Am Montag, dem 17.11., war die Frist für einen üblen Kuhhandel abgelaufen. In Pakistan harren ca. 1900 bis 2000 ehemalige Ortskräfte der deutschen Interventionsapparate 2001-2021 sowie andere Afghanen, deren Leib und Leben durch die wiedererrichtete Taliban-Herrschaft gefährdet sind, aus im Warten auf einen Flug nach Deutschland, der nicht kommt. Sie alle haben beträchtliche bürokratische Hürden nehmen müssen, um eine Aufnahmezusage der Bundesrepublik zu bekommen. Im Frühjahr hatte die neue Bundesregierung das Aufnahmeprogramm ausgesetzt. Einige Betroffenen sind vor deutsche Gerichte gegangen und haben ihr auf genannter Zusage beruhendes Recht, in Deutschland aufgenommen zu werden, eingeklagt. Zudem, heißt es, habe die pakistanische Regierung die Bundesregierung aufgefordert, ihr Aufnahmeprogramm bis zum Ende dieses Jahres abzuwickeln. Danach würde der Aufenthalt dieser Menschengruppe in Pakistan nicht mehr geduldet.
In dieser Lage machte das Bundesinnenministerium unter Alexander Dobrindt 660 (manchmal heißt es: rund 700) von 1900 Menschen, die in Pakistan ausharren, ein unmoralisches Angebot: Man bot ihnen Geld und Sachleistungen an, wenn sie auf ihre Ausreise nach Deutschland verzichten. Die Frist für eine Entscheidung der Betroffenen ist seit Montag, dem 17.11..2025, abgelaufen. Am Montag erschien nichts dazu in der FAZ, am Dienstag nichts, am Mittwoch nichts, am Donnerstag nichts und heute, am 21.11., ein kleiner Bericht auf Seite 4 der Zeitung. Im Titel steht, dass weitere 52 Afghanen ihre Einreise nach Deutschland gerichtlich erstritten haben. Im letzten Absatz wird berichtet, dass 62 Personen das Angebot des Innenministeriums, Zahlung bei Verzicht auf Aufnahme in der Bundesrepublik, angenommen haben, knapp 10% der Leute, denen es unterbreitet worden ist.
Kein Kommentar in der FAZ. Im Unterschied zu meinem Lokalblatt, das zur Ippen-Gruppe gehört. Keiner weiß es besser als Dirk Ippen: Kleinvieh macht auch Mist. Daher bekam am 20.11. Dobrindt in der Hessischen-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) gehörig einen eingeschenkt: „vergiftetes Angebot“, „populistische Migrationspolitik“ Wortbruch. Das alles habe „vielen Menschen hierzulande die Schamesröte ins Gesicht getrieben“. Und jetzt drohe der Bundesrepublik eine juristische Auseinandersetzung mit klagewilligen Afghanen, die gute Chancen haben, diese Auseinandersetzung zu gewinnen (HNA, 20.11., S. 18).
Wohl wahr. Aber es ist eine Empörung, die die Vorgeschichte dessen, worüber sie sich empört, nicht kennt oder nicht nennt. Dieser schamlose Deal ist nämlich nicht auf Dobrindts Mist gewachsen.
Als die Positionen der NATO in Afghanistan nicht mehr zu halten waren und die letzten deutschen Truppen am 29.06.2021 das Land verlassen haben, war klar, dass die Bundesregierung nicht daran dachte, ihre Schutzpflicht gegenüber den afghanischen Ortskräften wahrzunehmen. Noch Mitte 2020 meinte der damalige Leiter des Krisenreaktionszentrums beim Auswärtigen Amt: „Ortskräfte werden grundsätzlich nicht evakuiert, Sonderregelungen für Afghanistan sind mir nicht bekannt.“
Das änderte sich im Lauf des Jahres 2021. Dennoch gab es Unterschiede zwischen den einzelnen Ressorts. Das Verteidigungsministerium erleichterte das Aufnahmeverfahren für seine Ortskräfte. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hingegen tat alles, um diese Aufnahmeverfahren für die Ortskräfte in seinem Verantwortungsbereich zu blockieren. Man hatte nämlich die Illusion, man könne deutsche Entwicklungsarbeit in Afghanistan auch nach dem NATO-Truppenabzug fortsetzen. Noch im April 2024 gab ein Sprecher des BMZ zu Protokoll, was die Position des Ministeriums selbst nach dem Abzug der letzten deutschen Truppen aus Afghanistan im ‚Sommer 2021 war: „Das militärische Engagement endet, die zivile entwicklungspolitische Arbeit in Afghanistan wird fortgesetzt. Wir waren davon überzeugt, dass das möglich ist, und wir sind es auch heute noch.“ Ähnlich äußerte sich Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 25.08. 2021; da hatte das BMZ die „Entwicklungszusammenarbeit“ im Afghanistan bereits seit 10 Tagen „ausgesetzt“.
Zu den Versuchen, möglichst wenige Ortskräfte in das Aufnahmeverfahren aufzunehmen, gehörte auch der Plan, den das BMZ am 13. August 2021 mit dem damaligen Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Thorsten Schäfer-Gümbel, ausbrütete. Ortskräften sollte eine „Sonderabfindung“ in Höhe eines Jahresgehaltes bekommen, wenn sie dafür verbindlich auf eine Aufnahme in das Ortskräfteverfahren, das zur Ausreise nach Deutschland führt, verzichten. Im Durchschnitt war das ein Jahresgehalt von 7200 Euro, das niedrigste Gehalt soll 160 Euro im Monat/1920 Euro im Jahr betragen haben. Der ehemalige Vorsitzende der hessischen SPD besaß die Kälte, diese „Bleibeprämie“ als eine „Anerkennung für die geleistete Tätigkeit der Ortskräfte“ auszugeben.
Nachdem jedoch eine rechtliche Prüfung in der GIZ ergeben hatte, dass die Bindung der Prämienauszahlung an einen „dauerhaften und unwiderruflichen Verzicht auf die Teilnahme am Ortskräfteverfahren“ nicht „rechtssicher“ sei, revidierte man diese Kopplung, räumte den Ortskräften, die die Prämie nahmen, eine spätere Aufnahme in das Ortskräfteverfahren ein, zog aber die materiellen Hürden hoch, um doch noch die erwünschte Abschreckungswirkung zu erzielen. Schäfer-Gümbel meinte: Wer die „Sonderprämie“ in Anspruch nimmt und später doch noch in das Ortskräfteverfahren eintreten will, bekommt dann nicht mehr die „logistische Begleitung“ finanziert, muss also z.B. alle Flüge nach Islamabad (für ein Einreisevisum) oder nach Deutschland aus eigener Tasche bezahlen. Keine einzige Ortskraft des BMZ hat sich damals auf diesen Handel eingelassen.
Thorsten Schäfer-Gümbel war bei den hessischen Landtagswahlen 2009, 2013 und 2018 Spitzenkandidat der SPD. Nachdem die SPD die Wahlen dreimal verloren hatte, wurde er 2019 „Arbeitsdirektor“ bei der GIZ. In dieser Funktion kungelte er den Abfindungsvorschlag aus, den Dobrindt jetzt beerbt hat. Heute ist er Vorstandssprecher der GIZ.
Die Kenntnis dieses Sachverhaltes ist kein Privileg. Man muss sich lediglich durch die schlappen 1427 Seiten des Berichts „des 1. Untersuchungsausschusses der 20. Wahlperiode gemäß Artikel 44 des Grundgesetzes“ zum Entscheidungsverhalten beteiligter Bundesbehörden und Nachrichtendienste beim Abzug der Bundeswehr und der Evakuierung des Botschaftspersonals und von Ortkräften aus Afghanistan durcharbeiten. Das Zitat des Leiters des Krisenreaktionszentrums befindet sich auf Seite 506 des Berichtes, die Darstellung der Planung einer „Bleibeprämie“ findet man auf den Seiten 454-456.
Das Problem des deutschen Journalismus besteht nicht nur darin, dass er seine Kontrollaufgaben gegenüber bestehenden Mächten nicht oder nur unzulänglich wahrnehmen will, sondern auch darin, dass nur wenigen Journalistinnen und Journalisten das Zeitbudget zur Verfügung steht, um die entsprechenden Materialien zu einem Sachverhalt durchzuarbeiten. Dies wäre aber die Voraussetzung für eine seriöse Berichterstattung und Kommentierung, für einen „Qualitätsjournalismus“, der diesen Namen verdient. Addiert man den Umfang des Berichts des Untersuchungsausschusses und den Umfang des Zwischenberichts und Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zu den Lehren aus dem Afghanistaneinsatz plus die dazu gehörenden Experten-Gutachten, kommt man locker auf 2500 Seiten.
Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“













