisch glaubwürdig androhen zu können, ist herausfordernd.
Deswegen und auch angesichts der Erfahrungen im aktuellen Ukraine-Krieg sieht die NATO vor, sich nicht erst in einen Stellungs- und Abnützungskrieg vor Ort hineinziehen zu lassen. Dieses Kriegsbild gilt ihr als Fehlform. Doch das scheint auch innerhalb der NATO-Staaten umstritten zu sein: Polen und die baltischen Staaten verfolgen mit dem Konzept der „Raumverteidigung“ ein alternatives prioritäres Konzept der Kriegsführung.
NATO-seits ist stattdessen das präferierte Konzept, gleich zu Beginn einer kriegerischen Auseinandersetzung die Flugabwehr des Gegners und dann die zentralen Fähigkeiten der gegnerischen Kriegsführung zu zerstören, insbesondere Führungsbunker und Kommunikationsfähigkeiten. Im Erfolgsfall soll es so verlustarm laufen wie im zweiten Irak-Krieg modellhaft von den US-Truppen vorgeführt und kürzlich im 10-Tage-Krieg mit dem Iran von Israel erfolgreich wiederholt. Wie, mit welchen Mitteln, Israel das geschafft hat, ist des Studiums wert – da es ja, unausgesprochen, als Vorbild gilt.
Als zentrale Mittel dieses Kriegsbilds werden langreichenden Distanzwaffen kolportiert. Also etwa das, was die USA im Raum Wiesbaden als Long Range Fire (LRF) zu stationieren mit der Regierung Scholz am 10. Juli 2024 in einer Randnotiz beim NATO-Gipfel 2024 verabredet hat. Oder das, was die Westeuropäer (UK, Deutschland, Frankreich, Italien, Polen) im ELSA-Projekt auch selbständig, neuerdings unter Einbindung der Ukraine, entwickeln wollen.
Doch für Wirkungen im Suwalki-Korridor selbst benötigt man keine 1.500 bis 2.000 km reichenden Mittelstreckenwaffen. Dazu reichen 500 km-Raketen hin. Die weiterreichenden Lenkwaffen sind vielmehr für sog. „Hochwertziele“ tief im russischen Hinterland gedacht. Da gilt es, zentrale Logistik und verbunkerte Befehlsstände auszuschalten – mindestens.
Weiter nach oben in der Befehlskette sind der Zielfindung formal keine Schranken gesetzt. Das Konzept der decapitation soll, formal, die Kriegsführungsfähigkeit des Gegners lediglich zerstören; im Nahen Osten aber erleben wir immer mehr die Tendenz, dieses verführerische Wort personalisiert zu nehmen und höchstrangige Personen, des Militärs und/oder der Politik, zu „enthaupten“.
Die NATO-Strategen haben somit das Kriegsbild vorgegeben, frühzeitig, um nicht offen zu sagen „prä-emptiv“, die zentralen Elemente der Kriegsführungsfähigkeit des Gegners zu zerstören. Vorgegeben wurde es allerdings anscheinend mit der Rückversicherung, zusätzlich. auch alles das an Militärmaterial bereitzuhalten, was man benötigt, falls die Strategie des Auf-Distanz-Haltens versagt; falls man doch in einen Abnützungskrieg in Nähe überzugehen sich gezwungen sieht. Deutschland scheint gewillt zu sein, diesem aufwändigen zweistufigen Rüstungskonzept zu folgen, anders als Polen. Die Rüstungsbestellungen sind in Deutschland bereits weitgehend vollzogen worden, in diesem Sinne ist die Frage für Deutschland nicht mehr offen, sondern entschieden.













