Die US Army denkt Krieg neu. Was sich hinter dem Begriff „Multi-Domain Operations“ (MDO) verbirgt, ist nicht bloß ein weiteres Modernisierungsprogramm, sondern ein radikaler strategischer Paradigmenwechsel. Ziel ist nicht mehr, Konflikte zu begrenzen oder abzuschrecken – sondern sie zu dominieren. Und zwar schnell, global und notfalls im Alleingang. Das offizielle Ziel: Siegfähigkeit gegen gleichrangige Gegner wie Russland oder China.
Die neue US-Doktrin setzt auf „Entscheidungsdominanz“ – durch Informationsüberlegenheit, Technologieführerschaft und eine militärische Präsenz, die alle Räume umfasst: Land, Luft, See, Weltraum, Cyber, Elektrospektrum – und den Kopf des Gegners. Die US Army will jederzeit zuschlagen können, mit maximaler Wirkung und minimaler Reaktionszeit. Wer zuerst wirkt, gewinnt.
Ein Gefechtsfeld ohne Grenzen
MDO bedeutet: Alles ist vernetzt – Aufklärung, Zielauswahl, Angriff. Sensoren liefern Daten in Echtzeit. Künstliche Intelligenz analysiert sie. Algorithmen priorisieren Ziele. Und autonome Systeme setzen den Schlag um – auch ohne menschliches Zutun. Systeme wie FIRESTORM („Fused Integrated Real-time Sensor Tasking and Mission Optimization“) entscheiden und handeln in Sekundenbruchteilen. Die Schwelle zwischen Lagebild und Waffeneinsatz schrumpft – die Reaktionszeit wird zur Waffe.
Dabei geht es längst nicht mehr nur um Raketenreichweiten oder Truppenbewegungen. Entscheidend wird der Informationsraum: Wer Wahrnehmung steuert, Narrative prägt und Entscheidungsprozesse beeinflusst, gewinnt auch ohne Schusswechsel. Die US-Doktrin nennt das „Information Advantage“ – andere würden von psychologischer Kriegsführung sprechen. Die kognitive Front reicht bis ins eigene Land: Medien, Meinungsbildung, politische Kommunikation werden Teil der militärischen Strategie. Die Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit verschwimmt.
Globale Präsenz, strategische Umfassung
Fünf spezialisierte Einheiten – sogenannte Multi-Domain Task Forces – sollen die Umsetzung sichern. Ihre Stationierungsorte sind kein Zufall: Pazifik, Arktis, Nahost, Alaska – und Europa, konkret: Deutschland, wo die MDTF bereits stationiert ist. Ihre Schlagkraft basiert auf präzisen Langstreckenwaffen mit über 1.000 Kilometern Reichweite. Sie zielen auf gegnerische Führungszentren, Luftverteidigung und Logistik – tief im Hinterland. Ihr Auftrag: in den ersten Schlachten die Initiative gewinnen und den Gegner handlungsunfähig machen.
Das ist mehr als militärische Aufrüstung. Es ist die strategische Absage an jede Form defensiver Zurückhaltung. Die Übergänge von Frieden zu Krieg werden entgrenzt. Ständige Einsatzbereitschaft wird zur Norm. Wer nicht bereit ist, sofort zu wirken, riskiert, ausgeschaltet zu werden, bevor er überhaupt reagieren kann.
Europas sicherheitspolitische Schlüsselfrage
Die Risiken dieser Strategie sind evident – und dramatisch:
- Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit eines präventiven Erstschlags, weil jeder das Gefühl hat, schneller sein zu müssen.
- Sie etabliert eine Daueranspannung, in der militärisches Denken politische Entscheidungsprozesse ersetzt.
- Und sie droht, durch die gezielte Bespielung des Informationsraums demokratische Öffentlichkeit selbst zur Zielscheibe militärischer Logik zu machen.
In den USA wird das offen diskutiert. In Europa kaum. Dabei ist die Frage von größter Tragweite: Wollen wir unsere Sicherheit auf einem Konzept stützen, das auf Vorwärtsdominanz, Automatisierung und globale Eingriffsbereitschaft setzt – oder brauchen wir ein eigenes sicherheitspolitisches Leitbild, das Stabilisierung, Begrenzung und demokratische Kontrolle ins Zentrum rückt?
Der Zeitpunkt, darüber offen zu streiten, ist jetzt. Denn was heute als Fähigkeit geplant wird, kann morgen politische Realität sein. Wer sich nicht positioniert, wird Teil einer Strategie, die er nicht mitgestaltet hat.
Zum Autor: Arno Gottschalk (geboren 1956), Studium der Wirtschaftswissenschaften in Marburg und Bremen. Diplom-Volkswirt. Ab 1975 Aufbau und Leitung des Bereichs Finanzdienstleistungen bei der Verbraucherzentrale Bremen. Seit 2011 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft (Stadt und Land). Seit 2019 Sprecher der SPD-Fraktion für Haushalt und Finanzen. Mitglied des Fraktions- und Landesvorstands der SPD. Beschäftigt sich seit langem auch mit Fragen von Militär und Rüstung.
Bildquelle: Chandler Coats, US Army













