„Zusammenfassung einer Veranstaltung der Johannes-Rau-Gesellschaft am 22. Oktober 2025 in Berlin unter dem Titel: Eigenständigkeit und Kooperationsfähigkeit in Spannung – Bedingungen des Wiederaufstiegs der sozialen Demokratie“
Reiner Hofmann, langjähriger DGB-Vorsitzender, der die Veranstaltung moderierte, wies zunächst auf seine Beziehungen zu Johannes Rau hin. Dessen hochschulpolitische Reformen mit einem Studium ohne Abitur an der von Rau gegründeten Gesamthochschule in Wuppertal hätten ihm persönlich eine akademische Ausbildung ermöglicht. Er sei Johannes Rau auch in dessen erstem politischen Amt als Oberbürgermeister von Wuppertal oftmals begegnet.
Hoffmann leitete das Podiumsgespräch mit einigen Stichworten zur gegenwärtigen Umbruchsituation ein. Dazu zählten nicht nur die „Zeitenwende“ nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sondern auch die Transformation der Gesellschaft hin zu einer ökologischen Kreislaufwirtschaft und das politische Erstarken von Rechtspopulisten und -nationalisten nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und auch in den USA. Die Frage sei, wie unter diesen Voraussetzungen ein Wiederaufstieg der sozialen Demokratie gelingen könne.
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Gesine Schwan, die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, die 2004 und 2009 zweimal vergeblich für das Amt der Bundespräsidentin kandidierte und das Amt der Präsidentin der 1991 gegründeten Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder innehatte und heute Präsidentin der Berlin Governance Plattform ist, nahm zum Ausgangspunkt ihres Beitrags, dass die „Demokratie unter Druck“ geraten sei.
Sie stellte zunächst die politisch kulturellen Voraussetzungen als Bedingung für alle Funktionen und Aufgaben der Demokratie in den Vordergrund. Die psychische Disposition der Bürgerinnen und Bürger – nämlich eigenständig zu sein und gleichzeitig kooperativ – seien die Grundbedingen für eine funktionierende Demokratie. Spannungen auszuhalten zwischen der Zugehörigkeit zu einer Partei und einer gleichzeitigen Regierungsbeteiligung sei die zentrale Herausforderung in der repräsentativen Demokratie und speziell in Koalitionsregierungen. Es wäre der falsche Weg, wenn – wie es vereinzelt gefordert werde – die CDU und die SPD in der Regierung „zusammenwachsen“ würden. Koalitionsregierungen hätten die politische Verpflichtung zu kooperieren und zuverlässig gemeinsame politische Schritte zu machen, aber gleichzeitig müssten die Parteien ihre Unabhängigkeit bewahren. Die Parteien müssten in einer Regierung zwar kooperieren, zum Erhalt der Demokratie sei jedoch unverzichtbar, dass sie miteinander auch konkurrierten und verschiedene Profile behielten. Wie dieses Spannungsverhältnis zwischen Partei und Regierung aktuell gestaltet werde könne, sei angesichts der Tatsache, dass beide Vorsitzende der SPD gleichzeitig zentrale Ämter in der Koalitionsregierung begleiteten und auf das Gelingen der Regierungsarbeit aus sein müssten, eine keineswegs triviale Aufgabe, die eine „notwendige und hohe Kunst“ verlange.
Zwischen SPD und CDU/CSU bestehe ein grundlegender Unterschied:
Die CDU/CSU seien konservative, auf Bewahrung zielende Parteien und traditionell dem Ziel verpflichtet, den Kanzler/die Kanzlerin zu wählen und zu unterstützen. Es gebe in diesen Parteien als einigende Idee vor allem, das Bestehende, insbesondere Sicherheit und Stabilität zu wahren.
Die SPD als linke Volkspartei sei dagegen auf Veränderung und Verbesserung der bestehenden Lebensverhältnisse aus und müsse dies programmatisch, strategisch und taktisch begründen. Dazu brauche die SPD kontroverse Diskussionen, um auch die Gesellschaft außerhalb der Partei zu überzeugen und damit solche Veränderungen mit Mehrheiten in den Parlamenten auch erreicht werden könnten. Die Partei müsse die „langen Linien“ ihrer Politik zeichnen, kontrovers diskutieren und deutlich machen, was sie ohne das Mitregieren machen würde. Die sozialdemokratischen Regierungsvertreter müssten jeweils den Vorteil begründen, den eine Regierungsbeteiligung trotz der notwendigen Kompromisse mit dem jeweiligen Koalitionspartner für das Gemeinwohl biete.
Als Partei und als Bundestagsfraktion dürfe die SPD die Regierungspolitik nicht einfach abnicken, sondern müsse auf die Entscheidungen Einfluss nehmen. Es gebe eine legitime Rollenverteilung zwischen den Regierungsmitgliedern der Partei, der SPD-Bundestagsfraktion und der Parteiorganisation.
Es sei bei allen gegenseitigen Abhängigkeiten sehr wichtig, die Unterscheidung zwischen Regierungskompromissen und der Grundorientierung der Partei erkennbar zu halten.
Wenn diese Unterscheidung nicht deutlich bleibe, könne die SPD – wie andere sozialdemokratische Parteien in Europa – bedeutungslos werden. Die SPD könne sich gedankliche Verschwommenheit nicht leisten.
Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien richte sich allerdings bei politischen Auseinandersetzungen oft nur danach, „wer gewinnt“. Doch das gehe am inhaltlichen Kern einer parlamentarischen Demokratie vorbei. Vielmehr müssten sich alle Parteien dieser Diskrepanzen bewusst sein und konstruktiv mit diesem Spannungsverhältnis umgehen.
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Jürgen Trittin, der ehemalige Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und frühere Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und danach zunächst einer der stellvertretenden Vorsitzenden und danach einer der Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Grünen, stellte am Anfang seines Statements fest, dass, wenn man darüber sprechen wolle, wie links der Mitte wieder eine Mehrheit organisiert werden könne, das wichtigste sei, sich „ehrlich zu machen“: Seit zwanzig Jahren gebe es eine rechte Mehrheit in Deutschland und diese wachse sogar. 2025 erhielten Parten rechts der Mitte, also CDU und AfD zusammen 54 % der Stimmen, die linke Mitte aus SPD, Grünen und der Línken sei nicht einmal auf 37%, inklusive des BSW auf 40 % der Wählenden gekommen. Das letzte Mal, dass es eine rechnerische Mehrheit links der Mitte gab, liege 20 Jahr zurück und eine politische Mehrheit gab es zuletzt 2002. Die Entwicklung nach rechts sei kein deutsches Phänomen; einen mitte- links Stehenden sozialdemokratischen Regierungschef gebe es mit Pedro Sánchez in Europa nur noch in Spanien, wenn man Mette Frederiksen in Dänemark zur linken Mitte zähle, seien es zwei. Inzwischen seien rassistische Parteien in Skandinavien und den Niederlanden von Konservativen an der Regierung beteiligt worden und Italien habe heute eine bekennende Faschistin als Regierungschefin. Viktor Orban baue in Ungarn Gesellschaft und Wirtschaft zu einer korrupten Autokratie um. Im EU-Parlament hätten die Mitte-Links-Parteien gerade mal noch ein Drittel der Sitze. In Japan sei eine Regierungschefin à la Margaret Thatcher an die Macht gekommen und in den USA erlebe man gerade, wie die Demokratie zu einer autoritären Autokratie umgebaut würde und dass mit Massendeportationen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, mit einer Bedrohung der Gewaltenteilung und auch der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu faschistischen Methoden gegriffen würden. Man solle aufhören von Rechtspopulismus zu reden. Das sei verharmlosend. Der Autoritarismus sei im Aufwind. Alle diese Entwicklungen beruhten auf Mehrheiten der Wählenden. Innerhalb der linken Mitte in Deutschland spielten heute SPD, Grüne und Línke hinsichtlich ihrer Wahlergebnisse etwa in der gleichen Liga. Die Herausforderung werde sein, wie aus diesem Konkurrenzkampf mit der Rechten eine Mehrheit links der Mitte wieder zu organisieren ist.
Der Verlust der „kulturellen Hegemonie“ habe nicht 2015 begonnen, als sich Angela Merkel und Sigmar Gabriel berechtigterweise weigerten, auf Flüchtlinge zu schießen. Die linke Mitte habe ihre Mehrheit mit der Finanzkrise 2008 verloren. Das Ende des Neoliberalismus führte nicht zu einem sozial gebändigten Kapitalismus, sondern zum libertären Liberalismus eines Peter Thiel oder Elon Musk. Am Ende des unregulierten Marktes stehe ein Monopol der ungeheuer Reichen, die den Staat verachten und ihn nur so lange unterstützten, solange es ihrer ist. Alle übrigen politischen Wettbewerber seien der „schöpferischen Zerstörung“, wie das Josef Schumpeter nannte, anheimgefallen.
Früher habe es in den Staaten des demokratischen Kapitalismus ein Aufstiegsversprechen gegeben, wonach es der künftigen Generation besser gehen soll. Das sei auch Grundlage der Bildungsreformen von Willy Brandt und des europäischen Sozialstaates gewesen. Dieser 60 Jahre geltende Gesellschaftsvertrag scheiterte, das Aufstiegsversprechen werde nicht länger geglaubt. Die Legitimität des Sozialstaats sei durch die Parole „Markt statt Staat“ untergraben worden und daran hätten Sozialdemokraten und Grüne durch ihre “Reformen“, wie etwa Hartz IV selbst mit beigetragen. Nicht mehr Teilhabe bestimme den Gerechtigkeitsbegriff, sondern
„gerecht ist, wenn es anderen schlechter geht als mir“.
Es finde ein „schäbiger“ Kulturkampf statt, in dem man sich gegen die wehrt, die den eigenen Status gefährden könnten. Das münde in eine Verklärung des Gestern und in einen Kampf gegen Migration, gegen Erneuerbare Energien und gegen Klimaschutz. Gegen Fake-News hülfen keine Fakten, denn „wie kann es falsch sein, wenn es genau das ist, was ich glaube?“
Die Verteidigung der Demokratie brauche eine andere Erzählung. Dazu gab Jürgen Trittin sieben Ratschläge:
- „Wir sind nicht die Guten“. Michelle Obamas Ratschlag „When they go low, we go high“, sei falsch gewesen, dieser Rat habe Trump nicht Wir müssten der (politischen) Rechten „auf den Füßen stehen“ und sie auch angreifen, wir dürften uns nicht zum Opfer machen lassen.
- „Wir predigen keine Moral“. Wertebasierte Politik müsse sich gegen andere Interessen durchsetzen. Sie dürfe nicht einen „Veggie-day“ ausrufen, wenn es darum gehe, gegen die Abholzung der Regenwälder oder gegen Massentierhaltung anzukämpfen. Man dürfe nicht Symbole setzen, sondern müsse Strukturen verändern.
- „Wir sind nicht strukturkonservativ“. Wir müssten aufhören so zu tun, als würden Strukturveränderungen nicht stattfinden. So liege die Zukunft Brandenburgs nicht in der Braunkohle, sondern in Erneuerbaren
- „Wir setzen auf den Vorteil“. Verzicht sei keine Sünde. Die Zukunft im Umland Berlins liege in erneuerbaren Energien, in Wärmepumpen, Windrädern, Solaranlagen und in Man solle das Schlechte nicht verteidigen.
- „Wir schweigen nicht zu den Kosten, sondern verteilen die Kosten gerecht“, wie etwa mit dem Klimageld, bei dem diejenigen mehr zahlen müssten, die mehr zur Klimakrise beitrügen. Das Einkommen aus Kapital wachse schneller als der allgemeine Wohlstand. Man müsse die Umverteilung beenden, zugunsten eines gerechteren Steuersystems, das nicht zulasten der Arbeitseinkommen, sondern auf Kosten einer der Vermögenssteuer für hohe Einkommen gehe, man brauche ein Erbe für alle.
- „Wir wollen regieren, um zu verändern. Wir stellen die Machtfrage mit “ Es sei nicht die Bestimmung der Linken zu opponieren.
- „Wir verteidigen die Demokratie“. Eine Mehrheit darf nicht das Recht brechen, sondern Faschisten müssten mithilfe des Rechts bekämpft Dazu gehöre auch ein AfD-Verbot. Faschisten bekämpfe man nicht, indem man ihnen hinterherrenne.
Zur Verteidigung der Demokratie gehöre aber auch, dass linke Parteien mit konservativen regieren. Die Erfahrung aus der Weimarer Zeit sei, dass man Antidemokraten keine Macht übertragen dürfe.
Eine Mehrheit erreiche die linke Mitte nur, wenn sie als gerechte machtpolitische Alternative angesehen wird. Trittins Definition von Gerechtigkeit laute: „Ökologie ist globale Gerechtigkeit für die heutige und für künftige Generationen.“ Ökologie sei unvereinbar mit ethnischer, nationaler oder sozialer Überlegenheit.
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Für den früheren Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE Dietmar Bartsch war es nicht einfach, nach den ausführlichen Eingangsreferaten von Gesine Schwan und Jürgen Trittin ergänzende Akzente zu setzen. Vielen der dabei angesprochenen Aspekten könne er nur zustimmen. Er stellte eingangs seiner Anmerkungen fest, dass es alle Parteien schwer hätten, ihren jeweiligen
„Laden zusammenzuhalten“. Die Ursache dafür sei, dass die Lösung der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Probleme schwieriger geworden sei. Man müsse akzeptieren lernen, dass in der konkreten Politik die jeweilige Partei, die Fraktion und die Beteiligung in einer Regierung unterschiedliche Rollen einnähmen. Das gelte auch für die Linke, wo sie in Regierungsverantwortung ist.
Für ihn als gebürtigen Ostdeutschen, sei ein Leitsatz des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau Richtlinie seiner Politik: „Ein Staat, der sich nicht zum Ziel setzte, Gerechtigkeit zu schaffen, wäre nichts anderes als eine gemeine Räuberbande“. Die Kernfrage sei allerdings, wie man Gerechtigkeit definiere. Das sei in einer Zeit nicht einfach, in der etwa Viktor Orban nicht von links, sondern von rechts unter Druck stehe. Der Neoliberalismus habe vorerst gesiegt. Der Grundgedanke, dass Freiheit und Solidarität zusammengehörten und keinen Gegensatz bildeten, sei abhandengekommen. Für ihn sei es nach wie vor eine ungeklärte Frage, wie Solidarität angesichts einer linken Mehrheit im Parlament nach der Wahl von 1998 an den Rand gedrängt werden konnte. Um wieder zu linken Mehrheiten zu kommen, bedürfe es der Unterstützung „der Enkel“. Das sei schwierig in einer Zeit, in der die nachfolgende Generation sehe, wie Kooperation vom Ellbogen verdrängt werde. Wie Johannes Rau sehe er eine bleibende Aufgabe der Politik Frieden und Gerechtigkeit anzustreben.
Wir stünden vor einer Phase großer Veränderungen und, um diese zu bewältigen, brauchten wir zielgerichtete Reformen. Die praktische Politik müsse sich dabei an der Solidarität orientieren, um eine soziale Demokratie zu bewahren. Was der politischen Linken über die sieben Vorschläge von Jürgen Trittin hinaus fehle, das sei „ein Projekt für die Menschen, die der
Politik nicht so nahestehen, eine Politik, die die Masse der Menschen erreiche.“ An einem solchen überzeugenden Projekt müsse die Linke arbeiten. Ein zentrales Anliegen sei dabei sicherlich, die Umverteilung von unten nach oben zu stoppen.
Dazu müsse die Politik beitragen. Das sei auch konkretes Handwerk, wenn man so wolle auch eine Kunst. Denn letztlich werde der Erfolg am Wahlabend in Zahlen gemessen.
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Reiner Hofmann, langjähriger DGB-Vorsitzender, wies auf die Pluralisierung der Interessenlagen in der Gesellschaft hin. Auch noch 2005 habe die linke Mitte nach der Bundestagswahl noch eine parlamentarische Mehrheit gehabt, man habe innerhalb der Linken gemeinsame Analysen, aber keine gemeinsamen Antworten gehabt. Vor allem stelle sich die Frage, wie wir es zulassen konnten, dass die AfD so stark wurde. Darüber müsse man diskutieren und dafür sollte man Lösungen finden.
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In ihrer Intervention wies Gesine Schwan darauf hin, dass der Neoliberalismus die meisten
Menschen nicht überzeugt habe. Es sei aber nicht einfach alternative Lösungen zu finden.
Die Parteien würden zu sehr den Machterhalt in den Mittelpunkt stellen, so dass nicht mehr deutlich würde, worüber diese stritten. So entstehe der Eindruck, die Parteien jenseits der AfD hätten die Interessen der normalen Menschen nicht mehr im Blick.
Jürgen Trittin warf ein, dass die Menschen sich oft an den Kopf fassten, warum bestimmte Entscheidungen sich so lange hinzögen.
Gesine Schwan wies weiter darauf hin, dass es oftmals auch an überzeugendem Engagement in der Politik fehle. Überdies fehlten Verfahren und Orte, wo man gegensätzliche Positionen miteinander konfrontieren, zusammenbringen und zu einer Verständigung führen könnte. Man müsse sich fragen, welche Möglichkeiten es gebe eine Verständigung zu finden und wie man die verschiedenen Interessen an einen Tisch bringen könnte. Dazu müsse man sich aber in einem geschützten Raum zusammensetzen. Die Menschen erreiche man am besten, wenn man an der kommunalen Basis anfangen würde.
Man müsse in der parlamentarischen Wirklichkeit z.B. sehen, dass die Kernbestimmung der CDU sei, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Die CDU habe kein Problem damit, in der Oppositionsrolle eine Fundamentalopposition zu betreiben. Man verspreche in der Opposition alles und habe auch kein Problem damit bewusst die Unwahrheit zu sagen (etwa, dass man über den Sozialhaushalt die Staatsfinanzen sanieren könne). Wenn Friedrich Merz aber an der Macht sei, würde CDU/CSU alles tun, um ihn als Führungsfigur zu unterstütze. Wenn von rechts polarisiert werde, müsse man von der linken Mitte dagegenhalten und dagegen mobilisieren und auch Konflikte eingehen. Die Menschen wüssten doch, dass es Zielkonflikte gebe.
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Jürgen Trittin warf ein, dass im Grunde die Eurokrise die AfD stark gemacht habe. SPD, Linke und Grüne würden keine Mehrheit für ein Parteiverbot der AfD erreichen. Die jüngsten Äußerungen vom Kanzler stärkten nur die AfD.
Entscheidend für eine Zukunft linker Politik sei, dass es ein Aufbruchsprojekt gebe.
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In der Diskussion mit dem Plenum verwies die frühere Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze auf die Rolle der „sozialen Medien“, sie spülten vor allem die Emotionen in der Bevölkerung nach oben. Die Frage sei wie man mit fortschrittlicher Politik in die neuen Medien hineinwirken könne. Die Partei Die Línke habe das ganz gut geschafft.
Man müsse auch die realen sozialen Bedingungen stärker in die politische Betrachtung einbeziehen. Immer mehr Menschen kämen unter Druck und es ginge ihnen schlechter. Ein Projekt, mit dem sich die Linke identifizieren könne, sei das Ziel einer gerechteren Gesellschaft.
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Der Historiker und Publizist Peter Brandt bemängelte die moralisierende Art der Auseinandersetzung mit der AfD – diese sei Teil des gesamteuropäischen und sogar globalen Phänomens des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Wenn, wie in Frankreich mit dem Rassemblement National und inzwischen in Deutschland mit der AfD, diese Formationen die Mehrheit der Arbeiterwähler gewönnen, dann helfe es nicht, das als „schäbige“ Reaktion auf gesellschaftliche Probleme zu kritisieren. Es sei nicht nur der Protest gegen eine als fremdartig und bedrohlich wahrgenommene „Wokeness“, sondern auch ein fehlgeleiteter sozialer Protest. Letzteres galt Anfang der 1930er Jahre auch für die NSDAP, die 1932 die mit Abstand stärkste Wählerpartei im Deutschen Reich wurde, aber dabei per Saldo nicht in die Wählerschaft von SPD und KPD (welche allerdings auf Kosten der SPD wuchs) einbrechen konnte. Dass heutzutage Protest vorwiegend Rechtsaußen artikuliert werde, sei kein Naturgesetz, sondern deute auf die – nicht zuletzt – kulturelle Entfremdung der linken und Mitte-Links-Parteien von dem „arbeitenden Volk in Stadt und Land“ hin, das die SPD 1921 im Görlitzer Programm als ihre soziale und politische Basis und Zielgruppe benannte („Volkspartei“ also schon damals, aber nicht als catch all party). Natürlich gehe es nicht allein um die heute minoritäre Industriearbeiterschaft, sondern um die überwältigende Mehrheit: die Arbeitnehmer (auch die erwerbslosen) und die kleinen Selbstständigen, die ganz normalen Leute, die neben dem Streben nach Gerechtigkeit auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft verspürten. Linke Aufbrüche seien nach wie vor möglich, wie u. a. die Kampagne von Bernie Sanders um die Präsidentschaft und die Ausrichtung der (in ihrer Mehrheit niemals sozialdemokratischen) seit Jahrzehnten als fester Teil des Establishments zutiefst neoliberal gepolten Demokratischen Partei der USA gezeigt habe.
Ob der in der Zwischenkriegszeit aussagekräftige Begriff des „Faschismus“ zum Verständnis gegenwärtiger Probleme wesentlich beitragen könne, sei zu bezweifeln: Sowohl was die Zielsetzungen als auch vor allem, was die Realisierungsmöglichkeiten betreffe.
Am Ende seines Diskussionsbeitrags wies Peter Brandt auf das in sämtlichen etablierten Parteien (zumindest) Deutschlands zu beobachtende Problem hin, dass politische Karrieren immer häufiger, startend mit einem studentischen Praktikum, fortgesetzt in einer Mitarbeiterstelle beim Abgeordneten zum eigenen Mandat führten, ohne dass jemals eine andere Berufserfahrung erworben worden sei.
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Das langjährige Mitglied des Deutschen Bundestag und die heutige Ehrenpräsidentin der Vereinigung Deutsch-Griechischen Gesellschaften, Sigrid Skarpelis-Sperk, ging auf Kommunikation über das Internet ein. Sie bemängelte, dass bei dem vom Bundeskabinett beschlossenen Leitbild für den digitalen Fortschritt, nämlich „Digital souveräne Gesellschaft“, „Innovative Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Forschung“ und
„Lernender, digitaler Staat“ ein wichtiger Bereich fehle, nämlich alle Bürgerinnen und Bürger – von den Altersgruppen bis hin zu allen Einkommensschichten – einzubeziehen. So sei etwa in Finnland das WLAN kostenfrei.
Die Menschen in Deutschland könnten die Digitalisierung nur nutzen, wenn sie damit souverän umgehen könnten. Sollte das nicht geschehen, so entfremdete sich der digitale Staat von großen Teilen der Gesellschaft. Damit drohe die Gefahr eines weiteren Vertrauensverlustes, der sich in Wahlenthaltung und im Ausfransen nach links und vor allem nach rechts ausdrücken werde. Für alle zugängliche öfentliche Dienstleistungen seien von zentraler Bedeutung für die Menschen in unserem Lande.
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Der frühere Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der SPD- Bundestagsfraktion, Minister für Arbeit und Soziales und Vizekanzler, Franz Müntefering, betonte, wir verhielten uns so, als hätten nur die Politiker das Sagen, wir fokussierten uns auf den Bundestag, aber man müsse vor allem mit den Menschen über Demokratie sprechen. Man müsse sich fragen, was wir tun könnten, damit man die Leute erreiche. Demokratie sei nicht nur der Bundestag, sondern sie müsse in der Gesellschaft verankert sein. Johannes Rau habe es vorgemacht, wie man mit den Menschen spricht. Demokratie funktioniere nur, wenn die Gesellschaft, wenn alle mitmachten.
Die SPD müsse verstehen, dass sie keine Arbeiterpartei mehr ist, sondern eine Volkspartei. Bedenklich sei auch die Fixierung auf Koalitionsverträge. Bei der ersten Koalition der SPD mit den Grünen im Bund habe man sich gerade mal auf 47 Punkte verständigt. Heute seien die Koalitionsverträge ganze Bücher und diese Vereinbarungen seien für alle Fragen bestimmend, damit sei der Bundestag in die Rolle eines Vollstreckers gedrängt. Das belaste die Demokratie, denn keine Wahlperiode sei jemals so gelaufen, wie man sich das vorher vorgestellt habe. Demokratie sei ein Zukunftsprojekt und man müsse früh mit den Menschen darüber sprechen, wie Lösungen für die Zukunft aussehen könnten. Dabei müsse man davon ausgehen, dass alle Menschen gleich viel wert sind und daraus müssten die politischen Konsequenzen gezogen werden, nämlich wie man das erreichen könne.
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Der Historiker und das frühere Mitglied des NRW-Landtags, der auch Schatzmeister der Johannes-Rau-Gesellschaft ist, Karsten Rudolph, wies auf drei Widersprüche hin, die sich nicht so leicht auflösen ließen. Erstens funktioniere eine inhaltliche Arbeitsteilung zwischen Regierungsmitgliedern und Partei heute nicht mehr. Die Gründe dafür seien vielfältig. Auch die beiden grünen Parteivorsitzenden hätten letztlich als Moderatoren der
Regierungsarbeit gedient. So habe etwa die frühere Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, Ricarda Lang, eingestanden, dass sie lange Zeit verteidigt habe, was sie eigentlich gar nicht wollte. Zweitens müssten politische Mehrheiten keineswegs mit dem Zeitgeist übereinstimmen. So habe die rot-grüne Regierung die neoliberale Hegemonie nicht brechen und die lange Merkel-Ära habe nicht zu einer Restauration konservativer Weltbilder geführt.
Drittens seien in den letzten Jahren die politischen Fronten oftmals weniger zwischen den Regierungsparteien als vielmehr zwischen Regierungsparteien und Bundesrat verlaufen, so dass sich die frühere Frontstellung zwischen „A- und B-Ländern“ oftmals auflöse.
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Gesine Schwan betonte, dass unsere Demokratie nicht nur eine Mehrheitsdemokratie sei, sondern die Demokratie werde auch durch Werte in der Verfassung bestimmt. Die SPD müsse sich fragen, welche Rolle sie in einer Koalitionsregierung zu spielen hat. Nur wenn die SPD sich selbst regeneriere, wenn sie neue Ideen in die Debatte einbringe, habe sie eine Chance. Die SPD müsse ihren besonderen Akzent auf der Arbeit haben, das seien aber nicht nur die Industriearbeitsplätze, sondern etwa auch die Pflegeberufe. Man müsse aufgreifen, dass Arbeit eben einen großen Teil des Lebens ausmache und dass es um die inhaltliche Gestaltung der Arbeit gehe.
Die SPD sei (auch) die an Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientierte Partei der Arbeit.
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Dietmar Bartsch bekräftigte, dass die „sozialen Medien“ zur Entpolitisierung beitrügen, aber die Diskussion darüber sei ein eigenes Thema.
Er wies auf die Unterschiedlichkeiten zwischen West- und Ostdeutschen hin, die sich auch in der eigenen Partei widerspiegelten. Das Beispiel der Grenzkontrollen zeige, dass die Konservativen mit den Gesetzen willkürlich umgehen. Die Grenzkontrollen seien falsch.
Dobrindt wolle damit der AfD das Wasser abgraben. Es sei nicht allen klar, dass die Rechtsaußenpartei der Gegner aller übrigen Parteien sei. Er gebe denjenigen Recht, die kritisierten, über die großen Linien entscheide nicht mehr der Bundestag, sondern der Koalitionsvertrag. Aufgabe einer Linken sei es ein Projekt zu finden, das mitreiße und die Massen ergreife. Etwas später fügte er noch hinzu, „machtpolitisch“ käme es eben auf Mehrheiten an.
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Jürgen Trittin machte noch einmal deutlich, dass es ohne „kulturelle Hegemonie“ auch keine Mehrheit der linken Mitte geben könne. Die Politik müsse stärker die vielfältigen Statusbedrohungen berücksichtigen, so würden etwa Migranten als Bedrohung für den eigenen Arbeitsplatz angesehen oder Männer fühlten sich von der Erwerbstätigkeit von Frauen bedroht. (Ohne dass dies ausgesprochen würde.)
Wir erlebten gerade, wie sich Geschichte wiederhole. Hitler hatte keine Mehrheit als er an die Macht gekommen sei, die Macht sei ihm von konservativer Seite übertragen worden. Die politische Rechte wolle – wie man in den USA beobachten könne – die Gewaltenteilung aufheben. Es gebe keinen Automatismus, dass wenn man das Richtige anstrebe, man auch die nötige Mehrheit dafür bekäme. Die Ampel sei nicht an einer falschen Politik gescheitert, sondern dass es untereinander kein Vertrauen mehr gab.
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Gesine Schwan verwies darauf, warum aus ihrer Sicht im Jahre 2005 die parlamentarische Mehrheit der Linken nicht zur Regierungsmehrheit genutzt wurde: Für die SPD-Führung sei die Linke damals ein Tabu gewesen und deswegen sei die SPD als Juniorpartner in eine große Koalition gegangen und damit sei ihre Partei von Vielen für politische Entscheidungen verantwortlich gemacht worden, die die SPD als Partei eigentlich gar nicht wollte.
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Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka, der das Thema dieser Veranstaltung der Johannes-Rau- Gesellschaft formuliert hat, relativierte die These, dass der Neoliberalismus in einen libertären Liberalismus übergegangen sei. Seit der Finanzkrise erlebten wir wieder eine Rückkehr zu mehr Staat, so habe der Staat die Banken, die von Insolvenz bedroht waren, geschützt. Die AfD nutze jetzt eine Überforderung des Staates bei der Lösung der vielfältigen Probleme. Es wäre deshalb gut, wenn die Politik sich selbst wieder auf das beschränken würde, was sie regeln könne.
Er sieht im Wesentlichen drei Themen, über die man offen debattieren müsse:
- Über die ökonomischen Konsequenzen des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine, vor allem auch im Hinblick auf die Teuerung der der Energie.
- Wir befänden uns in einer Situation, in der die Bevölkerung zu großen Teilen nicht mehr den USA folge.
- Angesichts von demografischem Wandel und von Millionen Menschen, die zugewandert seien, müsse man dringend darüber diskutieren, wie man mit der Rente und der Gesundheitsversorgung in Zukunft umgehen will.
In der Politik würde viel zu wenig über diese Veränderungen und die daraus folgenden Krisen offen diskutiert.
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Jürgen Trittin stellte heraus, dass die SPD und die Grünen viel zu sehr dem Mainstream hinterhergelaufen seien, z.B. der Behauptung, dass man gegen den Markt nichts machen könne. Trump zeige, dass man sehr wohl politisch gegen den Markt angehen könne. Mit dem derzeitigen Präsidenten in den USA werde der Staat für die Interessen der Reichen und der Libertären instrumentalisiert. Man müsse das „Projekt 2025“ der nationalistisch- konservativen Denkfabrik Heritage Foundation sehr ernst nehmen.
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Dietmar Bartsch beklagte, dass sich die Linke vielfach mit dem Status quo abgefunden habe. Dieses Abfinden habe Trump durchbrochen. Die AfD stütze sich bei ihrem Populismus darauf, dass viele Menschen sagten, es sei doch so, wie es deren Politiker sagen. Um diesen Populismus politisch zu bekämpfen, müsse die Rolle des Staates oder etwa auch die Wirkung des Steuersystems neu bedacht werden.
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Gesine Schwan gibt zu bedenken, dass die Konnotation von Reformen negativ geworden sei, weil damit nicht mehr Verbesserungen für breite Teile der Gesellschaft erzielt würden. Die SPD sei in der Formulierung ihrer politischen Zielsetzungen viel zu vorsichtig und kämpfe zu wenig für ihre eigentlichen Ziele. Sie riskiere deshalb, den Respekt vieler Menschen zu verlieren. Politik könne ohne das Eingehen von Risiken nicht erfolgreich sein.
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Christoph Zöpel verwies in seinem Schlusswort auf das Wahlprogramm der NRW SPD 1980, wonach die SPD „Gleichermaßen die Interessen der arbeitenden Menschen an sozialen Rechten und dem Abbau von Privilegien wie die Interessen aller Menschen, die geistige Freiheit in einer offenen Gesellschaft wollen“, vertreten solle. Als Arbeitende seien im Grunde alle Arbeitenden gemeint gewesen, nicht konzentriert auf Industriearbeiter. Heute seien die Arbeitsverhältnisse weit diferenzierter, darauf müsse die SPD sich argumentativ einstellen. Die SPD und die Linke müsse für alle Menschen da sein, die in unterschiedlichsten Funktionen tätig seien und am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollten. Der Arbeitsbegriff dürfe nicht zu eng gefasst werden, die SPD dürfe sich nicht darauf konzentrieren für Soziales zu kämpfen.
Christina Rau intervenierte und wies darauf hin, dass sich die SPD für ganz unterschiedliche soziale Gruppen geöfnet habe, so etwa für die Kirchen. Dafür sei Johannes Rau stets eingetreten. Zöpel bestätigte diese Auffassung und fügte hinzu, dass es keineswegs so gewesen sei, dass die Gewerkschaften von Anfang an auf der Seite von Johannes Rau gestanden hätten, sondern auf der Seite von Friedhelm Farthmann.
Abschließend bedankte er sich bei den Keynote Speakern und bei allen Teilnehmern für die offene Diskussion. Debatten, wie sie auf dieser Veranstaltung geführt worden seien, seien unbedingt notwendig. Die JRG, ihre mehrheitlich älteren Mitglieder sollten anstreben, mit jüngeren demokratisch und sozial Engagierten zu diskutieren.
Link zu der Rede von Jürgen Trittin: https://www.trittin.de/2025/10/24/ein-besseres-leben/
Link zur Johannes-Rau-Gesellschaft: https://www.johannesraugesellschaft.org/













