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KRIEG BIS ZUR ERSCHÖPFUNG? Ein Gastbeitrag von Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun

Gastbeitrag Von Gastbeitrag
1. März 2024
Kind mit blutigem Hemd vor völlig zerstörten Häusern

DAS ZWEITE JAHR ANGRIFFSKRIEG GEGEN DIE UKRAINE, DEM ZWEITGRÖSSTEN LAND UNSE-RES KONTINENTS, IST VORBEI, OHNE DASS ES EINEN NENNENSWERTEN VERSUCH FÜR EI-NEN WAFFENSTILLSTAND UND EINE FRIE-DENSLÖSUNG GEGEBEN HAT.

Am 23. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Seitdem ist er zu einem blutigen Stellungs- und zermürbenden Abnutzungskrieg geworden. Die Ukraine verfügt über effiziente militärische Abwehrsysteme, Russland hat eingenommene Regionen im Osten und Süden stark befestigt. Die wechselseitigen Vorstöße haben sich bislang nicht entscheidend auf das Kriegsgeschehen ausgewirkt. Aber Moskau scheint der Umstieg auf eine Kriegswirtschaft gelungen zu sein, während die Ukraine Probleme mit Nachschub und Munition hat.
Ukrainische Soldaten sind am Ende ihrer Kräfte. Der Krieg hat eigene inhumane Gesetze. Eine Ablösung oder längere Pause werden nicht genehmigt, denn das Land hat immer größere Schwierigkeiten, Soldaten zu rekrutieren. Bei denen, die seit Frühjahr 2022 an der Front kämpfen, wächst die Wut über Korruption und Ungleichheit. Hunderttausende wehrfähiger Männer haben sich ins Ausland abgesetzt, fast 200.000 von ihnen nach Deutschland. Ältere Männer werden zunehmend eingezogen.
Vieles spricht dafür, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann. Das haben die zwei weitgehend verpufften Offensiven im Frühjahr und Sommer 2023 gezeigt. Die Zahl der toten und schwerverletzten Soldaten und Soldatinnen ist grausam angestiegen – an manchen Ta-gen werden bis zu 1.000 getötet. Im Interesse des geschundenen Landes ist es dringend geboten, zu Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu kommen. Ein Weg dahin kann eine diplomatische Initiative von Deutschland, Frankreich und Spanien sein, um auf Vermittlung Brasiliens, Chinas, Indiens oder Südafrikas, die als BRICS-Staaten eine deutlich höhere Chan-ce haben, Einfluss auf Moskau zu nehmen, zu Verhandlungen mit den Kriegsparteien zu kommen.
Der amerikanische Generalstabchef Mike Milley sah bereits im November 2022 eine „militärische Lösung für die ukrainische Armee als unwahrscheinlich“. Er riet zu Verhandlungen mit Russland. US-Präsident Joe Biden, der darauf vertraut, mit Hilfe westlicher Waffen einen Sieg Russlands zu verhindern, lehnte den Vorschlag ab. Doch ein Game-Change ist nicht realis-tisch. Die Gefahr nimmt zu, dass Nato-Länder durch massive Waffenlieferungen immer tiefer in den Krieg hineingezogen werden. Deshalb können sie auch keine direkte Vermittlerrolle mehr einnehmen.
Die Ukraine ist kriegsmüde. Die Kampfhandlungen bedeuten immer mehr Elend und Zerstörung, Tote und Verwundete. Kriege haben, wie es bei Clausewitz heißt, „keine Grenzen in sich“. Die Gefahr einer Eskalation ist real, solange es nicht bestenfalls zu Friedensverhandlungen oder schlimmstenfalls zur totalen Erschöpfung der Ukraine kommt. Russland verfügt über hohe Mobilisierungsreserven und eine Luftüberlegenheit. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj steckt in dem Dilemma, dass die USA, der wichtigste Waffenlieferant, durch den Präsidentschaftswahlkampf gelähmt sind. Selenskyj verstärkt deshalb seine Bemühungen, mehr Waffen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu bekommen. Aber das Blatt kann sich schnell wenden:
1. Selenskyj kündigte im Dezember 2023 und auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine erneute Großoffensive in drei bis vier Monaten an. 500.000 Ukrainer sollen zwangsrekrutiert werden. Militärexperten warnen, dass die Ukraine weder die Menschen noch die Zeit hat, weder die Waffen noch die Munition. Die Gefahr besteht, dass noch mehr Soldaten im Krieg verheizt werden. Nur wenn es schnell zu Waffen-stillstand und Friedensverhandlungen kommt, kann die Niederlage vermieden. Wer-den.

2. Angesichts unzähliger getöteter, verletzter und traumatisierter Menschen formiert sich in der Ukraine ziviler Widerstand gegen den Krieg. Die Sehnsucht nach Frieden wird größer. Die Menschen erinnern sich an die verpassten Chancen der Minsker-Vereinbarungen von 2014, die nach den russisch-ukrainischen Konflikten im Donbass von Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Russland und der Ukraine ausgehandelt wurden, um den Krieg in der Ostukraine zu beenden und eine politische Beilegung zu erreichen. Merkel behauptete später in der ZEIT, Hollande und sie hätten das Ziel gehabt, der Ukraine Zeit für eine militärische Aufrüstung zu verschaffen. Tatsächlich begannen die USA in dem Jahr mit Waffenlieferungen. Doch der russische und der ukrainische Präsident haben die Verträge unterzeichnet.

3. Die Menschen erinnern sich auch an die russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen, die in Istanbul stattfanden. Ende März 2022 sah der Vorschlag eine russische Krim und „militärische Neutralität“ der Ukraine unter internationaler Aufsicht vor. Selenskyj bezeichnete das Ergebnis zuerst als „akzeptabel“. Nach Interventionen vom damaligen britischen Premier Boris Johnson und von amerikanischer Seite sowie dem Versprechen vermehrter Waffenlieferungen wurden die Verhandlungen abgebrochen. An dem Istanbuler Vorschlag könnte eine Initiative für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen anknüpfen.

4. Selenskyj kehrte von seinen letzten zwei Reisen nach Washington mit leeren Händen zurück. US-Präsident Joe Biden ist angeschlagen. Der Schatten von Donald Trump, der ein „America first“ predigt, wird immer länger. Trump will, wenn er erneut zum US-Präsident gewählt werden sollte, die Waffenlieferungen in die Ukraine stoppen und eine Verständigung mit Wladimir Putin suchen. Washington ist zudem der Gaza-Krieg wichtiger als die Ukraine. Und global sehen die USA China als den neuen Hauptgegner an, der wirtschaftlich, politisch und militärisch zum stärksten Konkurrenten auf-gestiegen ist.

5. Ein Rückzug der USA aus der bilateralen militärischen Unterstützung der Ukraine würde die finanziellen Möglichkeiten der EU-Staaten überfordern, wenn sie deren Anteil ausgleichen wollten. Die USA leisteten bis Oktober 2023 eine Militärhilfe von 43,8 Mrd. Euro. Rund Zweidrittel der amerikanischen Waffen wurden auf Kreditbasis geliefert. Kredite, die mit EU-Geldern zurückgezahlt werden. An zweiter Stelle kam Deutschland mit 17,5 Mrd. Euro. Zudem hat der Rüstungskonzern Rheinmetall zusammen mit der Ukrainian Defense Industry in Kiew ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, um die Panzer Fuchs, Lynx und Panther zu bauen. Der Waffenexport ist nicht an diplomatische Initiativen gekoppelt. An dritter Stelle lieferte Großbritannien Waffen in der Höhe von 6,5 Mrd. Euro. Alle anderen Länder liegen mit einem deutlichem Abstand dahinter.

6. Nicht zuletzt nehmen im ukrainischen Militär Spannungen zu. Selenskyj feuerte im Februar 2024 den Oberkommandierenden Walerij Saluschny, die beliebteste Person in der Ukraine. Er hatte in Interviews von einer Pattsituation im Krieg gesprochen und die Schwachstellen der ukrainischen Armee aufgezeigt. Auch der neu berufene Armeechef Oleksands Syrsky zeigte sich skeptisch über die weitere Entwicklung. Nach einer Inspektion der Region Charkiw erklärte er, die russischen Truppen könnten ihre Anstrengungen verstärken und hätten eine zahlenmäßige Übermacht. Die Unzufriedenheit in der Armee wächst, wenn die Resignation nicht schon begonnen hat.

7. Kiew wie Moskau geraten innenpolitisch unter Druck. In der Ukraine nehmen zu der Unmut über die Regierung, die Wut auf die anhaltende Korruption, die Forderungen der Soldatenfrauen nach einer „Demobilisierung“ und die Kontroversen in der Armee. In Russland zeigt sich das an der Willkür des Kremls, den liberalen Kriegsgegner Boris Nardeschin, der viel Zustimmung gefunden hat, nicht als Präsidentschaftskandidat zuzulassen und an den Protesten von Familien der Soldaten, vor allem der Frauen und Mütter.

Vor diesem Hintergrund kann sich schon bald die Entscheidung über die Zukunft des Krieges nach Kiew verlagern. Die ukrainische Regierung sollte aktiv auf eine Friedenslösung hinarbeiten, die an den Minsker Verträgen oder dem Verhandlungsergebnis von Istanbul anknüpft. Die ukrainische Führung wird Zugeständnisse machen müssen, das Land kann nicht Mitglied der Nato werden, stattdessen müssen internationale Sicherheitsgarantien geschaffen wer-den. Derzeit tut Selenskyj alles, um an mehr Waffen zu kommen. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung. Kiew muss aber für einen neuen Weg bereit sein. Andernfalls wächst die Gefahr, dass die Nato-Länder noch stärker in den Krieg hineingezogen werden und er sich ausweitet. Das ist das zentrale Dilemma des Krieges. Die New York Times warnt, dass es zu einem Krieg mit der Nato kommen kann. Russland ist die größte Atommacht der Welt.
Allerdings wird das Zeitfenster eng. Derzeit sind die russischen Truppen noch zu schwach, um die Ukraine insgesamt einzunehmen. Aber Russland bestimmt die militärischen Initiativen, hat die Eskalationsdynamik in der Hand und verfügt über eine Luftüberlegenheit. Die besetzten Gebiete werden bereits russisch „konsolidiert“. Die nächsten Ziele könnten sein Charkiw mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung und Odessa am Schwarzen Meer. Russland geht es derzeit in erster Linie um die Kontrolle über die Industrieregion Don-bass und um den Zugang zum Schwarzen Meer, wo die militärisch bedeutsame Schwarz-meerflotte stationiert bleiben soll. Doch selbst bei einem russischen Sieg bleibe die Frage: Was nützt Moskau ein zerstörtes Land mit einer antirussisch eingestellten Bevölkerung?
Waffenstillstand und Friedenslösung
In der „Minima Moralia“ schrieb Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Krieg ist immer falsch, alle 21 Kriege und 216 militärischen Auseinandersetzungen, die heute gezählt werden, sind falsch, natürlich auch der russische Angriffskrieg. Es sind sechs Gründe, die eine schnelle Friedenslösung in der Ukraine verlangen. Das ist das Gegen-teil zu dem Nationalegoismus und dem geopolitischen Machtpoker unserer Zeit.
1. Das Töten stoppen. Das Wichtigste, was in der öffentlichen Debatte zu kurz kommt, ist der Schutz des menschlichen Lebens. Es gibt keine größere Tragödie als die Ermordung von Menschen und keine größere Ungerechtigkeit als das Töten von Kindern. Nach Schätzungen sind in der Ukraine mindestens 500.000 Menschen schwer verletzt oder ums Leben gekommen. Nur eine Friedenslösung kann das „Ausbluten“ eines großen Teils der Bevölkerung verhindern. Die Ukraine braucht Frieden, Armut und Zerstörung wachsen katastrophal. Kriege treffen in erster Linie arme Schichten, auch in der russischen Armee stammen viele Soldaten aus armen Regionen, aus Swerdlowsk, Tscheljabinsk, Burjatien oder Dagestan, wo der Monatslohn im Schnitt bei nur 200 Euro liegt. Weltweit leiden als Folge des Krieges nach UN-Angaben rund 1,7 Milliarden Menschen unter der drastischen Verteuerung von Energie und Lebensmitteln.

2. Keine Militarisierung der internationalen Politik. Angefeuert durch den Krieg steigen in Industriestaaten und großen Schwellenländern die Militärausgaben stark an. Sie übersteigen mit 2,3 Billionen US-Dollar deutlich die Ausgaben von 1989, dem letzten Jahr des Kalten Krieges. In 18 Nato-Staaten erreichen die Militärausgaben zwei und mehr Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Außenbeauftragte der EU Josep Borell behauptet, unsere Zeit brauche die „Sprache der Macht“. Deutschland liegt in der weltweiten Rangfolge an 6. Stelle. Auf die ersten zehn Länder entfallen fast 75 Prozent aller Militärausgaben, die USA weit an der Spitze. Viel zu viel Geld wird ver-schwendet, das dringend für die soziale und ökologische Gestaltung der Transforma-tion gebraucht wird, ohne die erbitterte Verteilungskämpfe die Zukunft bestimmen werden.

3. Wir brauchen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Zeit von Abrüstung, Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle ist vorbei. Das seit der Kuba-Krise gewachsene militärische Kontroll- und Begrenzungsregime wurde aufgekündigt. Notwendig ist ei-ne Rückkehr zu den Verhandlungen zwischen den USA und Russland in Genf und Wien. Und ebenso eine UN-Sonderkonferenz, um neue Abrüstungsverhandlungen anzustoßen.

4. Atomgefahren müssen gestoppt werden. Heute verfügen neun Staaten über 12.512 Atomwaffen mit derzeit 9.578 einsatzbereiten Sprengköpfen. Nach dem Friedensforschungsinstitut SIPRI haben Russland 5.889 und die USA 5.244 Atomwaffen, zusammen mehr als 90 Prozent des weltweiten Arsenals. Die USA allein haben 2022 knapp 44 Milliarden Dollar für die Modernisierung und Erweiterung ihrer Atomwaffen aus-gegeben. Auch für die Entwicklung von Mini-Nukes, die die Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen senken könnten. SIPRI befürchtet, dass die Welt in „eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte driftet“. Statt den Atomwaffensperrvertrag umzusetzen und den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterschreiben, wächst in verschiedenen Ländern das Bestreben, selbst Atombomben zu bauen oder zu einer atomaren Teilhabe zu kommen. Albert Einstein hat Recht: „Die Atombombe hat die Welt verändert, aber nicht das Denken der Menschen.“

5. Eine Weltinnenpolitik ist notwendig. Außer den Nato-Staaten beteiligen sich nur wenige Länder an den Sanktionen gegen Russland. Die Unterschiede zwischen Nord und Süd werden größer. Das bedeutet keine Zustimmung zum russischen Angriffskrieg, aber eine Kritik am Westen, zu dem 11 Prozent der Weltbevölkerung gehören, während auf die BRICS-Staaten und die Shanghai-Gruppe, die Sanktionen ablehnen, fast 50 Prozent entfallen. Die Menschheit braucht eine Weltinnenpolitik, die von der Leitidee der Gemeinsamkeit und Kooperation ausgeht: Gemeinsames Überleben, gemeinsame Sicherheit, gemeinsame Zukunft. Mit den Möglichkeiten des Industriezeit-alters ist der Mensch zum stärksten Einflussfaktor auf das Erdsystem geworden. Durch die Klimakrise, die sich schnell zuspitzen wird, ist ein Ende der menschlichen Zivilisation denkbar geworden. Die Weltinnenpolitik muss deshalb alle Länder einbeziehen, die Ukraine genauso wie Russland. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN von 2015 sollten dafür um ein 18. Ziel ergänzt werden: „Frieden“.

6. Ein starkes Europa. Eine friedliche Zukunft braucht ein gemeinsames, kein gespaltenes Europa. Der Weg dahin weist die Charta von Paris für ein neues Europa von 1990. Nur ein starkes und gemeinsames Europa kann in der Welt eine wichtige Rolle spie-len. Peter Bender nannte diese dritte Phase der Entspannungspolitik „Europäisierung Europas“. Wir ignorieren nicht die Probleme mit und in Russland, aber gerafe deshalb müssen Gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit ins Zentrum der Politik rücken. Europa braucht eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur.
Meinungskonformismus
„Die ganze Kriegspropaganda, all das Geschrei, die Lügen und der Hass, kommt immer von Leuten, die nicht kämpfen.“ (George Orwell). Tatsächlich verbreiten unzählige „Militär- und Sicherheitsexperten“ in einer medialen Dauerpräsenz einen unseligen Konformismus, während erfahrene Generäle wie Harald Kujat oder Erich Vad, die viel vorsichtiger und differenzierter die Lage bewerten, kaum gefragt sind. Wer mehr Waffenlieferungen in die Ukraine fordert, bestimmt die Meinungsbildung, wer für eine Friedenslösung eintritt, wird in eine nationalegoistische Ecke geschoben.
Ausländische Kommentatoren sprechen davon, dass die Deutschen „Maß und Mitte“ verloren haben. Es fehlt der kritische Diskurs, Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Schwarz oder weiß, das ist zu einfach. Der Ukraine-Krieg hat eine Geschichte, die komplex und kompliziert ist. Politik und Medien bilden jedoch oftmals eine negative Allianz. Ein Paradebeispiel sind Sendungen, in denen Vertreter einer Friedenslösung, von, wie Martin Walser sie nannte, „Meinungssoldaten“ niedergemacht werden. Nach Erhebungen von Helmut Donat und Johannes Klotz vertraten in den Gesprächsrunden des Fernsehns im ersten Kriegsjahr fast 90 Prozent der Teilnehmer eine „militärorientierte, auf Abschreckung durch massive Aufrüstung zielende Meinung“. Kurz: Viel Empörung, wenig Analyse.
Welche Interessen die Militärexperten vertreten und was es bedeutet, wenn sie Waffenlieferungen fordern, wird kaum hinterfragt. Immer häufiger vermischen sich Teilanalysen mit Durchhalteparolen. Die meisten Militärexperten fordern von der Bevölkerung ein „Wehr- und Kriegsbewusstsein“. Für Friedensverhandlungen sei Zeit, wenn die „Ukraine erst siege“. Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik behauptet eine „neue“ Konfliktordnung der Zukunft, die sich ständig „im“ oder gerade „noch nicht“ im Kriege befinde.
Der frühere außenpolitische Sprecher der FDP Alexander Graf von Lambsdorff diffamierte die Friedensbewegung als „5. Kolone Moskaus“. Politische Falken haben eine „Dauerpräsenz“, besonders Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Michael Roth (SPD), Anton Hofreiter (Die Grünen), Norbert Röttgen, Johann Wadephul und Roderich Kiesewetter (CDU) oder Manfred Weber (CSU). Kiesewetter will nicht nur den Verteidigungsetat drastisch erhöhen, er forderte in der Deutschen Welle eine Ausweitung des Krieges über die Ukraine hinaus: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern auch Ministerien, Kommandostände, Gefechtsstände“. In der Ukraine hieß es: „Bundestagsabgeordneter fordert vernichtende Schläge gegen die Russische Föderation.“ Kiesewetter löste auch heftige Reaktionen aus mit seiner Forderung, die Bundesregierung solle Kiew bei den Rekrutierungsproblemen helfen und nach Deutschland geflohene ukrainische Männer zurück an die Front schicken.
Derzeit wird der Konflikt an der von der CDU/CSU, aber auch von Abgeordneten der Ampel-Koalition geforderten Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern deutlich. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich trotz eines starken Drucks gegen die Lieferung ausgesprochen. Er befürchtet, dass mit Taurus das Kriegsgeschehen eskaliert, denn die Marschflugkörper können unter dem Radar fliegen und strategische Ziele wie Industrieanlagen, Flughäfen und Häfen zerstören. Taurus ist nicht – wie im Bundestagsantrag der Union steht – gleichzusetzen mit den gelieferten Storm Shadow und SCALP-Systemen. Sie haben eine Reichweite von rd. 500 Kilometern. Das ist mehr als doppelt so weit wie die britischen und französischen Systeme.
Wie eine vorgezogene Reaktion auf eine erneute Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten mit der evtl. Folge eines Rückzugs amerikanischer Truppen aus Europa wird eine Beteiligung Deutschlands an Atomwaffen gefordert. Die Diskussion bzw. das Geraune zieht sich durch alle Bundestagsparteien. Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber (FDP) fordert ein dauerhaftes Hochfahren der Rüstungsproduktion in Deutschland. Man müsse zeigen, dass Deutschland in kurzer Zeit auf eine „Kriegswirtschaft“ umstellen könne.
Wer anderer Meinung ist, sitzt schnell am Katzentisch der Gesprächsrunden. Der mediale und politische Druck zur Lieferung von Waffen nimmt stetig zu. In vielen anderen westlichen Ländern wird der Ukraine-Krieg viel differenzierter debattiert. In unserem Land werden selbst kritische Analysen der konservativen amerikanischen RAND-Cooperation, eines der bedeutendsten amerikanischen Think Tanks, der auch die US-Regierung berät, vom Tisch gewischt.
Nach zwei Jahren Krieg wächst die Zahl der Menschen, die ein Ende des Krieges wollen, auch im Interesse der schwer verletzen und geschundenen Ukraine. Deshalb sollten Deutschland, Frankreich und Spanien einen Friedensplan entwickeln, der mit Vermittlung der BRICS-Staaten, die eine wichtige Rolle in den Interessen Moskaus einnehmen, mit beiden Kriegsparteien verhandelt wird, ganz im Sinne von Helmut Schmidt: „Es ist besser 1000 Stunden zu verhandeln als eine Minute zu schießen.“
Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit ist nicht obsolet. Staaten können sich nur dann sicher fühlen, wenn sich auch ihr Gegenüber sicher fühlt. Wir brauchen Gemeinsame Sicherheit, nicht nur um Kriege zu verhindern, sondern auch um die großen Zukunftsgefahren unserer „ungleichen, überbevölkerten, verschmutzten und störanfälligen Welt“ zu bewältigen.

Die Autoren:
Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde und war Parlamentarischer Staatssekretär im Bun-desumweltministerium; Prof. Dr. Peter Brandt ist Historiker und Sprecher von „Entspannungspolitik jetzt!“; Reiner Braun war Co-Vorsitzender des International Peace Bureau

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