Ich bin seit langer Zeit überzeugt, dass das von der Ampelmehrheit beschlossene und noch gültige Wahlrecht zum Deutschen Bundestag eine grundsätzlich gerechte Regelung ist, um die ungewollte Vergrößerung des Parlaments zu stoppen. Ich habe dieses System seit 15 Jahren wiederholt publiziert[1] und gefordert; insbesondere habe ich diesen Vorschlag 2012 allen damaligen Fraktionsvorsitzenden geschickt, unter anderem Herrn Kauder und Herrn Steinmeier sowie dem Bundestagspräsidenten Lammert und mir persönlich bekannten Abgeordneten.
Es geht bei der „Aufblähung“ um die ungewollte Vergrößerung des Deutschen Bundestages durch Überhangmandate und ihren Ausgleich bei den Fraktionsstärken zur Sicherung der Proportionalität entsprechend dem Zweitstimmenergebnis.
Unverständlich ist mir das heute immer wieder vorgetragene Argument, einem Wahlkreissieger könne ein Parlamentssitz nicht verweigert werden – das würde niemand verstehen. Das aber ist leicht zu verstehen und den allermeisten Wahlbürgern wahrscheinlich auch ziemlich egal.
Ich teile die Einschätzung nicht, ein Erststimmensieger (manchmal mit gerade mal um 30%!) sei ein quasi überparteiischer Repräsentant und eine wichtige Bezugsperson der Wahlkreisbevölkerung. Nicht nur meine eigene kommunalpolitische Erfahrung, sondern auch die Beobachtung des politischen Geschehens lässt mich staunen, wie man das Verhältnis eines siegreichen Parteikandidaten mit der Wahlkreisbevölkerung so verkennen kann. Ich habe den Verdacht, dass es vor allem Parteifunktionäre sind, die sich und ihre Bedeutung gerne überhöhen oder gar ihren parteipolitischen Vorteil sehen – z.B. im Falle einer süddeutschen Regionalpartei, die von jedem bisschen Abweichung von der Proportionalität am eindeutigsten gewinnen würde, vielleicht auch eine Partei, die sich im Osten zu ähnlicher Dominanz entwickelt.
Ich wette, dass die meisten Bürger ihren Wahlkreissieger nicht kennen oder anzusprechen vorhaben, falls sie überhaupt seinen Namen erinnern, wenn die Plakate weggeräumt sind. Man beachte dabei auch, dass man die Frage, welche Wahlkreissieger (zunächst) nicht berücksichtigt werden, nach ihrem Prozentergebnis entscheiden kann – allseits beliebte Wahlkreismatadore wären also nicht betroffen, sondern höchstens diejenigen, die mit knappster relativer Mehrheit den Sieg erreicht haben. Das „zunächst“ bezieht sich darauf, dass negativ betroffene Erststimmensieger die ersten Nachrücker sein sollten, wenn – und das ist ja nicht selten – Abgeordnete ihrer Partei während der Wahlperiode aus dem Bundestag ausscheiden.
Der Wert der Erststimme im guten deutschen 2-Stimmenverfahren besteht in meiner Sicht in der Korrekturmöglichkeit der Parteilisten; ein reines Listenwahlsystem würde eine Tendenz zu (noch) mehr Funktionärskarrieren fördern.
Man könnte das 2-Stimmen Wahlsystem ohne Verletzung des Proportionalgebots vor „Aufblähung“ retten, wenn man die Zahl der Wahlkreise deutlich verkleinerte, etwa von 299 auf 240, so dass z.B. nur 40% der Sitze an Wahlkreissieger zu vergeben wären. Aber gegen diesen Vorschlag spricht die implizite Notwendigkeit, alle Wahlkreise neu zuzuschneiden. Das dabei zu erwartende Hauen und Stechen sollte der Politik und der Bevölkerung besser erspart bleiben.
Ganz schlimm finde ich jede Veränderung hin zu einem Mehrheitswahlsystem wie in England oder (besonders ungerecht) in USA. Insofern hat mich der sonst so weise Ex-Verfassungsrichter und Ex-Ministerpräsident Peter Müller mit seinem Plädoyer für ein „Grabenwahlrecht“ sehr enttäuscht. Nach diesem Wahlverfahren sollte die Hälfte der Parlamentssitze nach einem reinen Mehrheitswahlsystem an die Wahlkreissieger gehen (ggf. nach einer Stichwahl der beiden Bestplatzierten der ersten Runde) und das Proportionalitätsprinzip nur noch für die andere Parlamentshälfte gelten.
Da sollte doch die erste Trump-Wahl 2016 eine Warnung sein: wäre die satte Stimmenmehrheit von Hillary Clinton (3 Mio.!) wirksam geworden, wäre Trump der Welt erspart geblieben. Auch hätte Trump keine Chance gehabt, die noch größere Mehrheit Joe Bidens (7 Mio.!) anzuzweifeln, wenn das irrsinnige Wahlmännersystem ihm nicht beinahe die Präsidentschaft beschert hätte.
Also Finger weg vom bewährten deutschen Wahlsystem mit zwei Stimmen, Proportionalität und 5%-Klausel. Dieses Wahlsystem scheint weniger Polarisation zu fördern als Mehrheitswahlsysteme; unerträglich weil ungerecht wäre ein Wahlsystem, das einer Partei mit weniger Stimmen mehr Sitze beschert als einer anderen mit mehr Stimmen – das müsste doch jedem einleuchten.
[1] U.a. 2016 in „Politische Texte eines deutschen Europäers“, BoD – Books on Demand, Norderstedt, ISBN 9783741289811













