Am Abend des 14. September wird Deutschland auf Gelsenkirchen schauen. Der Grund: Beobachter erwarten bei den anstehenden Kommunalwahlen in NRW einen enormen Rechtsruck – vor allem im Ruhrgebiet. Und einen besonders dramatischen Zulauf für die Extremisten erwartet man an dem Sonntag in Gelsenkirchen, jener Stadt, die ihre Blütezeit der Schwerindustrie verdankt und die lange Zeit als tiefrot galt.
In der längst schrumpfenden Kommune mit heute noch knapp 270.000 Einwohnern wurde die rechtsextreme AfD nämlich bei der Bundestagswahl im Februar stärkste Partei – sie holte 24,7 Prozent der Zweitstimmen. Stärkste Kraft zu werden, das gelang der AfD, die NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst (CDU) als „Nazi-Partei“ bezeichnet, in Westdeutschland ansonsten nur noch in einer anderen Großstadt – in Kaiserslautern.
Für viele Menschen im einstmals „roten Ruhrgebiet“ war das ein Schock. In Gelsenkirchen etwa holte die SPD, die Partei von Willy Brandt und Johannes Rau, in den 80er Jahren Wahlergebnisse zwischen knapp 70 und fast 80 Prozent! Bei der vergangenen Kommunalwahl 2020 gaben hier noch 35,1 Prozent der Menschen den Sozialdemokraten ihre Stimme. Folgt nun ein Desaster für die SPD? Was hat zum Niedergang der Sozialdemokratie und zum Aufstieg der „Blauen“, der AfD, geführt? Der „Blog der Republik“ sprach darüber mit Sinan Sat, dem Leiter der WAZ-Lokalredaktion Gelsenkirchen.
Herr Sat. Der Wahlerfolg der AfD im Februar war ein Wirkungstreffer. Medien aus ganz Deutschland haben darüber berichtet und ihre Reporter nach Gelsenkirchen entsandt. Erwarten Sie am 14. September ein ähnliches Ergebnis?
Sinan Sat:Vor Kommunalwahlen gibt es traditionell keine Umfragen und keine Wahlprognosen. Wenn ich allerdings die Stimmung in der Stadt sehe, wenn sich der Eindruck bestätigt, den ich in unzähligen Gesprächen gewonnen habe, dann erwarte ich, dass die AfD auch im Stadtrat stärkste Partei wird. Mehr noch: Ich rechne sogar damit, dass sie gegenüber dem Februar noch einmal zulegt.
Was hat denn Ihrer Meinung nach zum Niedergang der SPD und zum Aufstieg der AfD in der Stadt geführt?
Sinan Sat: An erster Stelle war das die Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU oder besser: deren dramatische Auswirkungen. Gelsenkirchen wurde und wird wie kaum eine andere Stadt durch eine Armutszuwanderung aus Südost-Europa belastet. Das hat dramatische und für jeden sichtbare Auswirkungen in der Stadt: Der Sozialetat ist stark gestiegen. Zudem gibt es zahlreiche Schrotthäuser, vielerorts liegt Müll auf den Straßen und in den Grünanlagen. Dieser Müll wird teils einfach aus den Fenstern geworfen. Nachbarn dieser Problemhäuser beschweren sich über abgestellte Schrottautos und laute Musik bis in die Nacht. Die Flüchtlingswelle nach 2015 hat dann ein weiteres getan…
Inwiefern?
Sinan Sat: Das Stadtbild hat sich enorm verändert. Nur eine Zahl: Bei der Kommunalwahl 2020 gab es in Gelsenkirchen 75.000 Menschen mit Migrationshintergrund, die den Integrationsrat der Stadt wählen durften, dieses Mal sind es 90.0000. Die Zuwanderung hält also an. Das Ergebnis: Auch viele der Menschen, die man keinesfalls als ausländerfeindlich bezeichnen kann, fühlen sich nicht mehr heimisch. Sie empfinden sich inzwischen als Fremde in der eigenen Stadt.
Wie wirkt sich diese Art der Zuwanderung konkret aus?
Sinan Sat: Davon sind alle Menschen betroffen. In der Kita, in der Schule. Viele Kinder sprechen kein Deutsch. Und man muss es so hart sagen: Manche Eltern haben offenbar kein Interesse an der Bildung ihrer Kinder. Die Väter sind die Bosse in den Familien – und denen ist ein weißer Kastenwagen vor der Tür wichtiger als die Zukunft der Kinder. Zudem: Vor allem Jugendliche und junge Männer aus anderen Kulturkreisen treten in Gruppen in der Stadt auf und bereiten ein Gefühl der Unsicherheit – ob begründet oder nur scheinbar, das sei dahingestellt.
Und dafür machen die Menschen die SPD verantwortlich?
Sinan Sat: Verantwortlich gemacht werden immer die, die an der Macht sind. Und das ist in Gelsenkirchen – mit einer kleinen Unterbrechung – immer die SPD gewesen. Die amtierende SPD-Oberbürgermeisterin Karin Welge hat für das, was mit der Stadt passiert ist, klare Worte gefunden. Sie hat den Zustand als „Kollateralschaden“ der EU-Erweiterung bezeichnet. Doch hat ihr dieser Klartext geholfen? Eher nicht. „Wenn du das doch alles weißt – warum ist dann nix passiert?“, fragen die Menschen. Hinzu kommt, dass die 62-Jährige in der Bevölkerung keine große Sympathieträgerin ist – sie ist eher Verwaltungsfrau als Menschenfischerin. Das war bei manchen ihrer Vorgänger ganz anders. Welge tritt nach fünf Jahren als OB jetzt nicht wieder an.
Wie geriert sich die AfD denn in Gelsenkirchen? Extremistisch oder gibt sie sich eher gemäßigt? Ist die Partei inzwischen sogar Teil der Stadtgesellschaft, wie das in weiten Teilen Ostdeutschlands der Fall ist?
Sinan Sat: Nein, im gesellschaftlichen Leben ist die AfD eher unsichtbar. Vor fünf Jahren hat die Partei im Stadtrat noch einigermaßen sachlich Politik betrieben, hat Anträge – etwa zur Vermüllung und zu Schrottautos – gestellt. Die anderen Parteien haben aber jede Art der Zusammenarbeit verweigert. Das war wohl ein Fehler. Danach ist die AfD auch in Gelsenkirchen immer radikaler geworden. Es scheint, als ob sie heute so etwas wie Straßenwahlkampf gar nicht nötig hat. Die Partei zieht sich in die Sozialen Medien zurück und verbreitet dort ihre extremistischen Thesen.
Und das schreckt die Bürger nicht ab?
Sinan Sat: Für sachliche Argumente sind viele Menschen gar nicht mehr erreichbar. Das erlebe ich immer wieder. Wenn man etwa auf die rechtsextremen und rassistischen Positionen der AfD verweist, dann prallt das bei diesen Leuten ab. „Egal – was haben die andere denn bislang gemacht?“, fragen sie zurück. Die Wut ist groß.
Vorausgesetzt, die AfD wird stärkste Partei in Gelsenkirchen – was macht das mit dem Image der Stadt? Gelsenkirchen hat sowieso schon den wenig attraktiven Ruf, die ärmste Kommune Deutschlands zu sein.
Sinan Sat: Auch die überregionalen Medien bedienen oft diese Klischees: arm, schmutzig, abgehängt. Das hat sich nach der Bundestagswahl im Februar gezeigt, als alle über Gelsenkirchen berichteten. Immer die gleichen Geschichten, immer die gleichen Fotos. Doch es gibt zum Glück hier noch eine aktive Bürgerschaft, die daran arbeitet, Gelsenkirchen als lebenswerte Stadt zu erhalten. Das jetzige Image macht viele dieser Menschen wütend und traurig. Gelsenkirchen hat drei Schlösser und unglaublich viel Grün. Und wir haben die Arena, in der Schalke vor vollen Rängen spielt und in der Weltstars wie Robbie Williams oder Taylor Swift auftreten. Das wird allzu oft übersehen.
Was muss denn Ihrer Ansicht nach als erstes geschehen, um Gelsenkirchen nach der Wahl sicherer und sauberer zu machen, zur lebens- und vielleicht sogar liebenswerten Stadt?
Sinan Sat: Man muss klar sagen: Die Möglichkeiten der Kommunen sind begrenzt. Die globale Zuwanderung lässt sich lokal nicht steuern. Ich sehe aber vor allem zwei Ansatzpunkte in kommunaler Verantwortung: Zum einen muss die Verwaltung viel bürgerfreundlicher werden. Wer einen neuen Ausweis braucht oder einen Führerschein, der sollte darauf nicht ewig lange warten müssen. Wer hier investieren will oder Innovationen plant, dem sollte die Verwaltung nicht als erstes sagen, was nicht geht, den sollten die Wirtschaftsförderer konstruktiv unterstützen. Kurz: In der Verwaltung muss endlich ein Mentalitätswechsel stattfinden: Vom Paragrafen-Reiter zum Dienstleister.
Und zweitens?
Sinan Sat: Bei den Hauptkritikpunkten der Bürger – Sicherheit und Sauberkeit – müssen verstärkt auch die Daumenschrauben angezogen werden. Allein gutes Zureden hilft da nicht weiter. Manche Menschen – gerade aus Südosteuropa – sind so nicht erreichbar. Das haben jahrelange Versuche gezeigt. Was illegale Müllentsorgung oder Schrottautos angeht, können etwa Videoüberwachung oder KI-gesteuerte Fahndung weiterhelfen. Dem müssen dann empfindliche Strafen für die Täter folgen. Die Polizei muss außerdem konsequent gegen Kriminalität und Rowdytum vorgehen. Dabei muss es völlig egal sein, woher die Täter stammen.
Und das werden die Bürger dann honorieren?
Sinan Sat: Die Politik sollte sich nicht scheuen, dieses restriktive Vorgehen auch öffentlich sichtbar zu machen. Sie sollte sich dazu bekennen und ihre Erfolge präsentieren – meinetwegen auch etwas populistisch. Damit es nicht immer heißt: Die tun ja sowieso nix.
Sinan Sat (37) ist Journalist, Moderator, glühender Schalke Fan und bekennender Lokalpatriot. Seit Oktober 2020 leitet er die WAZ-Lokalredaktion in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen. Außerdem schult er junge Nachwuchsjournalisten regelmäßig zum Thema Digitaler Wandel und Online-Journalismus.
Bildquelle Titelbild: Friedrich Petersdorff, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons













