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In Dachau erkannte er seinen einstigen Peiniger Göth wieder – Ein Holocaust-Überlebender lässt seine Erinnerungen sprechen

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
28. April 2023
Gedenkstätte Dachau

In sechs Lagern hat Josef Lewkowicz als Jugendlicher Hunger, Schläge und Folter ertragen, er hat ritualisierte Erhängungen erlebt, Erschießungen, kaum zu beschreibende Grausamkeiten, Kannibalismus, Dinge, die einem den Hals zuschnüren, wenn man von ihnen hört, liest, wie sie der alte Mann erlitten hat, der ein Jahrhundert-Zeuge ist, einer, der den Massenmord der Nazis an den Juden überlebt hat. Und der sich im hohen Alter von 95 Jahren dazu aufraffte, diese Erinnerungen(„Mein Leben musste einen Sinn haben. Der Holocaust-Überlebende, der zum Nazi-Jäger wurde.“) aufzuschreiben, damit sie nicht vergessen werden. Josef Lewkowicz hat alles ertragen und hat „obsiegt, damit ich ein Ungeheuer der Gerechtigkeit überantworten konnte: Amon Göth, den Schlächter von Plaszow, einen sadistischen KZ-Lagerkommandanten, den er wiedererkannte im KZ Dachau in der Uniform eines Wehrmachtsoffiziers, einen Unmenschen.  Göth war der Tod, der Mörder schlechthin. Stellen Sie sich alles Schlimme vor, was Sie sich denken können, Göth personalisierte es. Und dass Lewkowicz den SS-Mann in Dachau entdeckte, passt. Dachau war das erste KZ 1933, von Heinrich Himmler eröffnet. Und es war das letzte Konzentrationslager, das die Amerikaner am 29. April 1945 befreiten, heute vor 78 Jahren. Danach begann die Suche der Alliierten nach den Tätern, auch Josef Lewkowicz beteiligte sich daran. Die Deutschen interessierte ihre braune Geschichte vorerst nicht, sie wollten sie verdrängen, weil sie vielfach verstrickt waren in ein Terrorregime.

Plaszow liegt in der Nähe von Krakau, wie das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es hatte keine Gaskammern, zählte aber dennoch zu den bekanntesten Orten des nationalsozialistischen Terrors. Der Spielfilm „Schindlers Liste“ wurde hier gedreht, Lewkowicz hat Schindler, den Judenretter, einst kennengelernt, als er Gefangener im Lager Plaszow war. Er erlebte die Grausamkeiten des SS-Mannes Göth aus nächster Nähe. Göth erschoss Menschen, weil er offensichtlich Spaß daran hatte. Er war das Gesetz, er knallte die anderen einfach ab, aus nächster Nähe, von seiner Villa aus, wie es ihm gerade passte. Was die Menschen, die seine Opfer waren, verbrochen hatten? Sie waren Juden. Das reichte. 

Von Hunden zerfleischt

Auf Befehl des Kommandanten Göth seien alle Häftlinge erschossen worden, die nicht fleißig gearbeitet hätten, schreibt Lewkowicz in seinem Buch. Er nennt die Mörder mit Namen:  „SS-Oberschütze GROSS, die SS-Rottenführer KUMKE und WILLY sowie die Oberscharführer STROJEWSKI und CHUJAR.“ Kranke und Alte und Kinder bis 13 Jahre seien ermordet und in großen Massengräbern beerdigt worden. Wenn Göth durch das Lager gegangen sei, habe das manchmal 100 Männern das Leben gekostet. Sie seien von Göth persönlich erschossen worden. Der Kommandant sei mit seinen Hunden durchs Lager gelaufen, die genauso gefährlich gewesen sein wie er selbst. Sie hätten gelegentlich Häftlinge zerfleischt. Während der Arbeitszeit sei es nicht erlaubt gewesen, auf die Toilette zu gehen. Hätte Göth einen dennoch dort erwischt, „erschoss er ihn auf der Toilette“. Kinder seien lebendig in die Massengräber geworfen worden, die Erde habe sich noch bewegt, „weil nicht alle Kinder tot waren.“ Die Kinder seien „ein halbes oder ein Jahr alt“ gewesen, liest man in Lewkowicz Erinnerungen. Grauenhaft. Persönlich miterlebte der Autor den Fall zweier jüdischer Mädchen, die bei einem Fluchtversuch gefasst und ins Lager gebracht worden seien. „Göth gab Befehl, sie auf dem Appellplatz zu hängen. Die Lagerinsassen mussten zusehen. Zwei Mal riss das Seil am Galgen. Sie wurden erneut aufgehängt und dann von Göth erschossen.“

Göth habe den Häftlingen nicht nur das Leben geraubt, sondern auch Gold, Brillanten, goldene und andere Uhren, Geld in verschiedenen Währungen, alles, was die Häftlinge besaßen. In einem weiteren Fall habe er die Schwester von CHAIM LOHAJ mitsamt ihrem Kind mit einer Kugel erschossen. Dazu habe er gesagt: „Für eine Jüdin ist jede Kugel eine zu viel.“ Die Mutter habe ihr Kind an die Brust nehmen müssen und dann seien beide mit einer Kugel erschossen worden. 

Josef Lewkowicz hat als vereidigter Zeuge vor Charles B. Deibel ausgesagt, einem US-Leutnant, der autorisiert gewesen sei zur Abnahme von Eiden. „Ich, der ehemalige Häftling Nr. 85314 Josef Lewkowicz, geboren am 15. März 1926 in Krakau, wurde 1940 verhaftet, weil ich Jude bin.“ Und dann schilderte er all die Grausamkeiten und all die Fälle, die er erlebt hatte. „Alles, was ich hier aufgeschrieben habe, ist die volle Wahrheit, die ich mit meinem Eid bekräftigen kann“. Und er benannte Personen, die all das überlebt haben, darunter Grünberg, Izak, wohnhaft in Bad Ischl, Hotel Goldenes Kreuz, Lohaj, Chaim, wohnhaft in Linz, Jüdisches Lager Bindermichl. „Ich kann unter Eid bekräftigen, dass er(gemeint Göth) meine ganze Familie im Ghetto und in Krakau-Plaszow ermordet hat. Göth war einer der schlimmsten Sadisten im Lager. Alles, was ich hier aufgeschrieben habe, sah ich mit eigenen Augen. Gezeichnet: Lewkowicz Josef, geboren in Polen, jetzt wohnhaft in Bad Ischl, Hotel Goldenes Kreuz. “ Unterschrieben und beeidet am 6. April 1946: Charles B. Deibel, 1st Lt. M.A.C Investigating Officer.

Erkannt an der Tätowierung

Göth und andere SS-Verbrecher mischten sich bisweilen unter deutsche Kriegsgefangene, um nicht erkannt zu werden. Sie wollten ihre wahre Identität verschleiern. Es war nicht einfach, nach dem Krieg im Lager Dachau die Täter unter all den Tausenden von den Amerikanern internierten Deutschen, die im Verdacht standen, Verbrechen begangen zu haben, ausfindig zu machen. Lewkowicz beschreibt in seinem lesenswerten Buch, wie man sie dennoch leicht erkennen konnte, indem man sie ihre Hemden ausziehen ließ. Denn dann konnte man ihre Tätowierung am linken Arm erkennen. Göth fiel Lewkowicz  auch deshalb auf, weil die Uniform, die er trug, zu groß gewesen sei. Außerdem sei er von einem Offizier der Wehrmacht auf Göth aufmerksam gemacht worden. Lewkowicz habe ihn sofort erkannt. Und er habe die Kontrolle verloren und auf ihn eingeprügelt. „Steh auf, du Sauhund,“ schrie ich ihn an. Sauhund, verfluchter Scheiß!“ Ich kann die Wut von Lewkowicz verstehen, der in der Uniform eines Militärpolizisten mit weißem Helm vor dem einstigen SS-Kommandanten stand, der früher Herr über Leben und Tod war und nunmehr selber am Boden kauerte. Lewkowicz brüllte ihn an: „Du wirst dafür bezahlen, unschuldiges Blut zu vergießen. Warum hast Du das getan?“ Göth habe nicht geantwortet, nichts gesagt.,

„Das Ungeheuer war eingefangen und stand mit dem Rücken zur Wand, doch es lebte noch“. Schreibt Josef Lewkowicz. Kann man sich in die Stimmung des Autors versetzen, der all die Leiden überlebt hatte, den Göth ja auch töten wollte. Lewkowicz hat im Grunde Glück gehabt, dass er dem Mörder entkam. Göth wurde angeklagt, ihm wurde Mord in Tausenden Fällen vorgeworfen und später in Polen hingerichtet. 

Göth, die Nazi-Verfolgung, all die Drangsalierungen, die Toten, die Leichen, die Bestien, Lewkowicz sind sie in seinen schlimmsten Träumen erschienen. „Ja, Göth, verfolgt mich noch heute im Traum“, gestand er kürzlich in einem Interview mit t-online. Lewkowicz hätte ihn damals in Dachau, als er ihn entdeckt hatte, ohne Weiteres erschießen können. Es blieb jedoch bei der Wutattacke und der Prügel. „Ich kann keinen Menschen umbringen wie einen Hund.“ Wie das einer wie Göth und all die anderen Nazi-Mörder getan haben. 

Nicht verdrängen

Sich erinnern, es aufschreiben, damit es niemand vergisst und den Holocaust nicht mehr leugnet. Nicht verdrängen, was geschehen ist in Dachau, keine halbe Stunde entfernt von München, der Stadt der Kunst, die einst die Stadt der Bewegung war, dort war die Parteizentrale der Nazis am feinen Königsplatz. In Dachau kamen über 41000 Menschen um, waren 200000 Menschen aus ganz Europa eingesperrt, darunter der spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, Kurt Landauer, der Mann, der den FC Bayern München erfand, in Dachau wurde Kurt Elser am 9. April 1945 von den Nazis erschossen. Elser, der Schreiner, der am 9. November den Versuch unternommen hatte, Hitler mittels einer Bombe zu töten. Hitler bedeute Krieg, sagte Elser damals. Wie Recht er hatte! Was wäre uns erspart geblieben, wenn Elser Erfolg gehabt hätte mit seinem Attentat! 

„Mein Überleben musste einen Sinn haben“. So der Titel dieser einfühlsamen Auto-Biografie, die kein leichter Stoff ist. Wie sollte sie auch. Es ist ein Buch, das man jedem empfehlen kann, gerade in Zeiten, da übertriebener Nationalismus sich wieder breit macht hier und anderswo, Intoleranz, wo es wieder junge und immer noch alte Nazis gibt, Leugner des Holocaust. Lewkowicz überstand den Schlächter von Plaszow und die Hölle von Auschwitz und Mauthausen, die Zwangsarbeit, die viele Firmen reich machte, deren Eigentümer sich aber später lange zierten, den Opfern eine Entschädigung zu zahlen. Josef Lewkowicz rettete viele jüdische Waisenkinder und brachte sie nach Israel, wo er selber lebt. „Unsere Aufgabe ist nicht Rache zu üben, sondern Wiederaufbau. Mein Überleben musste einen Grund haben.“ Weiß Gott. Was für ein Mensch! 

Josef Lewkowicz: Mein Überleben musste einen Sinn haben. Der Holocaust-Überlebende, der zum Nazi-Jäger wurde. Heyne Verlag München, 2023. 320 Seiten. 22 Euro. ISBN: 978-3-453-21848-2

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