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Home Politik

Migration wird als Wahlkampf missbraucht

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
22. September 2023
Tafel mit Aufschrift "Integration"

Europa redet gern über seine Werte, beruft sich auf das Christentum, Toleranz, Solidarität, Menschlichkeit, Nächstenliebe. Ich könnte noch manches in diesem Zusammenhang anfügen, es würde es nicht besser machen. Gemeint das Bild, das Europa, der Westen gerade wieder mal abgibt. Wir streiten über den richtigen Kurs bei der Migrationspolitik, dabei liegen die dafür nötigen Regeln längst auf dem Tisch. Wir müssten nur endlich handeln, das umsetzen, was in Sonntagsreden überall in Europa so gern gepredigt wird. Wir müssten denen helfen, die zu uns kommen, nach Italien, Griechenland, Frankreich, Deutschland usw. Denen helfen, die in Not sind. Und die Menschen, die aus Afrika, Asien oder woher auch immer Richtung Europa fahren, haben aus Not ihre Heimat verlassen. Weil ihre Region unbewohnbar geworden ist, durch fehlenden Regen, zu große Hitze, sie hatten keine Arbeit, keine Perspektive. Was, frage ich Sie in Deutschland und anderswo, hätten wir denn gemacht, stünden wir an ihrer Stelle? Wir müssen Migrationspolitik als gemeinsames europäisches Projekt begreifen, das es ist und das wir nur gemeinsam lösen können.

Wer die Debatten in Deutschland verfolgt über Migration, erkennt schnell, dass es gar nicht um Lösungen geht, um Menschen, sondern um Wahlkampf. So hat  Alexander Dobrindt, zugleich CSU-Landesgruppenchef, mit seinen Attacken auf die Ampel-Regierung in Berlin nur eines im Sinn: Stimmung gegen die Bundesregierung zu machen, die Bundesinnenministerin, die Grünen, die SPD. Denn es sind Landtagswahlen am 8. Oktober in Bayern und in Hessen, darum geht es. Lösungen oder auch nur Ansätze dazu sind dem Dobrindt ziemlich egal. In München will Markus Söder seine Koalition mit den Freien Wählern um Hubert Aiwanger fortsetzen, in Wiesbaden soll der Versuch der SPD und der Grünen scheitern, die CDU-geführte Landesregierung um Ministerpräsident Rhein abzulösen. Nancy Faeser, die SPD-Herausforderin, als Chefin des Innenressorts im Kabinett von Olaf Scholz ohnehin angeschlagen, bietet Dobrindt die ihm willkommene Angriffsfläche. Und wer weiß, ob die Ministerin im Falle einer deftigen Niederlage in Hessen in Berlin noch zu halten sein wird? Der SPD-Kanzler, nicht gerade überzeugend, könnte in eine Krise stolpern.

Polemisiert und schwadroniert

Also wird polemisiert, wird schwadroniert, wird die Angst vor angeblich nicht mehr zu meisternder Migration geschürt. Dass man damit exakt jene Kraft am äußersten rechten Rand, die rechtsradikale AfD, stärkt, wird in Kauf genommen. Hauptsache, die regierenden Akteure in Berlin werden geschwächt. Eine Lösung hat Herr Dobrindt nicht anzubieten, die hatte schon einer seiner Altvorderen, der frühere Bundesinnenminister und einstige CSU-Chef, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nicht. Auch er redete schon von Obergrenzen in Höhen von 200000, die man nicht überschreiten dürfe. Und es war Seehofer, der sich einst an seinem 69. Geburtstag fast feiern ließ, dass an seinem Ehrentag 69 Asylbewerber aus Afghanistan Richtung Kabul zurückgeflogen werden sollten. Ein tolles Geschenk. Der Mann war in jüngeren Jahren ein anerkannter Sozialpolitiker.

Europa versagt. Heißt der Titel eines Buches, das Prof. Gesine Schwan, eine anerkannte Sozialdemokratin, vor zwei Jahren geschrieben hat. Eine menschliche Flüchtlingspolitik sei möglich, ist auf dem Cover des Buches zu lesen. Wenn nur alle wollten! Frau Schwan nennt die praktizierte Flüchtlingspolitik „eine Schande“. An den Grenzen Europas strandeten Flüchtende,  wenige gelangten hinein, viele kämen ums Leben auf dem vermeintlichen Weg ins Glück. Doch die Staaten schauten weg und wiesen sich gegenseitig die Schuld zu. Der Aufstieg rechtspopulistischer Politik oder die Angst davor, dass sie stärker würde, seien oft die Motive.

„Es geht nicht ohne gemeinsame europäische Regeln“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich seines Besuches auf der Insel Sizilien. Dorthin, nach Syrakus, hatte ihn sein italienischer Amtskollege Sergio Mattarella eigeladen, es ist die Heimat des italienisches Staatspräsidenten. In Syrakus landen viele Flüchtlinge, wenn sie die kleine Mittelmeer-Insel Lampedusa wieder verlassen. Die Insel ist voll, überfüllt mit Geflüchteten, vergangene Woche sollen es über 5000 Menschen gewesen sein- am Tag. Die Behörden haben den Notstand ausgerufen. Steinmeier hatte vor seiner Reise nach Italien in einem Interview mit einer italienischen Zeitung gefordert, die Lasten müssten in Europa gerechter verteilt werden. Das ist zwar richtig, aber leichter gesagt denn getan. Das gilt auch für die Forderung, die europäischen Außengrenzen strenger zu überwachen. Das verbrecherische Geschäft der Schleuser müsse entschieden bekämpft werden. Auch das habe ich schon zigmal vernommen, aber passiert ist im Grunde wenig, viel zu wenig. Auch Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck fühlte sich vor Tagen berufen, sich in der Debatte zu Wort zu melden. Nur, mit solchen Forderungen allein werden die Zahlen der Geflüchteten nicht zurückgehen. Wir können auch weiter über eine Festung Europa reden, die Geflüchteten werden dennoch kommen. Oder wollen wir Mauern bauen, elektrisch geladene Zäune? Entlang der Küsten des Mittelmeers vielleicht? Wie sollen denn die Dublin-Regeln wieder aktiviert werden? Immer mehr Menschen, die in Italien registriert werden und in anderen EU-Staaten, suchen Zuflucht in Deutschland. Es ist wahr, dass jedes EU-Mitgliedsland für den Flüchtling verantwortlich ist, das dieser zuerst betritt. Nun weigert sich Italien, diese Flüchtlinge zurückzunehmen. Ähnliches passiert uns doch mit Geflüchteten aus afrikanischen Staaten, was zwar nichts zu tun hat mit EU-Dublin-Regeln, aber sich in der Praxis ähnlich auswirkt: die Staaten nehmen die Flüchtlinge, die bei uns landen, nicht zurück.

Geschäfte der Schleuser

Schleuser machen üble Geschäfte mit Geflüchteten, kassieren schnell mal 10000 Dollar. Geschäfte machen offensichtlich auch Potentaten wie Putin und Lukaschenko, die Flüchtlinge gezielt Richtung Deutschland lenken, um hier für instabile Verhältnisse zu sorgen. Die Bundespolizei hat viel zu tun. Forderungen werten lauter, die Grenzkontrollen zu verschärfen, um Putins „menschenverachtender hybrider Kriegsführung“ entgegen zu wirken.

Die Diskussion um Asylrecht und Geflüchtete, Grenzkontrollen, Sach-statt Geldleistungen, um Abschiebungen wird lauter, die Klagen deutscher Kommunen, sie seien am Limit und überfordert mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen, nehmen dramatisch zu. „Wir schaffen das nicht“, ist zu vernehmen, der Bund soll helfen. Aber wie? Mit Geld allein geht es nicht, es fehlt an Häusern, Wohnungen. Der Untergang des Abendlandes ist dennoch weit weg, allerdings beschwören rechte Kreise den drohenden Bevölkerungsaustausch, was viele andere Deutsche verunsichert, auch die in der Mitte der Gesellschaft. Angst macht sich breit, das ist zu spüren, auch wenn von einer Invasion nicht die Rede sein kann, aber die Gefahr wird an die Wand gemalt. Das Schicksal des Einzelnen, das uns beschäftigen müsste, weil der unsere Hilfe braucht, rückt in den Hintergrund.

Wir müssten uns mehr kümmern um Afrika, darauf weist auch Gesine Schwan hin, dass die Europäer in Serie einst afrikanische Länder ausgebeutet, ja geplündert hatten. Kolonien nannte der Westen das, was Frankreich, England, Belgien, die Niederlande und Deutschland-um nur die zu nennen- auf dem schwarzen Kontinent hatten und als ihr Eigentum ansahen, man nahm, was sich bot. Was aus den Bürgerinnen und Bürgern Afrikas wurde, interessierte höchstens am Rande. Und jetzt kommen ihre Nachfahren zu uns, unter Lebensgefahr, ohne Einladung, sie landen in Baracken, wenn sie Glück haben, sind erstmal ohne Job oder später als Billig-Arbeiter irgendwo. Wir suchen Facharbeiter, wollen sie uns aussuchen, oder? Wäre nicht Kooperation besser, für alle, für Afrikaner, für uns, für Marokko und Deutschland, um nur diesen Vergleich zu nennen? Wir aber reden über Abschottung, irgendwo las ich von Seeblockaden, als wären wir im Krieg. Wollten wir nicht die Ursachen der Flucht bekämpfen? Damit die Menschen zu Hause eine Perspektive bekämen?

Richtig ist, und das muss man CDU und CSU fast auf den Tisch knallen, dass wir endlich ein Zuwanderungsgesetz haben. Unter dem CDU-Kanzler Helmut Kohl durfte es so etwas nicht geben. Weil Deutschland ja kein Einwanderungsland war. Es gab zwar seit Jahrzehnten Ausländer, Gastarbeiter, aber keine Einwanderer. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte darüber gelacht werden. Ein Einwanderungsgesetz, das Integrations- und Bildungsangebote enthält. Darüber sollten wir reden, machen, Fakten schaffen statt über die AfD zu streiten, die doch ohnehin nichts zu bieten hat als zu zerstören. Was also soll die Debatte? Einwanderung ist da, sie nimmt zu, wir müssen die Geflüchteten integrieren, dass sie Deutsch lernen, ihre Kinder in die Kitas und in die Schulen gehen können, eine Ausbildung erfahren, damit sie später nicht arbeitslos sind. Wir brauchen sie als Facharbeiter, als Sanitäter, als Pflegekräfte, als Ärzte, Architekten, Lehrer, nicht nur ihre Fußballstars.

Migranten integrieren

Wenn wir Migranten integrieren, werden sie unsere Nachbarn, wie vor Hunderten von Jahren Polen die Nachbarn der Menschen im Ruhrgebiet wurden, was dauerte, ja. Aber dann erledigt sich das auch mit der Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus. Migranten sind nicht schuld an den Vorurteilen gegen sie, wie übrigens auch Juden nicht schuld sind am Antisemitismus, wie die SZ in einem lesenswerten Stück über die Probleme der Migration vor Tagen schrieb. Das Problem ist auch nicht die Migration, sondern die Angst davor, vor dem Unbekannten. Wenn wir das Problem lösen und Migranten hier integrieren, löst sich das mit der Angst von selbst. Weil sie dann unsere Kollegen sind, Nachbarn, Freunde.

Unsere offene Gesellschaft ist nicht in Gefahr, es sei denn, wir überlassen den Feinden der offenen Gesellschaft, den Feinden der sozialen Demokratie das Feld. Wer Rechte von Minderheiten einschränken will, zum Beispiel von Zuwanderern, will auch andere Freiheitsrechte reduzieren. Wir müssen aufpassen und nicht den Rechten auf den Leim gehen. Vergessen wir die Geschichte nicht, die deutsche Geschichte. Es waren die radikalen Rechten, die Nazis, die Deutschland und Teile Europas demoliert haben.

Migration hat es immer gegeben, die Vereinigten Staaten sind so entstanden, Völkerwanderungen haben weite Teile des heutigen Europas vor Jahrhunderten verändert. Das ist ein ewiger Prozess, der gelenkt werden muss. Im Sinne der Menschen, nicht gegen sie. Die radikalen Rechten sind die Rattenfänger, vergessen wir das nicht. Der Feind steht rechts, nicht im Süden, sein brandgefährliches Geschwätz löst nichts, es zerstört. Die Herausforderungen sind da, sie sind groß, aber sie sind zu meistern, wenn wir die Dinge gemeinsam in die Hand nehmen. Unsere Demokratie wurde uns nach 1945 geschenkt, die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Basis dieses Staates geschaffen. Ein erfolgreicheres Deutschland hat es in seiner Geschichte nie gegeben. Lassen wir nicht zu, dass die radikale Rechte das Werk vernichtet.

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