„Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende Menschen.“ Dieser Satz von Heinrich Heine aus den 1820er Jahren liest sich so, als hätte der große Dichter vorausgeahnt, was die Nazis mit Deutschland und den Juden machen würden: Am 10. Mai 1933 verbrannten sie unter lautem Gejohle und Beifall die Bücher misslieblger Autoren wie Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarques, Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Anna Seghers, Erich Kästner. Fünf Jahre später, die Nazis hatten den Juden alle Rechte genommen, am 9. November 1938 zündeten sie fast alle Synagogen in Deutschland an, zertrümmerten jüdische Geschäfte, plünderten die Auslagen, verprügelten die jüdischen Inhaber, verschleppte sie in Konzentrationslager wie in Dachau und ermordete in dieser Nacht über 100 Jüdinnen und Juden. Und viele Deutschen schauten tatenlos zu, manche applaudierten, manche erschauerten ob der Bilder, andere griffen zu und bereicherten sich an den Waren. Der Übergang von der Diskriminierung zur Vernichtung war dem Nazi-Propagandachef Josef Goebbels gelungen.
Am 9. November wird in weiten Teilen Deutschlands der November-Pogrome gedacht, denen die Nazis einst den weniger schlimmen Namen „Kristallnacht“ geben wollten. Es werden Reden gehalten, Blumen niedergelegt, Kränze. Und hin und wieder vernimmt man die mahnenden Worte: Nie wieder! Gemeint: Nie wieder sollen Jüdinnen und Juden zu wehrlosen Opfern werden, nie wieder soll es Rassenhass geben. Man kann das ausdehnen auf andere Minderheiten, auf Ausländer, Geflüchtete. Aber die Wahrheit sieht anders aus: Denn es muss heißen: Schon wieder antisemitische Angriffe auf Juden, schon wieder werden Menschen diskriminiert, angespuckt, verprügelt: Weil sie Juden sind.
Nie wieder? Schon wieder?
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnte vor einem Gedenken ohne Konsequenzen und bat die Deutschen um mehr Zivilcourage, nicht nur heute, sondern an jedem Tag und an jedem Ort dieser Republik, wenn irgendwer Juden angreift oder sie beschimpft. Warum werden sie angegriffen? Weil sie Juden sind. Im Jahre 2000 forderte einer der Amtsvorgänger Schusters, Paul Spiegel, angesichts von Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen einen „Aufstand der Anständigen“. Heute müsse man fragen, erinnerte Josef Schuster an die Worte Spiegels, wo denn die Anständigen seien, irgendwo still auf den Zuschauerrängen? Oder sind die Anständigen weniger geworden? Das Nie-Wieder ist zu einer Floskel geworden, „hinter der man sich heute verschanzt, um den Rest des Jahres unverdächtig zu sein“, so Schuster.
Dass man im Land der Dichter und Denker Bücher verbrannte, hatte manchen draußen in der Welt geschockt. Aber dieser schlimme Anfang eines Zivilisationsbruchs blieb ohne Folgen, die Nazis konnten die Sportler aus allen Teilen des Erdballs zu ihren Olympischen Spielen nach Berlin einladen, der Welt ein falsches Reich vorspielen, danach ihr Unwesen weiter und weiter treiben, bis sie große Teile des Volkes entweder stumm gestellt hatten, weil sie Angst und Schrecken gegen Andersmeinende verbreiteten, oder die Deutschen hatten sich hinter Hitler, Goebbels, Himmler, Heydrich, Göring versammelt, sie waren zu Millionen in die NSDAP eingetreten. Man schrie Heil Hitler, stand stand stramm und salutierte. Niemand schritt ein oder protestierte, als SA-Horden auf Befehl von Goebbels in Absprache mit Hitler am 9. und 10. November 1938 rund 1400 Synagogen, Betstuben und andere Versammlungsräume anzündeten sowie Tausende von Geschäften, Wohnungen und jüdischen Friedhöfen zerstörten. In diesen Tagen wurden auf dem Gebiet des deutschen Reiches zwischen 400 und 1300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Rund 30000 Juden wurden in KZs verschleppt. Übrigens standen die Feuerwehren in vielen Fällen neben den brennenden Synagogen, sie hatten einzig die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass neben den Betstuben stehende Gebäude nicht auch noch Opfer der Flammen wurden.
Das war offene Gewalt, Juden waren zum Freiwild geworden, rechtlos, ihnen wurde das Eigentum abgenommen, arisiert nannte man solche Vorgänge, prominente Deutsche konnten sich so auf billige Weise bereichern. So erwarb der damalige beste Fußballer im Reich, der Schalker Fritz Szepan ein Modegeschäft in Gelsenkirchen, das bis dahin Juden gehört hatte. (Der Fußball-Klub Schalke 04 hat wie andere Klubs seine braune Vergangenheit aufgearbeitet.) All das geschah ein Jahr vor Ausbruch des Weltkrieges und drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen in die Vernichtungslager wie Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Belzec.
Charlotte Knobloch
Am 9. November 2025 darf, ja muss man an Charlotte Knobloch erinnern, die am Abend des 9. November an der Hand ihres Vaters durch die Straßen Münchens lief, sie war damals sechs Jahre alt und schildert ihre Erlebnisse und Ängste in ihrer Autobiografie. „Ich muss mich anstrengen, um mit Vater Schritt zu halten. Er hastet, bemüht sich aber, nicht zu rennen. Ich muss achtgeben, nicht zu stolpern. Ich darf nicht stürzen. Wir dürfen nicht auffallen. Wir sind auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München. Um uns herum herrschen Lärm und Geschrei. Das Geräusch von Glas, das auf Bürgersteigen in unzählige Scherben birst. Das Krachen prasselnder Flammen, herabstürzender Balken. Und Menschen, die johlen: Juda verrecke! Das Grölen schmerzt mich.. Manche Leute klatschen und lachen… Nicht stehen bleiben Charlotte, hat Vater mir eingeschärft, als wir zu ungewohnter Stunde unser Heim am Bavariaring verließen. Denn, so sagt er mir, in unseren eigenen vier Wänden sind wir nicht mehr sicher. Er hatte eine Warnung erhalten. So sei es besser, sich mitten ins Geschehen zu mischen, als zu Hause auf das Schicksal zu warten, wusste Vater. Wir wollen uns zu Freunden durchschlagen.“ Charlotte Knobloch überlebte die Nazi-Jahre unter fremdem Namen und ist heute Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von München und Oberbayern. Wenn sie spazierengehen will entlang der Isar, begleiten sie zwei Polizisten. So sicher ist das Leben unserer jüdischen Mitmenschen 2025.
„Mein 9. November“ überschrieb der Publizist Ernst Cramer einst seine Erinnerungen an einen besonderen Tag der deutschen Geschichte. Und er nannte als Beispiele den 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls, den 9. November 1918, als Kaiser Wilhelm II abdankte und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Fenster des Reichstags die erste deutsche Republik ausrief und Karl Liebknecht am selben Tag eine Räterepublik schaffen wollte. Cramer erwähnt weiter den 9. November 1923, als Hitler, Ludendorff und andere Rechtsradikale in München versuchten, die Republik durch einen Putsch zu beseitigen, was dank der bayerischen Polizei misslang. Was aber Hitler dazu bewegte, später diesen Tag als nationalsozialistischen Gedenktag zu feiern. Und schließlich erinnert Cramer, wie er den 9. November 1938 erlebte. „An jenem Tag wurde ich von Nazi-Schergen nördlich von Breslau gefangen genommen und am nächsten Tag ins KZ Buchenwald gebracht; die Reichsbahn, die später Züge für die Deportationen in die Todeslager bereitstellte, fuhr uns nach Weimar, dessen Bürger später angeblich mehrheitlich nicht wussten, dass in ihrer Nähe ein KZ bestand.“
Dröhnendes Gebrüll
Unter „dröhnendem Gebrüll“ seien sie auf dem Bahnhof der ehemaligen Goethestadt aus den Abteilen „gejagt“ worden, teilweise „gezerrt, und dann in die Unterführung getrieben, die unter den Gleisen zum Ausgang führte.“ Im Tunnel seien sie „mit Knüppeln an die Wand gedrängt und mit Stöcken, Bajonetten, Ochsenziemern und anderen Schlaginstrumenten verprügelt worden.“ Dann seien sie in Lastwagen gescheucht worden. „Alte und Behinderte wurden einfach in die Wagen geworfen.“ Im KZ habe man ihnen die Schädel kahl geschoren, sie hätten stramm stehen oder sich aufrecht auf den schlammigen Boden setzen müssen. „Fürchterliche Wochen folgten. Manchen wurden wahnsinnig; einige ertränkten sich in den Latrinen oder töteten sich am elektrischen Zaun…Der Aufenthalt im KZ war die schlimmste Zeit, die ich je durchlebt habe.“ So die Erinnerung von Ernst Cramer, der später fliehen und nach Amerika entkommen konnte, andere Mitglieder seiner Familie wurden von den Nazis ermordet.
Der 9. November 1938. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bittet um mehr Zivilcourage in einem Land, in dem die in weiten Teilen rechtsextreme AfD in Umfragen mit der CDU/CSU gleichgezogen oder sie sogar überholt hat. Eine Partei, die die demokratischen Parteien wie CDU/CSU und SPD zerstören will, die Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund mit Remigration droht, die mit Putin liebäugelt, die einen Autokraten wie Trump schätzt, der dabei ist, das demokratische System in den USA zu schleifen. Eine Partei, deren Ehrenvorsitzender Gauland die Nazi-Zeit einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte genannt, deren führender Politiker Höcke das Mahnmal an die Ermordung von sechs Millionen Juden in Berlin als eine „Schande“ bezeichnet hat. Eine Partei, gegen die SPD, Grüne und Linke ein Verbotsverfahren fordern, weil sie die AfD für eine verfassungsfeindliche Partei halten. Eine Partei, die NRW-Ministerpräsident Hendrick Wüst als „Nazi-Partei“ eingestuft hat. Dieselbe AfD feiert gerade, dass es ihr gelungen ist, in Bad Salzuflen wie in Wattenscheid, einem Ortsteil von Bochum, einen stellvertretenden Bezirksbürgermeister zu stellen. Alice Weidel, Vorsitzende der AfD, nannte dies den Abbruch der „Brandmauer“.
Mehr Zivilcourage
Mehr Zivilcourage gegen die AfD, das wäre nötig. Vor wenigen Tagen hat die „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ beängstigende Entwicklungen gemeldet. Immer mehr Schulklassen fielen beim Besuch von KZ-Gedenkstätten negativ auf. Hitler-Grüße seien an der Tagesordnung wie Hakenkreuz-Schmierereien. Schulklassen hätten in Bergen-Belsen das Lied gesungen: Deutschland den Deutschen. Ausländer aus.“ Zunehmend benähmen sich Schulklassen respektlos in Gedenkstätten. Zwei Zehntklässler einer Regelschule in Nord-Thüringen seien in die Verbrennungsöfen des ehemaligen Krematoriums Buchenwald geklettert, hätten sich gegenseitig fotografiert und die Bilder in den sozialen Medien geteilt. Bei Führungen zeigten Schüler offen ihr Desinteresse an der Geschichte des KZ, sie rümpften die Nase, machten Witze, fielen durch unpassendes Gelächter auf, während manche Lehrer sich ins Cafe setzten und ihre Schüler unbeaufsichtigt über das Gelände laufen ließen.
In Buchenwald erlebten Mitarbeiter der Gedenkstätte auch Drohungen gegen sich. Auf einem anonymen Schreiben sei zu lesen gewesen: „Ein Galgen, ein Strick, ein Wagner-Genick.“ Eine Fotomontage, die den Leiter der Gedenkstätte am Lagertor hängend zeigte.
Ja, wo sind die Anständigen geblieben?













