Zur augenblicklichen politischen Debatte erlaube ich mir einen Rückblick. Der frühere SPD-Fraktions- und Oppositionschef Hans-Jochen Vogel pflegte, wie es seine Aufgabe war, die Regierung von Helmut Kohl scharf anzugreifen. Dabei zeichnete er ein Bild von der Lage in Deutschland, als ob fast alles am Boden läge. Im Grunde warf er dem Kanzler der Koalition aus Union und FDP vor, so ziemlich alles falsch gemacht oder versäumt zu haben. Pflichtgemäß erntete er den Beifall seiner Genossinnen und Genossen. Ziemlich gelassen reagierte Kohl und fragte den Oppositionschef: „Herr Vogel, in welchem Land leben Sie?“ Die Diskussion über die Lage in der Republik, die Aussprache über Haushalt des Kanzleramts, war in der Regel heftig, selten begrüßte man sich mit Samthandschuhen. Es änderte sich im übrigen an der politischen Situation nichts. Die Opposition blieb eine Regierung im Wartestand, höflich formuliert, und Kohl grüßte aus dem Kanzleramt.
Und heute? Der Streit über die Rentenpolitik wird so geführt, dass man den Eindruck gewinnen kann, als ob die Regierung Merz/Klingbeil kurz vor ihrem Ende stünde. Dabei ist sie erst ein gutes halbes Jahr im Amt. Richtig ist, Friedrich Merz spürt, dass es einen riesigen Unterschied ausmacht, wenn man als Oppositionschef den Kanzler attackiert und ihn „als Klempner der Macht“ hinstellt, der es nicht könne, gemeint das Regieren. Heute erweckt derselbe Merz als Regierungschef zwar höchste Reformerwartungen, die er aber auch nicht über Nacht in die Tat umsetzen kann. Markus Söder, dem selbst ernannten Alleskönner aus Bayern, würde es ähnlich ergehen, säße er statt Merz auf dem Kanzler-Stuhl. Welches Zeugnis hatte der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef noch der Regierung Scholz/Lindner/Habeck ausgestellt? Richtig: Schlechteste Regierung ever. Selbstredend würde Söder das heute so nie zugeben.
Neuwahl riskieren
Die Altersversorgung ist ein wichtiges Thema, für Junge wie Alte. Aber wegen der Rente die Regierung scheitern, den eigenen Kanzler über die Wupper gehen lassen? Immerhin wird über eine Regierungskrise geredet, von der Vertrauensfrage, so kurz nach der Regierungsbildung werden die Jungen Wilden in Zusammenhang gebracht mit dem vorzeitigen Ende der Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Würden sie wirklich eine Neuwahl riskieren und damit gar eine Unregierbarkeit der Republik? Niemand kann ahnen, wie stark eine AfD beim nächsten Urnengang würde. Die würde doch jubeln, wenn die Systemparteien, wie Weidel CDU und SPD abschätzig nennt, stolperten. Und frei nach Merz darf man dann den CDU-Youngstern zurufen: Das kann doch wohl nicht Euer ernst sein
In der Sache haben Sie Recht. Sie meutern über die Rentenpolitik ihres Kanzlers Merz und der Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas(SPD), weil dadurch riesige Kosten entstünden, die nicht zu bezahlen wären und am Ende die Rentenerwartungen der heutigen Jugend düpierten. Und es stimmt ja: Rund ein Viertel des Steueraufkommens wird der Rente zugeschossen, ein dreistelliger Milliarden-Beitrag. Weil es ein großes Loch in der Rentenkasse gibt. So viel zum Umlagesystem, das aber seit Jahren so nicht mehr funktioniert. T-Online spricht vom Altenheim Deutschland, das so durch Steuern mitfinanziert werde. Stimmt auch. Und am Ende müssten die Jungen mehr bezahlen und hätten weniger Rente.
Nur sollte niemand die Alten und deren Einfluss unterschätzen. Die sind heute länger fit, wollen leben, in die Welt reisen, sie reden mit. Ich kann mich an eine Situation erinnern, als Oskar Lafontaine stellvertretender SPD-Chef war und unter seiner Leitung ein Regierungsprogramm für die Jahre 1989/90 entworfen wurde, das heftig diskutiert wurde, auch weil es sich auch schwerpunktmäßig mit der Zukunft beschäftigte, der Jugend. Man hoffte, die Regierung Kohl im Wahlkampf aus der Bahn zu werfen. Willy Brandt äußerte in einer Hintergrund-Runde seine Bedenken gegen diese Art der Argumentation in einem Satz: „Auch Rentner haben Stimmrecht.“ Aus der Umgebung Lafontaines hieß es dazu, gegen Willy Brandt könne man die SPD nicht führen. Die deutsche Einheit warf dann sowieso alles über den Haufen.
Altenheim Deutschland
Zurück zum Altenheim Deutschland, das in den nächsten Jahren anwachsen wird, weil die Boomer-Generation in Rente geht und die Jüngeren zu wenige Kinder auf die Welt bringen. Die alte Renten-Formel aus dem Jahre 1958 passt dann erst recht nicht mehr, weil wir immer weniger Beitragszahler haben, die die Rentner finanzieren. Die Rechnung wird also in wenigen Jahren nicht mehr aufgehen und die Skepsis ist berechtigt, ob das deutsche Steueraufkommen das wachsende Loch in der Rentenkasse wird füllen können. Bei dem geringen Wachstum, das wir heute erleben! Mögliche Folgen: Höhere Renten-Beiträge sind ebenso möglich wie sinkende Renten, ein späterer Eintritt in die Altersversorgung ebenso, also Rentenbeginn zum Beispiel erst mit 68 oder 69 oder 70 Jahren. Diese Anpassung ist so abwegig nicht, weil die Deutschen glücklicherweise immer älter werden und damit die Bezugsdauer der Rente länger und länger wird. Erwähnenswert, was ein alter Haudegen wie Franz Müntefering mal zur Finanzierung der Rente in der Zukunft sagte: entweder man müsse früher arbeiten oder länger oder weniger Rente kassieren. „Münte“ , der Sozialdemokrat aus dem Sauerland, hatte damals den Mut, die Lebensarbeitszeit schrittweise bis zum 67. Lebensalter zu verlängern.
Ferner ist denkbar, dass Politiker und Beamte in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Die Jungen nicht nur aus der Union sorgen sich, dass diese Entwicklung vor allem zu ihren Ungunsten verläuft. Deshalb ihr Protest und die Drohung, dem eigenen Kanzler Merz die Zustimmung im Bundestag zu verweigern. 12 Stimmen Mehrheit hat die Koalition, die Jungen aus der Union zählen 18 Stimmen. Es wäre möglich.
Über die Rente wird die Regierung Merz nicht stolpern, der Kanzler hat sie wohl eingefangen, die Jungen Wilden, eine Kommission wird über die weitere Altersversorgung sich Gedenken
machen und Änderungen beschließen, damit die Entwicklung nach 2031 abgefedert werden kann. Es werden nicht die Letzten sein. Wer weiß denn, wie sich die Wirtschaft in Deutschland entwickelt, ob und wann der Krieg Russlands gegen die Ukraine endet? Dieser Krieg belastet ja alle Kassen in Europa, auch die deutsche. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor mit Milliarden, damit Kiew Waffen hat und sich wehren kann. Wegen dieser veränderten Lage wird die am Boden liegende Bundeswehr wieder aufgerüstet, müssen Waffen und anderes teures militärisches Gerät gekauft werden. Deutschland braucht wieder mehr Soldaten. Das alles kostet Geld. Es werden riesige Schulden gemacht, damit wir uns Putin vom Leib halten können.
Wer die Debatte im Bundestag verfolgt hat, rieb sich die Augen während der Rede der AfD-Chefin Alice Weidel. Deutschland vor dem Untergang, lautete ihre Litanei, eine nie dagewesene Pleitewelle fege über das Land, Merz und die Union seien Gefangene einer SPD, die „tief im Morast des sozialistischen Aberglaubens der Umverteilung“ feststecke. In welchem Land leben Sie, Frau Weidel, möchte man ihr zurufen. Dann kam ihre Wunschliste: Kernkraftwerke wieder ans Netz, Erdgas und Öl in Russland einkaufen, Abschaffung des Verbrennerverbots, als gäbe es den Klimawandel nicht, alle Lieferketten beenden, Zusammenstreichen der Staats- und Sozialausgaben, „eine Politik der geschlossenen Tür“ in der Migration. Letzteres würde den Staat zusammenbrechen lassen. Die Hetze der AfD gegen Zuwanderer würde die Sorgen der alternden deutschen Gesellschaft noch vergrößern. Ohne Migranten fehlen in wenigen Jahren bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte. Das ist Fakt und kein Fake.
Kein Wort Weidels zu Putins Krieg
Kein Wort von Weidel zum Krieg Putins gegen die Ukraine, kein Wort zu den Russland-Reisen ihrer Parteifreunde. Und doch steigen ihre Umfragewerte in für Demokraten beängstigende Höhen. Wo wird das enden? Hält die Brandmauer gegen eine Partei, die offen für das Ende der EU wirbt, womit viele Arbeitsplätze verloren gingen? Hält die Brandmauer einer Wirtschaft, wo der Verband der Familienunternehmen AfD-Abgeordnete zum parlamentarischen Abend eingeladen hat, als wäre diese Partei eine normale Partei wie andere. Dabei ist sie eine in weiten Teilen rechtsextremistische Partei, so Berichte des Verfassungsschutzes.
Es stimmt ja, dass Friedrich Merz als Außenkanzler eine ganz gute Figur macht. Und dass die Außenpolitik wichtig ist und immer wichtiger wird, ist nicht zu bestreiten. Dennoch schwächelt der Kanzler in der Innenpolitik. Es fällt einem ja auch besonders auf, weil sein Fraktionschef Jens Spahn seiner Aufgabe nicht gerecht wird, den Laden, also die Fraktion der Union zusammenzuhalten, Spahn müsste die Mehrheiten für seinen Kanzler organisieren, was nicht der Fall war bei der Richter-Wahl. Spahn hätte längst die Opposition in der eigenen Fraktion gegen die Rente einfangen müssen. Friedrich Merz ist ein später Kanzler mit jetzt 70 Jahren, man merkt ihm an, dass er Jahre außerhalb des politischen Betriebs unterwegs war.
Die soziale Marktwirtschaft, der Kern der Politik, scheint nicht so ganz sein Ding zu sein. Er ist nicht der Kanzler, der zusammenbindet, damit die Gesellschaft nicht auseinanderfliegt. Ob er lernfähig ist, der Millionär aus dem Sauerland, der Hobby-Pilot? Es wäre wünschenswert, weil es Korrekturbedarf gibt in seiner Politik, weil die starken Schultern mehr tragen können und müssen. Dass die Superreichen immer reicher werden, kann nicht Sinn der Politik einer Koalition sein.
Klingbeils Probleme
Dies gilt erst recht, wenn eine SPD an der Regierung beteiligt ist. Wobei festzuhalten ist, dass das Ansehen des Vizekanzlers und SPD-Chefs Lars Klingbeil immer noch darunter leidet, dass er beim SPD-Parteitag bei seiner Wahl abgestraft wurde und nur 64,9 Prozent der Stimmen enthielt. Beliebt ist er nicht, der Mann aus Niedersachsen, dem nicht wenige übelnahmen, wie er mit dem früheren Fraktionschef der SPD, Rolf Mützenich, umgesprungen ist. Klingbeil und seine SPD tun sich schwer im Kampf um die vorderen Plätze. Nur 14 Prozent in fast allen Umfragen, das ist bitter wenig und weit von einem Wert entfernt, wo die SPD wieder regierungsfähig wird. Und das alles in einer Zeit, wo eine Partei wie die AfD, die NRW-NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst(CDU) als „Nazi-Partei“ bezeichnet hat, in Umfragen die SPD abgehängt hat und gleich stark ist mit der Union.
Ob die Rückkehr an die Spitze überhaupt mit einem Klingbeil geht, einem Mann ohne Ausstrahlung, ist die Frage. Bei einem seiner Amtsvorgänger als SPD-Chef machte die Partei damals 1995 in Mannheim kurzen Prozess. Sie wählte Rudolf Scharping ab und stattdessen Oskar Lafontaine zum SPD-Bundesvorsitzenden. Damals lag die SPD bei 23 Prozent, aber es gab noch keine AfD. Wenige Jahre später, 1998, gewann Gerhard Schröder die Wahl gegen Kohl, die SPD kam auf über 40 Prozent der Stimmen.
Entscheiden statt streiten
Am Ende jeder Entscheidung steht eine Debatte. Ja, es müssen Entscheidungen getroffen werden, nicht nur zur Rente, Entscheidungen, die die Menschen spüren, dass es aufwärts geht, dass diese Regierung entscheidet und nicht nur redet und diskutiert. Der Streit darf nicht das letzte Wort sein, das in den Tagesthemen, im Heute-Journal und in den großen Zeitungen die Schlagzeilen beherrscht. Dass der Weihnachtsbaum, eine Fichte aus dem Harz, vor dem Reichstagsgebäude aufgestellt worden ist, ist eine Nebensache. Aber immerhin. Ein richtiges Highlight ist die Meldung und das Interview mit den künftigen deutschen Astronauten Alexander Gerst und Matthias Maurer, die in wenigen Jahren als erste Deutsche zum Mond fliegen werden. Das ist eine positive Nachricht. Es geht also nach oben, aufwärts.
Die soziale Sicherung macht 41 Prozent des Gesamthaushalts aus. Das ist viel, sehr viel, aber der Sozialstaat ist eine Errungenschaft dieser Republik, er ist Teil seiner Stabilität. Wer ihn als überzogen kritisiert-auch das hat Merz voreilig getan- und Rentenkürzungen fordert, sollte sich mal die Einkommen der Reichen und Super-Reichen hier im Lande anschauen. Da ist Luft nach oben. Der deutsche Sozialstaat sichert diese Demokratie, die gerade von den Verfassungsfeinden unter Feuer genommen wird. Da ist die wehrhafte Demokratie gefragt, Arbeitnehmerinnen wie Arbeitnehmer und Arbeitgeberinnen wie Arbeitgeber. Es ist unser Staat. Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass sie im Alter wie in Notlagen abgesichert sind. Auch das ist ein Standortfaktor.
Stimmung verbessern
Wir müssen die Stimmung verbessern, das Glas ist nicht halbleer, sondern halbvoll. Es sind Korrekturen nötig, das weiß ein jeder, der bei uns Auto fährt oder mit dem Zug, wer die Baustellen an Brücken sieht, über die teils maroden Schulen und über fehlende Kitas redet, wer die Diskussion über die Bundeswehr verfolgt, den Wust an Bürokratie im Lande mal erlebt hat und weiß, wie lange eine Bau-Genehmigung dauert und wieviel unsinniges Papier Unternehmer ausfüllen müssen. Etwas mehr Mut geht uns ab, das unsere Väter und Mütter auszeichnete, Entschlossenheit, als wirklich alles am Boden lag- sogar die Moral. Sie haben in die Hände gespuckt und malocht, wie damals arbeiten hieß, sie haben körperlich schwere Arbeit geleistet. In einer 48-Stunden-Woche. Zwischen 12 und 14 Millionen Flüchtlinge mussten untergebracht werden. Unsere Städte glichen Trümmerwüsten. Auf und aus diesen Trümmern entstand das Wirtschaftswunder, das kein Wunder war, weil es mit der Hände Arbeit der Menschen aufgebaut wurde.
Man mag nicht mit allen Politikern der Bundespublik alt wie neu einverstanden sein. Man darf sogar den Alten aus Rhöndorf, den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer kritisieren. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die heute von einigen Kräften zerstört werden soll, erlaubt das. Adenauer, der CDU-Chef, war kein Nazi, sondern sogar ein Verfolgter des Regimes. Er musste sich von seinem Widersacher, Kurt Schumacher von der SPD gefallen lassen, als Kanzler der Alliierten beschimpft zu werden. Das war im November 1949. Dafür erhielt der SPD-Chef einen Ordnungsruf und einen Verweis des Bundestages.
Die Geschichte der Bundesrepublik ist eine Erfolgsgeschichte, die Übergänge von Adenauer zu Erhard, Kiesinger, zu Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel, Scholz, Merz verliefen reibungslos. Natürlich wurde heftig gestritten, es gab Krisen wie den RAF-Herbst, die Demokratie wurde aber nie in Frage gestellt, so wie das heute gelegentlich geschieht. Dabei wird eines übersehen, was Gustav Heinemann, der erste SPD-Bundespräsident, in seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969 gesagt hat. „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“
Vergessen wir das nicht!
Bildquelle: Pixabay













