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Kongo – Eine Kolonialismus-Geschichte – zum 100sten Geburtstag von Patrice Lumumba

Gerd Eisenbeiß Von Gerd Eisenbeiß
12. Oktober 2025
Patrice Lumumba, 1960 in Brüssel

Ein schlimmes Beispiel europäischer Kolonialverbrechen findet sich in der Geschichte Zentralafrikas am Kongo und seinen Nebenflüssen. Anlass, sich damit zu beschäftigen, ist mir der 100. Geburtstag eines Mannes, der dieses Schicksal bis zu seiner Ermordung 1961 am eigenen Leib erfahren hat: Patrice Lumumba, der erste frei gewählte Ministerpräsident der 1960 gegründeten Republik Kongo.

Die Leidensgeschichte dieses Landes und seiner Völker ist heute anerkannt; allerdings wird sie zumeist auf die Ausbeutung durch den belgischen König Leopold II und danach den belgischen Staat bis 1960 verkürzt. Weniger bekannt ist der portugiesische Anteil zuvor. Waren es doch die am Atlantik liegenden Völker Europas, die sich als erste mit hochseetüchtigen Schiffen und überlegenen Waffen an die Erschließung und Beherrschung anderer Kontinente machten, insbesondere die iberischen Völker nach Westen Richtung Amerika.

Nach Süden, entlang der afrikanischen Westküste, waren es zuallererst die Portugiesen, die Kontakt und Handelsbeziehungen mit den zahlreichen Königreichen aufnahmen, die sich seit Jahrhunderten dort gebildet hatten – Völker und Staaten, deren Entwicklungsstand sich bis vor 500 Jahren nicht so grundsätzlich von der europäischen Staatenwelt unterschied. Sicher war südlich der islamisierten Sahelzone das Fehlen von Schrift ein Nachteil in Verwaltung und Entwicklung, aber auch jene Reiche waren großflächig organisiert, hatten prachtvolle Hauptstädte und gemeinschaftsfördernde religiöse Systeme, beherrschten metallurgische und agrarische Technologien und hatten vielfach auch schon Kontakte zu anderen Kulturen, insbesondere mit der arabisch-muslimischen Welt.

Was die Portugiesen trieb, die sich ja auch Teile Südamerikas, also das heutige Brasilien, erschlossen hatten, war nicht nur Abenteuer- und Erkundungsdrang und der Missionstrieb, die afrikanischen Religionen durch die eigenen ebenso unbewiesenen Überzeugungen zu ersetzen, sondern auch Interesse an Handel und Goldgier.

Als ich vor einigen Jahren Vorträge über Subsahara-Afrika hielt (unter „www.politikessays.de/Politik“, Sept. 2019), hatte ich schon wahrgenommen, dass es zwischen dem am Kongo-Unterlauf herrschenden König und dem portugiesischen König rege Beziehungen gab, und ein kongolesischer Königsohn in Portugal studierte. Später lernte ich viel[1] über den portugiesischen Sklavenhandel, der damals begann und die größten Gewinne abwarf. So erhielten nicht nur die Herrscher am Kongo, sondern auch entlang der gesamten Guinea-Küste Waren und Waffen aus Portugal, und sie bezahlten mit Sklaven für die lukrativen Zuckerrohrplantagen in Brasilien.

Schon im 16. Jahrhundert begannen also die äußerst brutalen, unmenschlichen Transporte von versklavten Kongolesen nach Süd- und Mittelamerika, die bald auch von Niederländern, Engländern und Franzosen mit doppeltem Gewinn zulasten afrikanischer Völker von Mauretanien bis Angola betrieben wurden. Sklaven waren eine Art „Wegwerf-Ware“, deren alsbaldiger Tod bei Transport und Zwangsarbeit in Amerika eingepreist war; es gab ja genug Ersatz, um insbesondere Zucker-Plantagen mit hohen Gewinnen zu betreiben.

Bis Patrice Lumumba 1925 in der Provinz Kasai geboren wurde, hatte die Kongo-Region noch weitere Leidensphasen überstanden. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte der als belgischer König unterbeschäftigte Leopold II nicht nur geographisches Interesse an der noch kaum erforschten Region. Er gründete eine „Internationale Afrika-Gesellschaft“, die sich einen philanthropischen und wissenschaftlichen Anstrich gab, aber in Wirklichkeit auf die immer wertvoller werdenden Rohstoffe wie Diamanten, Kupfer und Kautschuk aus war. Er und seine Helfer sahen in den Schwarzen keine Menschen, denen Würde und Menschlichkeit zuzubilligen wäre. Man konnte sie also als reichlich vorhandene billigste Arbeitskräfte brauchen und – ja so klar muss man es sagen: verbrauchen.

Als Bismarck 1884 auf einer Konferenz in Berlin die abschließende Verteilung Afrikas an europäische Staaten moderierte und sich für Deutschland 4 saftige Territorien bestätigen ließ, kam man auch überein, das zentralafrikanische Kongo-Gebiet dem belgischen König als persönlichen Besitz zu übereignen.

Bald sprach sich in Europa herum, unter welchen Bedingungen Menschen zu härtester Zwangsarbeit missbraucht wurden, dass z.B. auch kleine Verfehlungen mit Verstümmelung von Gliedmaßen geahndet wurden, so dass sich die belgische Regierung genötigt sah, den mittlerweile als „Freistaat“ bezeichneten Kongo zu übernehmen – genau gesagt für 160 Mio. Francs zu kaufen: 50 Mio. erhielt der König und 110 Mio. kostete die Übernahme der dem „Freistaat“ zugerechneten Schulden.

Wenn man anschließend in die 50er Jahre des 20. Jahrhundert springt, sind die Verhältnisse im Kongo zwar weniger brutal, aber unverändert menschunwürdig geblieben. So wurde den Kongolesen und auch dem jungen Patrice jede Berufsausbildung[2]  ver-wehrt, so dass er nur als Postbote arbeiten konnte. Da er aber intelligent und ehrgeizig war, nutzte er jede Gelegenheit (teilweise im Gefängnis) zu lernen, insbesondere auch gutes Französisch.

1958 gründete er mit anderen eine Partei, deren anerkannte Stimme er wurde. Deshalb wurde auch er zusammen mit anderen regionalen Führern 1960 nach Brüssel eingeladen, wo Belgien vor dem Wunsch nach kongolesischer Unabhängigkeit kapitulieren musste; es stimmte der alsbaldigen Abhaltung freier Wahlen zu, die schon im Mai 1960 zu einem Sieg der Unabhängigkeit führte, wobei Lumumbas Partei eine relative Mehrheit erreichte. So wurde Lumumba erster Ministerpräsident der jungen „Republik Kongo“; Präsident wurde Joseph Kasavubu.

Das von Belgien erhoffte gute Verhältnis zum neuen Staat ruinierte Lumumba durch seine drastische Anklage der Belgier wegen der Verbrechen der Vergangenheit, wegen des Rassismus und der Ausbeutungsgier. Er wurde von den Kongolesen gefeiert, aber in Belgien und der westlichen Presse als Fanatiker dargestellt, woran ich mich sehr gut erinnere. Allerdings hinterließen die Belgier eine absolute Lücke an ausgebildeten Fachleuten, was den Start in die Unabhängigkeit ebenso erschwerte wie die fortdauernde Dominanz der Ex-Kolonialmacht in der Rohstoffwirtschaft und dem Militär. Die selbstbewusste Arroganz der unverändert weißen Generäle veranlasste Lumumba, diese gegen Kongolesen auszutauschen und einen Vertrauten namens Joseph-Desiree Mobutu zum Oberbefehlshaber zu ernennen..

Trotzdem versank das junge Land in zunehmenden Unruhen, Stammeskonflikten, Mord und Totschlag, so dass die belgische Regierung schon wenige Tage nach der Unabhängigkeitsfeier eine Interventionsarmee ins Land schickte – für Lumumba eine Kriegserklärung, zumal sich zugleich die reichste Provinz im Südwesten, Katanga mit seinen Kupfergruben, mit Unterstützung aus Belgien als unabhängig erklärte.

Lumumba erhoffte sich von den Vereinten Nationen Hilfe und VN-Truppen, die die Belgier vertreiben sollten. So forderte eine VN-Resolution im Juli 1960 den Abzug der belgischen Soldaten. Als der Westen jede Hilfe gegen die abtrünnige Katangaprovinz verweigerte und dann auch die Diamanten-Provinz Kasai ihre Unabhängigkeit erklärte, rief Lumumba die Sowjetunion zu Hilfe, die Militärhilfe leistete.

Dieser Hilferuf nach Moskau sowie die Brutalität der Kämpfe in Kasai und anderswo, ließen im Westen die Alarmglocken schrillen, der Kongo werde ins kommunistische Lager wechseln, Lumumba werde ein 2. Fidel Castro. Präsident Kasavubu entließ vermutlich unter Druck aus dem Westen seinen Ministerpräsidenten. Dagegen wehrte sich Lumumba, indem er seinerseits die Entlassung des Präsidenten verkündete. In dieser Verwirrung putschte der Armeechef Mobutu und stellte Lumumba unter Hausarrest. Mobutu war zuvor Assistent Lumumbas in der Parteiarbeit gewesen und war Informant des amerikanischen und belgischen Nachrichtendienstes.

Lumumba hatte allerdings weiterhin starke Anhängerschaft im Osten und russische Unterstützung, Mobutu im Bündnis mit Kasavubu im Westen des Landes, während Katanga und Kasai mit Unterstützung belgischer Unternehmen eigene Wege gingen. Unter dem Druck der USA erkannten die VN die Regierung Kasavubu/Mobutu als legitim an. Zugleich begannen Planungen im Westen, Lumumba zu töten. Der spürte die Lebensgefahr und flüchtete aus dem Hausarrest in den Osten. Auf halbem Weg schnappten ihn Mobutus Soldaten Anfang Dezember1960. Er wurde gedemütigt und geschlagen, wobei Teile der VN-Truppen tatenlos zusahen, die Umstände seiner Festnahme aber bekannt machten.

Der Westen und Mobutu selbst blieben aber besorgt, dass die Popularität Lumumbas zu einem neuen Staatsstreich führen könnte. Um sich die Hände nicht schmutzig zu machen, überführte man den Gefangen Anfang 1961 nach Katanga, wo er gefoltert und dann erschossen wurde. Die Allianz der Mörder einigte sich auf die Darstellung, Lumumba sei geflohen und sei von Dorfbewohner umgebracht worden; man habe den Leichnam gefunden, der Totenschein sei von einem belgischen Arzt ausgestellt worden. Eine Grabstelle wurde nie veröffentlicht.

So endete dieses außergewöhnliche Leben des Patrice Lumumba nur 8 Monate nach der Unabhängigkeit seines Landes im Alter von 36 Jahren durch vielfaches Verschulden unseres heute so sympathischen kleinen Nachbarlandes bei massiver Unterstützung durch die USA.

Schon unmittelbar nach seiner Ermordung gab es an vielen Orten der Welt heftige Proteste. In den westlichen Staaten hielt sich eine Weile die diffamierende Darstellung, Lumumba sei ein gefährlicher Extremist und Kommunist gewesen, bis vielfache Untersuchungen und Veröffentlichungen den hier wiedergegebenen, vermutlich wahren Sachverhalt klären konnten, so dass sich 2020 König und Regierung Belgiens reuig zeigten und offiziell die vielen dem Kongo angetanen Ungerechtigkeiten bedauerten.

Das weitere Schicksal Portugals und Belgiens zeigt, dass deren brutaler Ausbeutungskolonialismus keine langfristig rentable Strategie war: Belgien ist heute sehr hoch verschuldet und Portugal war bei EU-Beitritt 1986 selbst noch Entwicklungsland!

[1] Unter anderem aus Amat Levins empfehlenswerten Buch „Black History“ (C.H.Beck, 2025)

[2] Belgier und Portugiesen verfolgten zur Herrschaftssicherung die besonders infame Strategie, ihren Kolonialvölkern systematisch Bildung zu verweigern.

 

Bildquelle: Harry Pot / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

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