Nichtigkeiten bestimmen den Lauf der Geschichte, so scheint es oft. Im März 1930 zerbricht die „Große Koalition“ unter Hermann Müller (SPD) an einem Streit über 0,5 Beitragspunkte zur Arbeitslosenversicherung. Es ist das Ende der letzten demokratisch legitimierte Regierung der Weimarer Republik. Es folgt die Zeit der Präsidialkabinette und der Notstandsverordnungen. Woran könnte die schwarz-rote Koalition von 2025 scheitern? An ein oder zwei Prozentpunkten Reichensteuer, Rentenniveau oder Krankenkassenbeiträgen?
Ich sage voraus: Nichts davon wird der Grund für ihr Scheitern sein, genauso wenig, wie der Streit um die Arbeitslosenversicherung der Grund für das Scheitern der Großen Koalition von Weimar gewesen ist. Der wirkliche Grund, so Heinrich August Winkler, war der erbitterte „Klassenkampf im Kabinett“, den zuerst die rechtsliberale Industriepartei DVP provoziert, und der dann von der SPD, insbesondere von der SPD-Reichstagsfraktion, erwidert wird.
Geschichte wiederholt sich nicht – und doch kann man aus ihr lernen, wenn man politische Konstellationen zu verstehen lernt, also die Kalküle und Motive der Akteure, ihre Konflikte, Dilemmata und Versuchungen. Historische Ereignisse sind einmalig, politische Konstellationen nicht. Wenn ich die Geschichte der Regierung Müller studiere, entdecke ich vieles – zu vieles! – von dem wieder, was auch heute die innenpolitischen Krisen und Anspannungen befeuert.
Die Große Koalition von 1928
Um es konkret zu machen, müssen wir noch einmal an den Anfang der Großen Koalition von Weimar gehen, wo – wie so oft – ein guter Wille steht. Der Anspruch vom Juli 1928 klingt jedenfalls sehr stark nach März 2025: „Wir haben die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen, Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung, um in den Ferien davon vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik zu leisten“, beteuerte der Carl Severing (SPD), der künftige Reichsinnenminister nach der Bildung des Kabinetts.
Die SPD ist seit den Reichstagswahlen vom 2. Mai mit deutlichem Abstand stärkste Partei (29,8%). Aber es gibt weder eine Mehrheit für die Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) noch für eine Mitte-Rechts-Regierung. Auch angesichts der wachsenden außen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen soll eine neue Regierung auf eine breite parlamentarische Mehrheit gestellt werden: SPD, Zentrum, BVP, DDP plus rechtsliberaler Industriellenpartei DVP. Ihr gemäßigter Vorsitzender und erfahrene Außenminister Gustav Stresemann will eine Aussöhnung mit Frankreich und den sogenannten „Young-Plan“ zur Neuordnung und Minderung der Reparationen verhandeln. Letzteres wird ihm vor seinem Tod 1929 noch gelingen. Eine vierjährige Auszeit von Regierungskrisen gelingt der Koalition allerdings nicht.
Klassenkampf im Kabinett
Mit den ökonomischen und enormen finanzpolitischen Problemen nach 1928 werden die Differenzen zwischen DVP und SPD immer größer und die Konflikte immer schärfer. Die DVP will die Wirtschaftskrise dazu nutzen, um einen grundlegenden Kurswechsel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik erzwingen: Es geht ihr um nicht weniger als die Rückabwicklung vieler sozialer Errungenschaften seit 1920: progressive Besteuerung, Mitbestimmungsrechte, nicht zuletzt die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung.
Deren Finanzprobleme werden schließlich zum Sprengsatz für die Koalition. Ausgelegt für 800.000 Arbeitslose, bis Januar 1930 aber zuständig für drei Millionen, drohen ihre Defizite das Reich in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben. Die SPD verlangt eine Beitragserhöhung um 0,5 Prozentpunkte, eine Sonderabgabe für Beamte und einen Verzicht auf Leistungskürzungen. Die DVP lehnt das kategorisch ab und macht sich stattdessen ein Manifest des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) zu eigen („Aufstieg oder Niedergang!“), indem drastische Leistungs- und Haushaltskürzungen sowie Steuersenkungen gefordert werden. „Die Denkschrift des RDI“, so Winkler, „ließ sich als ultimative Warnung an die Adresse der Sozialdemokratie verstehen: Wenn das Kabinett Müller die Forderungen der Industrie erfüllte, mochte es im Amt bleiben, wenn nicht, musste eine andere Regierung an ihre Stelle treten. Da das Memorandum von der SPD praktisch die bedingungslose Unterwerfung verlangte, kam tatsächlich nur die zweite Lösung in Frage.“
Das Ende ist beschlossene Sache
Der Rechtsruck aller bürgerlichen Parteien zeigt sich im Dezember 1929 in Thüringen, wo sie den Nazi Wilhelm Frick als Polizei- und Innenminister akzeptieren.
Zu diesem Zeitpunkt – wahrscheinlich schon kurz nach dem Tod Stresemanns – haben sich führende DVP- und Zentrumspolitiker mit Hindenburg bereits auf die Bildung eines Präsidialkabinetts verständigt. Warum weiter Rücksicht auf die SPD nehmen, wenn man im Zweifel auch ohne Parlament alles durchsetzen kann, was man für richtig hält? Fraglich ist nur der Zeitpunkt. Die DVP will noch mit der SPD den im rechtsnationalen Spektrum verhassten „Young-Plan“ zur Neuordnung der Reparationen ratifizieren. Heinrich Brüning, bereits von Hindenburg und Kurt v. Schleicher als künftiger Kanzler auserkoren, kalkuliert ähnlich: Er will drastische Sozialkürzungen, aber er will auch, dass die SPD dafür Verantwortung übernehmen muss, „zumal er hinsichtlich der rapide ansteigenden Arbeitslosigkeit soziale Protestbewegungen befürchtete“, analysiert Hans Mommsen in seiner Geschichte der Weimarer Republik.
Im Streit um die Arbeitslosenversicherung legt der kommende Kanzler noch einen Kompromissvorschlag vor, der alle Streitfragen (Beitragserhöhungen? Sonderabgaben? Leistungskürzungen?) vertagt, aber im Grunde auf Letzteres hinausläuft. Die DVP stimmt aus „taktischen Erwägungen“ (Hans Mommsen) zu, die SPD-Fraktion – allen Warnungen ihrer Führung zum Trotz – nicht mehr. Zu groß ist die Furcht vor Protesten der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften. Am 27. März 1930 reichen Hermann Müller und die sozialdemokratischen Minister ihren Rücktritt ein.
Der Fehler der SPD
Hätte eine andere Entscheidung die Regierung gerettet? Wohl kaum. Im März 1930 haben Hindenburg und die Rechtsparteien ihr Ende längst beschlossen. Und trotzdem ist die Entscheidung der Fraktion ein Fehler. Die Mehrheit der Abgeordneten habe nicht verstanden, dass es nicht um Sozialpolitik, sondern „um republikanische Verantwortung“, gegangen sei, wird Carl Severing noch am gleichen Tag seinen Genossen vorhalten. Zu Recht. Die Fraktion macht es den Rechtsparteien unnötig einfach und gibt die Initiative aus der Hand. Eine Lektion für den Fall, dass die Union der gleichen Versuchung erliegt wie schon ihre Vorgänger.
Damit meine ich nicht die autoritäre, aber die rechte Versuchung.
Die rechte Versuchung heute
So wie das Zentrum von 1930 nicht mehr die Partei der Weimarer Koalition war, so ist die Union des Jahres 2025 nicht mehr die Partei Angela Merkels. Beachtliche Teile der Union wollen endlich die konservative und marktradikale Wende erzwingen, die sie für so notwendig erachten.
Deshalb reiten sie polemische Angriffe gegen den Sozialstaat und die Sozialdemokratie. Maximaler Druck soll aufgebaut werden: Die SPD möge sich fügen oder zur Seite gehen. Fügt sie sich, umso besser. Dann trägt sie die Hauptverantwortung für den Sozialabbau und den Klassenkampf oben. Der Wasserträger des Kapitals zu sein ist ohnehin der einzige Nutzen, den Teile der konservativ-liberalen Eliten der SPD noch zubilligen wollen.
Fügt sie sich nicht, wäre das die Entschuldigung und Rechtfertigung für andere parlamentarische Optionen: eine Minderheitsregierung. Die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik könnte man weiterhin mit der SPD gestalten, die Wirtschafts-, Sozial- und Migrationspolitik mit der AfD; das Beste aus beiden Welten. Warum also Kompromisse mit der SPD machen, diesem ewigen Klotz am Bein, wenn man die eigenen Ziele auch ohne sie erreichen kann?
Wahrscheinlich wären Verhandlungen mit den Rechtsradikalen zunächst auch gar nicht notwendig. Zu Beginn läsen sie der Union alle neoliberalen Wünsche von den Augen ab. Zum einen entspräche das ihren arbeitnehmerfeindlichen Überzeugungen, zum anderen ließe sich das demokratische Lager weiter spalten. Und gegen Zustimmung, so würde es im Regierungslager heißen, könne man sich ja auch nicht wehren.
Konservative Illusionen
Aber das ist alles nur eine Illusion. Die ersten Stimmen bekommt man von Faschisten immer umsonst. Mit jeder weiteren Abstimmung wächst die Abhängigkeit und es steigt der Preis: Beamtenstellen in Justiz und Polizei, irgendwann Ministerposten, das Aussetzen von EU-Regeln, die Schikanierung von NGOs, Kirchen und Gewerkschaften, Medienkontrolle. Und wer unter den Konservativen auf Unterstützung der Wirtschaft hofft, könnte sich schnell täuschen. Die Tech-Milliardäre in den USA mögen vor Trump das Knie beugen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie Vorbild für unsere Mittelständler sind, die wissen, was sie an Weltoffenheit und Sozialpartnerschaft haben. Schließlich gibt es auch eine christdemokratische Vereins- und Vorfeldkultur, die nicht widerstandslos hinnehmen wird, dass die CDU Schaden an ihrer demokratischen Seele nimmt.
Die SPD ist nicht erpressbar
Noch ist diese rechte Versuchung nicht mehr als eine strategische Option. Aber erste Anzeichen für ihr Austesten waren schon zu beobachten: Die gemeinsame Abstimmung mit der AfD, das Flirten mit rechtspopulistischen Portalen, die öffentliche Demütigung einer hochkompetenten und ehrbaren Verfassungsrechtlerin.
Sozialdemokraten kennen und erkennen diese Strategie. Wenn Konservative glauben, uns drohen zu können, dann irren sie fürchterlich. Die SPD ist nicht erpressbar. Entweder Marktradikalismus oder eine Regierung ohne SPD? Entweder Verantwortung für Sozialabbau oder Verantwortung für eine Machtbeteiligung der AfD? Wir werden diese Alternativen nicht akzeptieren. Wer diese Koalition sprengen will, muss dafür ganz alleine die Verantwortung übernehmen: vor seinen Wählern und vor seinen Mitgliedern.
Statt eines Klassenkampfes im Kabinett braucht es jetzt also einen Klassenkompromiss. Wer wirklich will, dass die schwarz-rote Koalition regiert und reformiert, muss dazu bereit sein. Ich kann mir vieles an Innovationen vorstellen: eine Rentenreform nach Schweizer oder norwegischem Vorbild, die Zusammenlegung von Zuständigkeiten in der Sozialpolitik, Besteuerung und Kontrolle von leistungslosem Einkommen. Was es aber mit der SPD ganz sicher nicht geben wird, sind Sozialreformen, die einseitig zu Lasten von Arbeitnehmern gehen. Den Fehler von 1930 werden wir nicht noch mal begehen. Die SPD steht zu ihrer republikanischen Verantwortung. Die Konservativen auch?
Zum Autor: Jochen Ott ist der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landtag NRW.
Der Text ist die Langfassung eines Gastbeitrags, der in der FAZ vom 11. September 2025 erschienen ist.













