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Ist der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar? Gastbeitrag von Gerhard Bäcker

Gastbeitrag Von Gastbeitrag
3. September 2025
Behördenstempel mit der Aufschrift "Sozialversicherung", AI generiert

Unbestritten ist, dass die Beitragssätze zu den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung im Jahr 2025 mit insgesamt rund 42 % ein hohes Niveau erreicht haben und in den letzten Jahren stark angestiegen sind. Das betrifft nicht die Rentenversicherung (GRV) und auch nicht die Arbeitslosenversicherung (ALV). Hier liegen die aktuellen Beitragssätze (18,6% und 2,6%) sogar niedriger als noch vor 20 Jahren (GRV: 19,5% und ALV: 6,5%). Aber in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kommt es zu einer kontinuierlichen Erhöhung: von 13,6 % im Jahr 2000 auf aktuell 17,5 % – verursacht durch die wachsenden Zusatzbeiträge. Und auch in der sozialen Pflegeversicherung ist die Aufwärtsentwicklung unverkennbar: 2000 noch 1,7% und 2025 schon 3.6%.

Ist diese Entwicklung mit Sorge zu bewerten? Ist der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, wie Bundeskanzler Merz sagt, „nicht mehr finanzierbar“?

Diese Ängste werden geschürt, wenn in der Debatte außer Acht gelassen wird, dass den Ausgaben ja Leistungen gegenüberstehen. Die Beitragseinnahmen in Milliardenhöhe versinken nicht in einem „schwarzen Loch“, sondern werden zweckgebunden eingesetzt, um den Sozialstaat mit all seinen Geld-, Sach- und Dienstleistungen zu finanzieren. Ein Sozialstaat, der für Wohlstand und Lebensqualität der gesamten Bevölkerung sorgt, kann kein „billiger“ Staat sein. Gesundheit in Form eines dichten Netzes von ambulanter und stationärer Versorgung kostet eben etwas und auch die Inanspruchnahme von medizinischem und pharmakologischem Fortschritt hat ihren Preis. Ohne die Beitragseinnahmen würde es die Geldleistungen (Renten, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, Pflegegeld) und die Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens (wie Hochleistungsmedizin, innovative Arzneimittel, Rehabilitation, stationäre und ambulante pflegerische Versorgung) nicht geben. Und wer will, dass ältere Menschen bei Pflegebedürftigkeit angemessen gepflegt und versorgt werden, muss einen ausreichenden Personalschlüssel sicherstellen und die Pflegekräfte anständig bezahlen. Dass dies teuer ist, sollte klar benannt werden.

Auch wenn steigenden Beitragssätzen ein Gegenwert gegenübersteht, so führen sie doch zu sinkenden Nettolöhnen. Das ist sicherlich nicht populär. Schaut man sich jedoch die Lohnentwicklung in den zurückliegenden Jahren an, dann sind infolge der Tariferhöhungen auch die Nettolöhne gestiegen und zwar unter Berücksichtigung der Preisentwicklung. Für die Arbeitgeber sind die (hälftig zu zahlenden) Beiträge ein Bestandteil der gesamten Arbeits- bzw. Personalkosten. Unstrittig ist, dass in einem Land mit einem insgesamt hohen Lebensstandard die Arbeitskosten hoch ausfallen. Aber die Arbeitskosten müssen ins Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität gesetzt werden. Und hier weist Deutschland eine nach wie vor hohe Wettbewerbsfähigkeit auf. Was die Exportwirtschaft derzeit ungleich stärker belastet sind die Zölle.

Forderungen nach Leistungskürzungen, privater Vorsorge, Selbstbeteiligung, Übergängen zur Privatversicherung machen die Runde. Übersehen wird dabei, dass solche Formen einer Privatisierung sozialer Sicherung keinesfalls „kostenlos“ sind. Belastet werden die privaten Haushalte, und zwar ohne Regelungen des Solidarausgleichs und ohne Beteiligung der Arbeitgeber. Insgesamt wird es dadurch sogar teurer, da die Verwaltungskosten bei den gewinnorientierten Privatversicherungen weitaus höher liegen als bei den Sozialversicherungsträgern.

Selbstverständlich müssen die Ausgaben in den Zweigen der Sozialversicherung immer wieder überprüft werden. Es geht um Reformen – aber nicht um die oberflächliche Klage, dass die Beiträge nicht mehr zu finanzieren seien. Das gilt für alle Versicherungszweige, insbesondere für die GKV. Fragt man hier nach den Ursachen der Ausgabenzuwächse, sind dafür nicht nur die allgemeinen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens, so vor allem die demografischen Trends und die hohe Personalintensität, verantwortlich. Von Bedeutung sind auch die anhaltenden Entscheidungen und Versäumnisse der Politik: Es fehlt an Strukturreformen, die endlich das schon seit Jahren bekannte Problem von Über-, Unter- und Fehlversorgung angehen: Die Ineffizienzen des Gesundheitssystems müssen überwunden, eine Verzahnung von ambulanter (kassenärztlicher) und stationärer Versorgung sichergestellt und die „Mondpreise“ bei neu zugelassenen Arzneimitteln begrenzt werden. Hinzu kommt, dass die GKV eine Reihe von versicherungsfremden, gesamtgesellschaftlichen Aufgaben übernimmt. Die unzureichenden Beitragszahlungen des Bundes für Bürgergeldempfänger*innen sind dafür aktuelle Beispiele. Der steuerfinanzierte Bundeszuschuss deckt die entstehenden Ausgaben bei Weitem nicht ab.

Und nicht länger akzeptabel ist das (in Europa einmalige) Nebeneinander von gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherung. Denn die Bezieher*innen hoher Einkommen werden durch die Wirkung der Beitragsbemessungsgrenze (BMG) begünstigt (2025 bei 5.512 Euro). Dies führt dazu, dass die überschießenden Monatseinkommen nicht mehr verbeitragt werden. Die Belastungen reduzieren sich deshalb umso stärker, je höher das Einkommen ausfällt. Versicherte mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze erhalten für sich und auch für die beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen das gesamte Leistungsangebot zu einem sinkenden Belastungssatz.

Erreicht das Einkommen die Höhe der Versicherungspflichtgrenze (2025: 6.150 Euro/Monat) steht den Beschäftigten außerdem die Option offen, in eine private Kranken- und Pflegeversicherung zu wechseln. Im Unterschied zur gesetzlichen Versicherung herrscht hier nicht das Solidarprinzip. Die Prämienhöhe hängt allein vom individuellen Gesundheitszustand ab und nicht vom Einkommen. Ein Wechsel erweist sich dann als finanziell vorteilhaft, wenn die Belastungen durch die private Kranken- und Pflegeversicherung niedriger ausfallen. Der Rückzug aus dem Solidarverbund lohnt sich für die sog. „guten Risiken“, das sind junge, gesunde und gut Verdienende.

 

Zum Autor: Gerhard Bäcker beschäftigt sich insbesondere mit den Grundlagen und Problemen des Sozialstaates, weitere Forschungsthemen sind der Arbeitsmarkt, Armut und Ausgrenzung und die Rolle älterer Arbeitnehmer. Bäcker war bis Anfang 2012 Professor für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen und von 2005 bis Mitte 2010 leitete er dort das Dekanat des Fachbereichs für Gesellschaftswissenschaften. Er war zugleich stellvertretender Geschäftsführer des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ). Seit März 2012 ist er pensioniert und ist als Senior Professor dem Institut Arbeit und Qualifikation angeschlossen. Außerdem ist er Senior Fellow der Hans-Böckler-Stiftung und Redakteur des Informationsdienstes Sozialpolitik-aktuell https://www.sozialpolitik-aktuell.de/sozialpolitik_aktuell_startseite.html

 

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