1. Die Situation konkurrierender Pläne
In Reaktion auf den 28 Punkte-Plan, der nach unautorisierter Veröffentlichung von US-Präsident Trump umgehend als US-Plan „bestätigt“ wurde, haben die drei führenden West-Europäer, die E3, ohne Autorisierung durch die übrigen Europäer einen alternativen Plan eiligst erarbeitet und veröffentlicht. Der ist es wert, eingeordnet und reflektiert zu werden.
Polemisch könnte man formulieren: So, wie der 28-Punkte-Plan medial als „Wunschliste Russlands“ desavouiert wurde, könnte man umgekehrt den 24-Punkte-Plan der E3 (bzw. dessen spätere 28-Punkte Fassung) als „Wunschliste der Europäer“ brandmarken. An einer solchen Charakterisierung ist jeweils auch ein Körnchen Wahrheit dran.
Solche Pläne oder Listen von Forderungen haben bekanntlich einen praktischen Sinn. Damit wird skizziert, wie es nach der Vorstellung der Verfasser zu einem Ende der Kampfhandlungen auf dem Territorium der Ukraine kommen soll. Dieses Ende soll zudem „stabil“ sein, es soll nicht alsbald wieder losgehen.
Direkt nach dem Beginn von Kampfhandlungen ist es üblicherweise oberste Priorität in Vermittlungen von Seiten Dritter, es nicht erst zu einem ausgewachsenen Krieg kommen zu lassen. Der Grund für die Eilbedürftigkeit: Ein Krieg schafft proportional zu seiner Dauer ein steigendes Maß an Verfeindung. Mit wachsender Dauer entsteht die in einem solchen Ausmaß, dass es dann unendlich schwer ist, zu einem stabilen Ende von Kampfhandlungen zu kommen. Von Frieden, gar gerechtem Frieden, ist dann nicht zu reden.
Im Ukraine-Krieg ist es bedauerlicherweise versäumt worden, alsbald einem Ende zuzustimmen. Im Georgien- bzw. Kaukasus-Krieg hatte noch der französische Präsident Sarkozy umgehend das Ruder der Vermittlung in die Hand genommen, im ersten kriegerischen Donbass-Konflikt war es Kanzlerin Merkel, die diese Rolle einnahm, zusammen mit dem französischen Staatschef Hollande und in Abstimmung mit US-Präsident Obama. Im Falle des Ukraine-Vollkriegs waren es die Staatschefs der Türkei und Israels, die sich an einer umgehenden Vermittlung versuchten – doch der Westen unter Führung der USA verweigerte sich der absoluten Priorität, auch diesmal zu einem schnellen Ende der Kampfhandlungen zu kommen; sie wollten, so UK-Premier Boris Johnson, nicht mit Russlands Präsident Putin ihre Unterschriften auf dasselbe Blatt Papier setzen. Persönliche Verfeindung war das Motiv. So stehen wir nun, dreieinhalb Jahre später, vor der weitaus schwierigeren Situation, überhaupt zu einem Ende von Kampfhandlungen in einem regelrechten Krieg zu kommen, nicht zu sprechen von einem Ende, dem man Stabilität zutraut.
Für das Ende von Kampfhandlungen in einem andauernden Vollkrieg unter ausgehandelten Bedingungen zu kommen, gibt es im 20. Jahrhundert wenige Beispiele nur. Dafür bedarf es in aller Regel mindestens eines Mediators. Sofern die Charakterisierung richtig ist, dass es sich bei dem aktuellen Vollkrieg, der weit überwiegend auf dem Territorium der Ukraine ausgetragen wird, faktisch, nicht kriegsvölkerrechtlich, um einen Krieg zwischen Russland und dem Westen handelt, so käme als Mediator eigentlich nur der dritte Hegemonialaspirant, China, in Betracht. Aber weder China ist dazu bereit, noch findet sich eine dritte Macht, die in diese Rolle einzusteigen gewillt ist. In einer solchen Situation erscheint es akzeptabel, dass US-Präsident Trump, sich in diesem Krieg als Mediator positioniert hat, obwohl die USA Führungsmacht der NATO sind. Die Beendigung der kostenlosen Lieferung von Waffen an die Ukraine hat diese Positionierung vorbereitet – sie ist zudem für die US-Seite ökonomisch lukrativ, als die Kosten für die Weiterführung des Krieges inzwischen allein bei den Europäern abgeladen wurden. Trump hat den Wechsel in diese unorthodoxe Position mit einem innenpolitischen Vorteil versehen.
Um zu einem verhandelten Ende der Kampfhandlungen unter einem Mediator zu kommen, braucht es zudem etwas in der Sache, um zu einem Ausgleich der Interessen beider am Konflikt beteiligten Seiten zu kommen. Dieser Ausgleich ist nicht bedingungslos möglich. Die Interessen beider Seiten sind vielmehr zu gewichten. Die Gewichtung hängt auch von den jeweiligen Perspektiven ab, davon, welche alternativen Optionen beide Seiten je noch zu haben glauben für den Fall, dass es nicht zur Einstellung der Kampfhandlungen kommt. Darauf spielt Trumps „You have no cards!“ an.
Zu diesen Persepktiven ist die allgemein geteilte Einschätzung, dass Russlands über die militärische Eskalationsdominanz verfügt hat und weiterhin verfügt. Die Europäer aber sind der Auffassung, so argumentieren sie zumindest, die militärische Eskalationsdominanz Russlands auf einem anderen Konfliktaustragungsfeld konterkarieren zu können, über eine Sanktionierung mit ökonomischen Mitteln.
Die Frage ist, ob das aussichtsreich ist. Auf den ersten Blick würde man sagen: Sonderlich glaubwürdig erscheint das nicht, denn den Versuch mit diesem Hebel verfolgen die Europäer seit mehr als drei Jahren, mit immer neuen Sanktionspaketen, ohne dass sich ihre Auffassung bislang bestätigt hätte. Auf einen zweiten Blick hin erntet man Skepsis, weil die Europäer bislang kein Konzept vorgelegt haben, welches darstellt, wieso sie meinen, dass ihr Vorgehen aussichtsreich sei unter der Bedingung eines Güter-Weltmarkts mit einer großen Zahl von Beteiligten, die die Sanktionspolitik des Westen, ihrer generellen Distanz zur westlichen Politik mit ihrer kolonialen Tradition sowie der der Doppelzüngigkeit wegen, nicht mittragen. Die Skepsis wird erhöht angesichts der Weigerung der Europäer, die Grenzen ihrer eigenen Durchhaltefähigkeit in den Blick zu nehmen – schließlich haben ökonomische Sanktionen immer auch Rückwirkungen auf den Sanktionierenden selbst, und zwar in Höhe des x-fachen der gegenüber dem Gegner intendierten Wirkung.
Zudem dürfte der Faktor Zeit eine Rolle spielen, die für das Kalkül der Europäer abträglich ist – wenn es sich bei dem, was die Europäer leitet, wirklich um ein Kalkül handelt und nicht um eine Notlüge bzw. Wunschdenken nur angesichts eines Mangels an realistischen Optionen.
Erfolgreich mit einer weiteren Eskalation auf dem Feld von ökonomischen Sanktionen können die Europäer im Übrigen auch nur sein unter zwei Nebenbedingungen:
- unter der Nebenbedingung, dass die Ukraine, die die militärische Last alleine zu tragen hat, militärisch durchhält, nicht zusammenbricht. Das aber steht wiederum
- unter der Nebenbedingung, dass die USA ihre Unterstützung in Form von Waffenlieferungen und im Informationsraum nicht beenden.
Die erste Bedingung hängt im Wesentlichen ab von der Fähigkeit und Bereitschaft ukrainischer Männer im wehrpflichtigen Alter, in die Armee einzutreten, auf die rechtzeitige Ausreise also zu verzichten. Die zweite Bedingung besagt, dass die USA entscheidende Fäden in der Hand halten und sie somit zu kappen androhen können, um die Ukraine zu Zugeständnissen zu bringen.
Die offene Frage ist allein: Wo liegt eine rote Linie, welche den sinnvollen Druck der USA auf die Regierung der Ukraine begrenzt? Es geht um den Mechanismus, dass die Regierung der Ukraine Zusagen in einem solchen Umfang zu machen gezwungen wird, dass sie darüber ihr Gewaltmonopol, ihre Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den bewaffneten Kräften im eigenen Lande, verliert. Wenn die USA Zusagen jenseits dieser, in ihrer exakten Lage unbekannten, roten Linie durchsetzt, ist sie gezwungen, nach einem Akteur Ausschau zu halten, der dann die Staatsgewalt ausübt, das Gewaltmonopol rückerobert. Da die USA den Druck, den wir hier unterstellt haben, im Sinne Russlands ausübt, kommt nach Lage der Dinge für eine solche nach Überspannung eintretende Situation eigentlich nur Russland in Frage.
2. Die weitgehende und unmandatierte Positionierung der Europäer
Die E3 haben sich, wie erwähnt, ohne Mandat und doch im Namen ganz Europas öffentlich gegen den US-Plan positioniert – anders als die Ukraine, die exakt dies vermieden hat und dessen ungeachtet ihren inhaltlichen Widerspruch gegenüber den USA deutlich gemacht hat. Der taktische Sinn dieser gänzlich anderen Vorgehensweise der (selbstermächtigten) Europäer ist nicht recht klar. Schließlich eint beide, die Ukraine und die „Europäer“, die militärische Abhängigkeit von den USA.
Der für die Sicherheitsordnung in Europa entscheidende Punkt in der zunächst vorgelegten Liste der Europäer ist Punkt 10:
„Die Ukraine erhält rechtlich bindende Sicherheitsgarantien von den USA und anderen Ländern – praktisch eine Vereinbarung nach Art. 5.“
Das wäre faktisch eine vollzogene Aufnahme in das Beistandsbündnis – das fordern die E3 auf die Schnelle. Art. 5 besagt dem Sinne nach nämlich, ein Angriff gegen einen gelte als Angriff gegen alle.
In der ersten Version der E3-Liste aber, als Punkt 14, findet sich auch der ominöse futurische Satz, der als Kompromiss vom NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 bereits beschlossen wurde: „Die Ukraine wird Mitglied der EU.“
In der von der E3 später vorgelegten 28-Punkte-Liste wurde das zurückgenommen. Da wird der einstmalige Punkt 10 der Europäer durch einen Einschub in Punkt 10 der US-Liste aufgenommen. Dort wurde nach „US Garantien“ die Qualifizierung eingeschoben: „,die Art. 5 spiegeln“. Den ominösen Satz von Bukarest haben die E3 fallen gelassen.













