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Welche Lockdown-Maßnahmen wirken wirklich? Wie ein Startup versucht, woran die Regierung scheitert – Gastbeitrag von Jan Schoenmakers

Gastbeitrag Von Gastbeitrag
10. Mai 2021
Covid 19 - Daten - Symbolbild

Wieso darf ein Geschäftsführer im Blog der Republik darüber schreiben, was sein Unternehmen getan hat? In diesem Fall: Weil hier ein Datenanalyse-Startup mit 6 Mann etwas bewerkstelligt hat, das nach Aussage der Bundesregierung unmöglich ist – nämlich ermittelt, welche der Lockdown-Maßnahmen tatsächlich wirken und wie stark. Und das als Studie veröffentlicht, die Jeder überprüfen, verbessern, weiterentwickeln kann.

Wir sind dafür mit unserer stark begrenzten Personalkapazität ans Limit gegangen, weil wir die Studie auf eigene Veranlassung und mit eigenen Mitteln bestritten haben, parallel zum Kundengeschäft (der KI-gestützten Analyse von Markt- und Werbepotenzialen, also etwas völlig anders Gelagertem). Doch wir haben Ergebnisse erzielt. Was die Frage aufwirft: Wieso soll das dann RKI und Gesundheitsministerium nicht möglich sein, mit Zigtausenden hervorragend qualifizierten Mitarbeitern und Milliardenetats?

Wie dem auch sei: Wir sind der Ansicht, beweisen zu können, dass es auf Basis offizieller, frei verfügbarer Daten möglich ist, die Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen klar und differenziert zu beurteilen und so die Corona-Politik zugleich effektiver und effizienter zu steuern. Manches an dem, was wir dabei herausgefunden haben, stützt den bisherigen Kurs der Bundesregierung eindrucksvoll, anderes widerspricht ihm völlig.

Lassen Sie mich kompakt und (hoffentlich) verständlich durch die Studie und ihre Kernergebnisse führen.

Der „föderale Hickhack“ – ein Glücksfall für die Forschung

Das Ziel aller Lockdown-Maßnahmen ist es, das Verhalten der Bürger zu verändern, um damit Infektions- und Todesfallzahlen zu senken. Ob diese Rechnung aufgeht, lässt sich nicht mit den Mitteln der Virologie ermitteln, sondern nur mit sozialwissenschaftlicher Statistik. Statistik liefert dann gute Ergebnisse, wenn die Zahlenbasis hinreichend groß ist und darin ausreichend Varianz – einfach ausgedrückt: Bewegung – vorhanden ist.

Mit differenzierten RKI-Daten zu 1.753.611 Corona-Infektionen für das Gesamtjahr 2020 haben wir eine recht große Datenbasis. Bei der Varianz leistet uns der berühmte „föderale Flickenteppich“ wertvolle Schützenhilfe: Wären alle Maßnahmen überall gleichzeitig in Kraft getreten, wäre es praktisch unmöglich, ihre Effekte auseinanderzuhalten. Da aber 2020 in kaum einer Woche in zwei Bundesländern dasselbe galt und auch die in den Bund-Länder-Konferenzen beschlossene Maßnahmen weder gleichermaßen noch gleichzeitig umgesetzt wurden, haben wir auch eine ordentliche Varianz in den Daten. Einfach ausgedrückt: das „förderale Hickhack“ hat Deutschland quasi zum statistischen Reallabor gemacht.

Wir haben aus den zahllosen Verordnungen von Bund und Ländern im letzten Jahr ermittelt, welche Maßnahme wann, wo und in welcher Schärfe galt, und daraus eine Datenbank aufgebaut. Diese Daten haben wir mit den Infektions- und Todesfalldaten des RKI zusammengeführt. So konnten wir mit Mitteln der Inferenzstatistik (Korrelations- und Regressionsrechnung, Mediationsanalysen) untersuchen,  ob die Einführung, Verschärfung oder Lockerung einer Maßnahme einen signifikanten (also höchst wahrscheinlichen) Einfluss auf die Infektions- und/oder Todesfallzahlen in den Folgewochen hatte. Für beinahe alle untersuchten Maßnahmen gewannen wir so ein erstaunlich klares Bild – obwohl wir diese erste Untersuchung bewusst methodisch recht einfach angelegt, eigentlich erst an der Oberfläche gekratzt hatten.

Der Grund, sich diese Arbeit aufzuhalsen, war unser Selbstverständnis als Data Scientists: Zu hören, dass eine solche Untersuchung unmöglich sein soll, wenn man sie nach eigener Erfahrung für machbar hält, ist eine massive Provokation. Dass bereits mit einer explorativen Pilotstudie rund 40% der Varianz in den Todesfällen aufgeklärt werden konnte, hat uns selbst überrascht.

Wo die Regierung richtig lag – und wo sie womöglich fatal irrt

Betrachtet man die Daten rein beschreibend, erkennt man klar, dass Corona für Menschen unter 35 kaum eine Bedrohung ist, während es für Menschen über 60 häufig todernst wird. Der Fokus muss also darauf liegen, diese Altersgruppen zu schützen, so lange sie noch nicht durchgeimpft sind – und da weit über 90% aller Todesfälle mit Corona unter Senioren vorgefallen sind, konzentrieren sich auch unsere Analysen der Todesfälle primär auf sie.

Visualisierung der RKI-Daten zu COVID19-Fällen in Deutschland nach Altersgruppe und Kalenderwoche. Mortalitätsrate und Median: eigene Berechnung (eigene Darstellung)

Blickt man darauf, was nach 4 Wochen – so lange ist sowohl nach unseren statistischen Berechnungen als auch nach den klinischen Daten des RKI der Zeitraum zwischen Ansteckung und Tod – die Todesfälle unter Senioren am Meisten senkt, finden wir folgende „Top 5“:

Tabelle: Die 5 Maßnahmen mit den stärksten Effekten auf Todesfälle in den Hochrisiko-Altersgruppen.

Die ersten Punkte stützen die Priorisierung der bisherigen Corona-Politik: nicht-lebensnotwendige Geschäfte sowie die Gastronomie frühzeitig zu schließen und hier auch am Vorsichtigsten zu lockern ist mit Blick auf diese Daten weiterhin eine erfolgversprechende Strategie, um Leben zu retten.

Auch die Beschränkung privater Kontakte ist ein Erfolgsmodell – wobei unsere Analysen zeigen, dass es hierbei nur darauf ankommt, dass überhaupt ein halbwegs niedriges Limit gesetzt wird, während es keinen messbaren Unterschied zu machen scheint, ob man z.B. 5 Personen treffen darf oder nur 1. Hier kann die Politik offenbar etwas liberaler herangehen.

Hochkontrovers und ungeliebt, aber offenkundig wirkungsvoll zeigen sich Ausgangsbeschränkungen – lernt man aus den Daten von 2020, tat die Bundesregierung richtig daran, mit der „Bundesnotbremse“ in Hochinzidenzgebieten nun auch stärker auf dieses Mittel zu setzen.

Ein womöglich fataler Fehler der bisherigen Corona-Politik könnte indes in Kita- und Schulschließungen liegen. So zeigen Einschränkungen oder die komplette Schließung von Kitas, Grund- und weiterführenden Schulen einerseits keine belastbaren Effekte auf die Infektionszahlen in den Hochrisikogruppen. Andererseits gibt es – im Gegenteil – einen hoch signifikanten Zusammenhang zwischen weniger Betreuungskapazitäten an Kitas (und in geringerem Ausmaß Schulen)… und mehr Todesfällen unter Senioren nach 4 Wochen.

Wir haben diesen „Babysitter-Effekt“ mit verschiedenen Verfahren überprüft und ihn immer wieder gefunden. Wenn Kinder weniger in Kitas und Schulen betreut sind, scheint es mehr Begegnungen mit der Großelterngeneration zu geben – mit teils fatalen Folgen, selbst wenn Kinder nach klinischen Studien weniger ansteckend sind (es ist ja aber auch nicht gesagt, dass sich Opa beim Enkel ansteckt… wenn er im Haushalt babysittet, hat er auch mehr Risiko, sich bei seiner Tochter anzustecken). Vor diesem Hintergrund wirken die Einschränkungen und Schließungen an Schulen und Kitas nicht nur unverhältnismäßig, sondern erreichen teilweise sogar das Gegenteil von dem, was eigentlich bezweckt war.

Wir müssen genauer hinsehen – im Feld, nicht nur im Labor

Der „Babysitter-Effekt“ ist nicht das einzige Warnsignal, dass wir genauer hinsehen müssen, wie Maßnahmen wirklich im Feld wirken. Betrachtet man nur Zusammenhänge im Labor und rein mathematische Modelle ohne den Abgleich mit den realen Zahlen, droht an einigen Punkten eine deutliche Fehlsteuerung.

So zeigt in unseren Analysen die Maskenpflicht – so, wie sie 2020 umgesetzt war, also als Tragen irgendwelcher Alltagsmasken und zur Not eines Schals – bestürzend wenig Effekt. Nicht nur schafft sie es nirgends unter die Top 5, ihr Hebel zur Senkung von Infektionszahlen in der Gesamtbevölkerung liegt bei unter 2%, in den Hochrisikogruppen sogar noch einmal bedeutend weniger. Einerseits war es offenkundig ein Fehler, nicht früher auf FFP-Standards zu setzen, andererseits kann eine Maskenpflicht nur schützend wirken, wo Masken auch getragen werden – was zum Beispiel beim Essen im Restaurant unmöglich ist.

Deutlich stärkere Wirkung hat – zumindest in der statistischen Betrachtung – dagegen die vielgescholtene Corona-Warn-App entfaltet. Hier von einem „Game-Changer“ zu sprechen wäre stark überhöht, doch ihr Beitrag zur Vermeidung von Infektionen zeigt das große Potenzial, das in einer intelligenten Kontaktnachverfolgung und individuellen Risikobewertung liegt… und hierzulande erst zu einem sehr kleinen Teil ausgeschöpft wird.

Nicht zuletzt: Während die Schließung der Gastronomie einen großen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie liestet, führen geschlossene Hotels nicht zu weniger Infektionen – hingegen sogar zu leicht steigenden Todesfallzahlen, u.U. weil Übernachtungen dann stärker privat stattfinden, mit mehr Kontakt und weniger Hygiene. Dennoch wird einer ganzen Branche ein fortgesetztes (Quasi-)Berufsverbot erteilt.

Hier eine Übersicht der 5 wichtigsten Maßnahmen, um in der Gesamtbevölkerung Infektionszahlen zu senken:

Fazit: Es geht – man muss nur wollen. Lasst die Debatte beginnen!

Dass wir bei dieser Analyse etwas Sinnvolles herausfinden würden, davon waren wir aus unserer Erfahrung heraus überzeugt. Dass wir für die einzelnen Maßnahmen so klare Ergebnisse erhalten würden, hat unsere Erwartungen übertroffen.

Unseres Erachtens zeigt das umso drastischer, wie wenig die Bundesregierung, die Landesregierungen und die führenden Behörden – insbesondere das RKI – aus den Daten machen, die sie heute bereits zur Verfügung haben.

Sich ganz auf die Virologie und die Medizin zu verlassen, hat in der ersten Phase der Pandemie zu spektakulärem Erkenntnisgewinn und leistungsfähigen Impfstoffen in Rekordzeit geführt. Um mit Corona zu leben – und das ist ja nicht nur fürs Erste das Szenario, auf das wir uns einstellen müssen – ist es aber absolut unerlässlich, endlich auch mehr Augenmerk auf die Wirksamkeit der politischen (und eben nicht nur der medizinischen) Maßnahmen zu legen!

Unsere Studie ist dabei nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als eine Pionierleistung. Sie ist die erste ihrer Art, die differenziert die Situation in Deutschland untersucht. Sie darf nicht die letzte sein. Erst recht, weil wir wissen, dass man noch viel tiefer einsteigen kann – wenn man dafür die Kapazitäten und das Budget hat, wie es bei Forschungseinrichtungen oder politische Institutionen der Fall sein sollte (und das nicht wie wir auf eigene Kosten aus Engagement nebenher betreibt).

Werden unsere Ergebnisse im einen oder anderen Befund von folgenden Studien ergänzt oder widerlegt, ist das kein Rückschlag für uns, sondern ein Forschritt für den Umgang mit Corona in Deutschland. Inakzeptabel hingegen fände ich es, wenn es solche Folgestudien nicht gäbe, sondern die Politik trotz unserer Ergebnisse weiterhin in der allzu bequemen Behauptung verweilt, man könne leider nicht wissen, welche Maßnahmen wirken.

Über den Gastautor

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer des Big Data Startups HASE & IGEL, das 2020 einige Aufmerksamkeit erregte mit dem Beweis, dass Google Trends Daten, auf die sich die Wirtschaftsweisen beriefen, nicht valide waren. HASE & IGEL ist Schoenmakers‘ vierte Gründung. Der Sozialwissenschaftler, der lange in der Energiewirtschaft arbeitete, publiziert regelmäßig Beiträge in Zeitschriften, Journals und wissenschaftlichen Sammelbänden.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Dr StClaire, Pixabay License

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