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Robert Walser: Geschwister Tanner

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
29. November 2025
Heilanstalt Waldau, Schweiz. Hier verbrauchte Robert Walser die Jahre von 1929-1933 .

Es ist Walsers (1878-1956) erster Roman, erschienen 1907; ihm sollten in kurzen Abständen „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909) folgen. Und bis zum Ende seines schriftstellerisch aktiven Lebens hinterläßt der Autor ein stattliches literarisches Werk, das leider zu wenig Beachtung gefunden hat. Robert Walser war und ist bis heute ein Verkannter unter den Größen der Literatur. Ich las die drei genannten Romane vor längerer Zeit, und es lohnt sich, sie später wiederzulesen. Man liest genauer und präziser, wenn es auf stilistische und thematische Feinheiten ankommt.

Im Roman über die Geschwister Tanner sind bereits Themen und Sujets enthalten, die in den genannte Folgewerken dann weiter entfaltet werden: Wie etwa das Dienen als Unterwerfung in Form eines Broterwerbs und die habituellen Voraussetzungen dafür;  Armut und Reichtum, Klassenunterschiede und Lebensverhältnisse im städtischen und ländlichen Raum u.a.m.

Die Hauptrolle spielt Simon, der Jüngste von insgesamt fünf  Geschwistern: Klaus, der Akademiker, nimmt sozial den höchsten Rang unter ihnen ein; Kaspar, der Künstler und Landschaftsmaler; Emil, auch künstlerisch veranlagt, landet als Gescheiterter im „Irrenhaus“; Hedwig, die Landschullehrerin; und Simon, der nach abgebrochener Lehre im Bankensektor eine Art Lotterleben führt, weshalb der auch als „moderner Taugenichts“ bezeichnet wird.

Doch auch wenn dieser durch häufigen Stellenwechsel aus den bürgerlich normalen Vorstellungen von Fleiß und Strebsamkeit buchstäblich herausfällt: „Ich habe nie etwas besessen, bin nie etwas gewesen, und werde trotz den Hoffnungen meiner Eltern nie etwas sein“, so verkörpert er gleichzeitig den Typus des Unangepassten, ja sogar einen des kritischen Wahrnehmens von Zumutungen in der Arbeitswelt, die zu denken geben. Simon betrachtet sein soziales Umfeld nahezu „marxistisch“, wenn er die Büroarbeit unter dem Gesichtspunkt von Entfremdung beurteilt: „Etwas Stolzes und Erhabenes ist dabei, aber auch etwas Unbegreifliches und beinahe Unmenschliches. Warum gehen nur all diese Leute … zu demselben Tor in dasselbe Gebäude hinein, um zu kritzeln, … zu rechnen und zu fuchteln, zu büffeln und naseschneuzen, zu bleistiftspitzen und Papier in den Händen herum tragen.“ Den Sinn dieser Arbeit so scharf zu hinterfragen, läßt erkennen, welchen Horizont der Autor Simon beimißt: nämlich wahrzunehmen, wie die geforderte Disziplin als internalisierte Tugend in den Menschen steckt und wie sinnlos die Büroarbeit ihm vorkommt. Das gilt auch dann, wenn er hinter diesem kritischen Urteil eine Rechtfertigung für seine rasche Kündigung gesucht hat.

Doch auch dahinter verbirgt sich wieder mehr als die Ausrede: „Ich bin recht froh, daß es ein Ende hat. Glaubt man vielleicht, daß man mir damit einen Schlag versetzt, daß man meinen Mut knickt. mich vernichtet, oder dergleichen? Im Gegenteil, man erhebt mich, man schmeichelt mir damit, man flößt mir wieder … einen Tropfen Hoffnung ein. Ich bin nicht dazu geschaffen, eine Schreib- und Rechenmaschine zu sein.“ Simon kämpft gegen die herrschenden Normen um seine Würde und seinen Stolz, bisweilen mit einer Portion von Überhebung, wie sich hier zeigt: „Ich stelle mir von jetzt an meine Zeugnisse aus. Ich will mich nur noch auf mich selbst berufen, wenn jemand nach meinen Zeugnissen fragt, das wird bei vernünftigen, klarblickenden Menschen den allerbesten Eindruck hervorrufen.“ Und dann eine wahrhaft philosophische Erkenntnis: „Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben … Eine Zukunft hat man nur, wenn man keine Gegenwart hat, und hat man eine Gegenwart, so vergißt man, an eine Zukunft überhaupt zu denken.“

Diese Zitate mögen verdeutlichen, dass Walser seine Figur Simon mit allen nur denkbaren Widersprüchen ausgestattet hat, etwa dahingehend, dass dieser Bursche zugleich faul und schlau ist; dass er im bürgerlichen Verständnis ein Versager ist, der aber zugleich geistig sie überragt, indem er die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu durchdringen versteht; er sieht die Ungleichheit und hat ein Herz für die Armen, auch wenn er selbst „objektiv“ sozial unten gelandet ist; er läßt sich nichts aufbürden, das gegen seine Wertvorstellungen, sein Verständnis vom Lebenssinn und die Wahrung seiner Würde verstößt etc.

Dass Simon auch ein guter Beobachter im sozialen Umfeld ist, soll am Thema: Wo und wie das Volk ißt, verdeutlicht werden. Er selbst ist ein Armer, der für das Essen nur wenig Geld übrig hat; also verschlägt es ihn in ein Lokal, wo es warme Mahlzeiten für die Bedürftigen gibt. Aber nicht nur zum Essen, sondern um zu beobachten, wie es dort zugeht. „Simon saß in einer Speisehalle, einem kleinen Raum, vollgestopft mit essenden Menschen. Hier pflegte allerhand Volk zu essen, das billig und schnell essen mußte.“ Er achtete besonders darauf, wie die Leute essen: „Alle schauten allen ins Gesicht während des Essens; kein Wort wurde gesprochen, nur hin und wieder ein leises und höfliches. Das war der sichtbare Segen des Volkswohls und der Mäßigkeit. Etwas Drolliges, etwas Einfaches, etwas Gedrücktes und wiederum etwas Befreites lag auf den armseligen Menschen in ihren Manieren, die bunt waren, wie die Farben eines Sommervogels.“

Kann man schöner und trefflicher über die Essgepflogenheiten des Volkes reden als mit diesem Vergleich? Und außerdem weiß Simon im Kontrast zu solchem Verhalten der Armen, wie es an bürgerlichen Tischen zugeht: hier wird sich statusgemäß vornehm unterhalten, selbstredend mit leiser Stimme und nicht über das Essen gesprochen, das eher wie selbstverständlich exklusiv eingenommen wird, sondern etwa über Erfolge und Gewinne im Wohlstand des Lebens.

Schließlich sei noch auf Simons zwischenzeitliche Beschäftigung als Diener bei einer Dame eingegangen, nachdem er monatelang zu Besuch bei seiner Schwester auf dem Lande war. Zurück in der Stadt, ist er auf Stellensuche. Die Dame erkundigt sich nach seiner bisherigen Tätigkeit, und Simon phantasiert ihr gegenüber vom inzwischen aufgebrauchtem Vermögen als Erbe der Eltern. „Ich habe das Geld nie geachtet, gnädige Frau! … Ich habe mein Leben bis jetzt vertändelt, weil ich es so wollte, da es mir immer ganz als wertlos erschien.“ Um die Stelle zu bekommen, stellt er sich als frei von eigenen Interessen zugunsten fremder vor: „In fremden Interessen würde ich aufgehen, es versteht sich von selber; denn wer keine eigenen Ziele hat, lebt eben für die Zwecke, Interessen und Absichten anderer.“ Wieder erweist sich Simon als ein Künstler im Verdrehen/Verkehren von Zweck und Mittel, Achtung und Verachtung, Pflicht und Neigung, Traum und Realität. Er bekommt die Stelle als Diener und ist sofort in der Lage, sich als Subjekt zu verleugnen; denn dies ist eine fundamentale Voraussetzung für das Dienen: die eigene Subjektlosigkeit zum Zweck der Unterwerfung unter fremden Willen, des bedingungslosen Gehorchens, der Erniedrigung durch unhinterfragte Pflichterfüllung. Und der sonst so renitente Simon verwandelt sich in den Diener wie „Jakob von Gunten“ oder „Der Gehülfe“, als hätte er wie ein Schauspieler diese Rolle schon immer gesucht. Er ist für jeden Tadel dankbar. „Einen Diener tadelt man nur in der Absicht, ihn zu belehren und zu erziehen, so wie man ihn haben will; denn ein Diener gehört einem, während man mit einem untergebenen Beamten, wenn die Feierabendstunde schlägt, menschlich weiter nichts mehr zu tun hat.“ Ein Diener verkauft sich demnach mit Haut und Haar, bald wie ein Sklave, jedoch im Fall von Simon nur unter der Bedingung, dass er einer Dame zu Diensten ist, „denn das ist natürlich, weil es niemals ehrverletzend sein kann“, während einem Mann/Herrn gegenüber das Empfinden „stolzer Gleichstellung“ obsiegt, d.h. es zu Ehrverletzungen von Mann zu Mann/unter Männern führen kann, selbst unter sozial ungleichen Stellungen zwischen ihnen. So jedenfalls steht es bei Walser geschrieben: das Geschlechterverhältnis als ungleiches übertrifft noch Klasse und Stand!

Da es mir vor allem auf die hier bisher behandelten Aspekte ankommt, verzichte ich darauf, den Roman weiter nachzuerzählen, was sowieso nicht mein Ansatz ist – zugunsten von Stil und formaler Anordnung. Hier nur soviel: Es werden alle vier Geschwister aus der Perspektive von Simon und ihrer selbst  in deren Eigenheiten vorgestellt, gerade auch, wie sie ihren Bruder sehen und beurteilen; es kommt bei Simon immer wieder zu Stellenwechseln und Arbeitslosigkeit, aber auch zur Begegnung mit einer Kurhaus-Leiterin, die mehr Verständnis für Simon als Mensch aufbringt als andere, ob als vorübergehende Arbeitgeber oder als nahe Verwandte.

Es ist in meinen Augen ein literarisches Werk von sozialem Tiefgang, für das ich werben möchte, es zu lesen oder wiederzulesen.

Bildquelle: Von Adolf Wölfli –  uploaded to de.wikipedia by w:de:User:Mutz, Gemeinfrei

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