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ANNIE ERNAUX: DIE JAHRE

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
15. Oktober 2022
Erinnerungen

Vorbemerkung: Anlässlich der Verleihung des diesjährigen Literaturnobelpreises an Annie Ernaux veröffenlichen wir die Rezension über ihre Autobiografie von Petra Frerichs (erschienen im Blog der Republik am 25.08.2019) erneut.

Eine französische Lehrerin schreibt nach ihrer Pensionierung über ihr Leben, und dies in einer ungewöhnlichen Form, über die sie im Buch immer wieder reflektiert: Sie wollte keine übliche Autobiografie schreiben, erst recht keine Bekenntnisse ablegen, die Ich-Form war ihr zu eng, die Sie-Form als Außensicht zu distanziert. Herausgekommen ist eine Form ohne Ich, dafür steht das Man oder das Wir, also eine verallgemeinernde Sicht auf die beschriebenen Ereignisse, Begebenheiten, Emotionen, in der die Erfahrungen der Autorin ebenso aufgehoben sind wie die einer ganzen Generation, ihres Geschlechts und vielleicht auch eines bestimmten sozialen Herkunftsmilieus. Ernaux wollte im individuellen Gedächtnis das kollektive Gedächtnis aufbewahren und die objektive Geschichte mit Leben füllen. Entworfen werden Standbilder der Erinnerung im Lebensverlauf, im Fluss der Ereignisse und Jahre, geschrieben im imperfait, in einer fortschreitenden, absoluten Vergangenheit, die die Gegenwart verschlingt, bis hin zum letzten Bild eines Lebens.

Bemerkenswert ist, dass sich hier eine gestandene Linke und eine ebenso gestandene Feministin zu Wort meldet, in einer Zeit, in der in Frankreich zwei weitere Lebenserinnerungen erschienen sind: Pierre Bourdieu, auf den Ernaux sich mehrfach in ihrem Buch bezieht, hat kurz vor seinem Tod (2002) eine Anti-Autobiografie unter dem Titel Ein soziologischer Selbstversuch geschrieben, die posthum erschienen ist. Und Didier Eribon, ein Schüler Bourdieus,  schrieb seine viel beachtete Autobiografie Rückkehr nach Reims (2009), in der er den Bruch mit seinem proletarischen Herkunftsmilieu in der Provinz, seine Emanzipation als Homosexueller sowie seine soziologische Karriere in Paris thematisiert. Es gibt also Berührungs- und Bezugspunkte zwischen diesen drei Büchern, und welche Position Annie Ernaux mit ihrem Buch, das im französischen Original 2008 erschien, hierin einnimmt, soll nun näher betrachtet werden.

Fotografien spielen für die Erinnerungen bei Ernaux eine zentrale Rolle. Sie erscheinen im Buch nicht als Abbildungen, sondern werden eindringlich beschrieben und interpretiert. Sie sind als Standbilder für bestimmte Lebensabschnitte Marker und Merkposten, lösen Wahrnehmungen und Empfindungen aus, die über die Abbildung hinausgehen. Wie etwa ein Bild aus der Nachkriegszeit, das Erinnerungen an soziale Prägungen in ihrer Jugend auf dem Lande evoziert:

Außer den Erzählungen wurden uns noch andere Dinge überliefert, wie man sich bewegt, sich hinsetzt, lacht, wie man auf der Straße jemandem etwas zuruft, wie man ißt, wie man nach etwas greift, Erinnerungen, die in den ländlichen Gegenden Frankreichs und Europas von Körper zu Körper weitergegeben wurden. Dieses auf den Fotos unsichtbare Vermächtnis vereinte die Familienmitglieder, Leute aus der Nachbarschaft und alle, die angeblich so waren wie wir … Ein Repertoire aus Gewohnheiten, eine Summe von Handgriffen, geprägt von einer Kindheit auf dem Feld und einer Jugend in der Werkstatt, denen wiederum andere Kindheiten und Jugenden vorausgegangen waren.

Was hier als Überlieferung bezeichnet wird, ist als soziale Vererbung über Generationen hinweg aus soziologischer Sicht die Konstitution eines Habitus des ruralen Arme-Leute-Lebens der 1950er/60er Jahre, der für die Protagonistin später zur Quelle von sozialer Scham wird. Und zwar so lange, bis es ihr durch ihren Bildungsweg möglich wurde, Unterlegenheitsgefühle und Minderwertigkeitskomplexe qua neu erworbenem Selbstbewusstsein zu überwinden und abzulegen.

Ja, es war ihr möglich geworden, trotz ihrer einfachen Herkunft das Abitur zu machen und zu studieren. Dass sie sich damit aus dem angestammten Milieu entfernt und auch von diesem entfremdet, beschreibt Ernaux beispielhaft mit einer Szene aus dem Elternhaus, wo die Protagonistin vom Studienort zu Besuch gekommen ist. Neben der Tochter waren noch Bekannte zu Gast, und man saß länger am Esstisch zusammen. Die Schwierigkeit der Kommunikation und was sich dahinter verbarg, wird wie folgt geschildert:

Aus Höflichkeit den Gästen gegenüber, die uns für unser Studium bewunderten, und den Eltern zuliebe, die uns ein Taschengeld zahlten und von denen man die schmutzige Kleidung gewaschen, gebügelt und gefaltet zurück bekam, beteiligte man sich bereitwillig und ein wenig unbeholfen an den Gesprächen und hatte dabei das Gefühl, ein notwendiges Opfer zu bringen, schließlich hätte man in der Zeit auch Virginia Woolfs ‚Die Wellen‘ oder Jean Stoetzels ‚La Psychologie Sociale‘ lesen können. Unwillkürlich fiel einem auf, wie die Tischgäste die Teller mit Brot abwischten, wie sie den Kaffee in der Tasse kreisen ließen, wie sie ehrfürchtig über jemanden sprachen, der ‚ein hohes Tier‘ war, und mit einem Mal nahm man das Milieu von außen wahr, als geschlossene Welt, zu der man nicht mehr gehörte. Die Dinge, die uns beschäftigten, hatten nichts mit Krankheiten zu tun, nichts mit dem Anpflanzen von Gemüse bei zunehmendem Mond, nichts mit den Massenentlassungen der Fabrikarbeiter, nichts mit all den Themen, über die zu Hause gesprochen wurde. Deshalb erzählte man auch kaum etwas vom Studium oder von sich selbst und widersprach Eltern und Verwandten möglichst nicht, als hätte das Eingeständnis, dass man nicht sicher war, nach dem Studium tatsächlich eine Stelle an einer Schule zu finden, ihre Welt zum Einsturz gebracht, als wäre es eine Beleidigung und hätte sie an unseren Fähigkeiten zweifeln lassen.

Wer wie ich solche Szenen im eigenen Elternhaus erlebt hat, kann den großartigen Realismus Ernaux‘ ermessen, mit dem sie die zwei Welten beschreibt, die da entstanden sind und zwischen denen es außer in Form von Pflichten, Zwängen, Opfern, Rücksichtnahmen, Selbstverleugnung keine echten Verbindungen mehr gibt; schon nach kurzer Zeit divergieren die Interessen, die Themen, die Relevanzen, ja auch die Sprache, und man ist als aus dem Milieu Ausgebrochene mit dem Dilemma behaftet, sich irgendwie schuldig zu fühlen, zumindest ein schlechtes Gewissen zu haben, weil der Verdacht auf einen Verrat immer mitschwingt. Das Studium ermöglicht ja nicht nur  Wissenserwerb, Horizonterweiterung und Qualifizierung, sondern auch den Zugang zu neuen Lebensformen, alternativen Werten und die Erschließung neuer Perspektiven – mithin zu Emanzipation und Befreiung als Frau und als „von unten“ und aus der Provinz Kommende.

Mehr noch als ein Weg aus der Armut scheint ihr ein Studium das beste Werkzeug gegen die Verstrickungen einer bemitleidenswerten Weiblichkeit zu sein, gegen die Versuchung, sich in einem Mann zu verlieren, die sie kennt … und wofür sie sich jetzt schämt.

Noch vor der Studentenrevolte um 1968 hatte sie sich vorgenommen, nicht zu heiraten und keine Kinder zu bekommen, denn sie verband damit die traditionellen Rollenmuster und Abhängigkeiten, und sie konnte sich nicht vorstellen, all das mit einer akademischen Ausbildung und späteren Lehrtätigkeit in Einklang bringen zu können. Früh schon hegte sie das Ideal der freien Liebe.

Und doch tappt sie in die Falle: Sie verliebt sich, heiratet, und mit der ersten festen Stelle (des Mannes) nimmt die Verbürgerlichung des Lebensstils ihren Lauf. Aus dem freien Leben in der Studentenbude wird ein Eheleben in der Zweizimmerwohnung, aus dem Sperrmüll-Mobiliar und dem zusammengewürfelten kleinen Hausrat wird eine „ordentliche“ Einrichtung – mit all dem Krempel, den man früher nicht hatte, nicht brauchte und auch nicht wollte. Jetzt greifen die Normen der Eltern wieder, und sie erteilen wohlmeinende Ratschläge zur Optimierung all dessen, was sie ihrer Tochter vorgelebt hatten. Und dann kommt auch schon das erste von zwei Kindern.

Man fragt sich, was aus dem Elan und der Kraft geworden ist, die sie für die erfolgreiche Bewältigung ihres Bildungswegs aufgebracht hatte. Ernaux gibt Einblick in die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistin; noch geht es nur um die Unterscheidung von falschen und richtigen Gedanken:

Richtige Gedanken kommen ihr nur, wenn sie allein ist oder mit dem Kind spazieren geht. Richtige Gedanken sind für sie nicht das Sinnieren darüber, wie die Leute reden oder sich anziehen, über die Frage, ob die Bordsteinkanten zu hoch sind für den Kinderwagen, über das Verbot von Jean Genets Theaterstück ‚Die Wände‘ oder über den Vietnamkrieg, sondern Gedanken über sich selbst, über das, was sie hat und was sie ist, über ihr Leben. Diese Gedanken sind eine Vertiefung all der flüchtigen Gefühle, über die sie mit niemandem reden kann, all der Dinge, über die sie schreiben würde, wenn sie Zeit dazu hätte – aber sie hat ja nicht mal mehr Zeit zum Lesen.

Der Mai 1968 verschaffte ihr schließlich den nötigen Nährboden für ihre individuellen Bestrebungen nach Ausbruch aus der (selbstgeschaffenen) kleinfamiliären Enge und Unfreiheit. Sie, die schon früh Mitglied der Sozialistischen Partei geworden war, erlebte diese Protestbewegung der Studierenden und Intellektuellen als Politisierungsschub und Horizonterweiterung. Ein neues Wir-Gefühl überkam sie, wenn es heißt: Wir wollten die Gesellschaft verändern … Wir entdeckten nun plötzlich den Maoismus, den Trotzkismus und eine Fülle anderer Ideen und Theorien. Auch die Lebensverhältnisse und gesellschaftlichen Institutionen wurden zum Gegenstand der Kritik, der politischen Reflexion und als Norm und Normalität hinterfragt.

Nichts von dem, was man für normal gehalten hatte, war mehr selbstverständlich. Familie, Erziehung, Gefängnis, Arbeit, Urlaub, Wahnsinn, Werbung, die gesamte Wirklichkeit kam auf den Prüfstand … Die Gesellschaft hatte ihre Unschuld verloren. Ein Auto kaufen, eine Klassenarbeit benoten, ein Kind zur Welt bringen, alles produzierte Bedeutung. … Die Lesart der Welt war durch und durch politisch. Das wichtigste Wort war ‚Befreiung‘. 

Aus der Distanz betrachtet, sieht Ernaux diese Protestbewegung auch kritisch, etwa in Gestalt der Verpflichtung zu einer dezidierten Meinung zu allem und jedem oder der selbsternannten Sprachrohre für die unterdrückten sozialen Gruppen oder des nicht mehr hinterfragten Zwangs zum Hinterfragen. Jedoch überwiegen in ihrer Betrachtung eindeutig die positiven Wirkungen auf diejenigen, die mit den gesellschaftlichen und politischen Zuständen unzufrieden waren und diese verändern wollten, wie ihre Protagonistin. Und wie in Deutschland, so entwickelte sich auch in Frankreich (und anderswo in der westlichen Welt) die neue Frauenbewegung aus dem Studentenprotest heraus, die so manches anders wie anderes in Frage stellte als die männlichen Wortführer, so die Ungleichheit der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen, so den Machismus und das Patriarchat. Der Feminismus als gesellschaftliche Kritik aus einer anderen Warte reichte damals bis in die Provinz hinein und erfasste auch sie. Ihre Lektüre von feministischer  Literatur erschloss ihr zusätzlich zu einer linken Kritik eine patriarchatskritische.

Man blickte auf seine Geschichte als Frau und stellte fest, dass man nicht auf seine Kosten gekommen war, dass die sexuelle und kreative Freiheit den Männern vorbehalten war. Diese Erkenntnis bis auf die Ebene des eigenen Lebens herunterzubrechen, ging auch mit Verunsicherung und einer gewissen Hilflosigkeit einher:

Zu Hause geriet unsere Entschlossenheit ins Wanken, und man hatte Schuldgefühle. Man wußte nicht mehr, wie man das mit der Befreiung angehen sollte und im Grunde auch nicht, warum. Man redete sich ein, der eigene Mann sei weder Phallokrat noch Macho. Man war hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Diskursen – dem, der für die Gleichheit zwischen Mann und Frau kämpfte und das Patriarchat abschaffen wollte, und dem, für den alles Weibliche heilig war, die Monatsblutung, das Stillen und das Kochen von Gemüsesuppe. Zum ersten Mal stellte man sich das Leben als Marsch in Richtung Freiheit vor, und das veränderte alles. Ein typisches Frauengefühl war im Begriff zu verschwinden – das einer naturgegebenen Unterlegenheit.

Stellen wie diese machen das Buch so unerhört sympathisch – Ernaux wechselt mit Lust die Ebenen der Betrachtung, um auf manches Gedachte und Gefühlte mit leiser Ironie zu schauen, doch den Faden verliert sie so schnell nicht dabei. Und der kann als Entschlossenheit zum Aufbruch im Rahmen einer Biografie, die von Zickzackkursen und Brüchen gekennzeichnet ist, gelesen werden.

Eines der schönsten Zitate lautet: Der Konsum löste die Ideale von 1968 ab.

Das stimmte gesamtgesellschaftlich und bei ihr persönlich. Ihr Leben bewegte sich zwischen ihrem beruflichen Engagement, der Hausarbeit und den Kindern. Sie empfand ihren Lebensstil als etabliert, was nicht gerade das Gefühl der Zufriedenheit in ihr auslöste. Vielmehr kommen Zweifel auf, und die Sehnsucht nach einem anderen Leben beginnt sich zunächst leise, später mit aller Konsequenz, Bahn zu brechen. Sie beginnt, sich ein Leben jenseits der Ehe und ohne Familie vorzustellen.

Zweifel, eine Krise, sind auch immer Auslöser für Reflexion und Umdenken in der Rückschau, diesmal auf ihre Herkunft und das Studium, um sich einen Standpunkt und eine Orientierung nach vorne zu erringen: Die Erinnerung an die Universität erfüllt sie jetzt nicht mehr mit nostalgischer Sehnsucht. Mittlerweile sieht sie ihr Studium als die Zeit ihrer intellektuellen Verbürgerlichung, als Bruch mit ihrer Herkunft. Ihr Gedächtnis ist nicht mehr romantisch, sondern kritisch. Dieser Bruch mit dem Herkunftsmilieu war auch aus späterer Sicht notwendig, allein schon, um die soziale Scham zu überwinden; allerdings hat sie ihre Wurzeln nicht verleugnet, sondern sich kritisch damit auseinandergesetzt und politisch die soziale Ungleichheit der Klassen ebenso hinterfragt wie die nach Geschlecht. Dadurch, dass sie die Scham überwindet, wird die Zukunft wieder zu einem Handlungsfeld. Der Kampf für legale Abtreibungsmöglichkeiten und gegen soziale Ungleichheit

und der Versuch, zu verstehen, wie sie zu der Frau geworden ist, die sie heute ist, sind eins.

Bemerkenswert an dieser neu gewonnenen Sicht auf ihre Biografie ist, dass Ernaux ihre Protagonistin das Studium nunmehr als intellektuelle Verbürgerlichung ansehen und diesen Wechsel der Klasse nicht mehr nur als Befreiung romantisieren lässt. Das hängt einmal damit zusammen, dass sie gerade aufgrund dieses Studium und ihres politischen Engagements einen gesellschaftlichen Durchblick errungen hat, der ihr diese kritische Sicht auf das gesellschaftliche Ganze erst ermöglicht. Zum anderen ist es die in der Krise gewachsene Einsicht, dass ihre sogenannte Verbürgerlichung – wahrscheinlich nicht nur die intellektuelle, sondern auch eine des gesamten Lebensstils – ihr zwar zu mehr Wohlstand in materieller und kultureller Hinsicht verholfen hat, jedoch auch neue Fesseln anlegt, die sie dazu verleitet, ein Leben in vorgezeichneten Bahnen zu führen, wogegen sie doch immer gekämpft hatte. Und vielleicht sieht sie in dem Bruch mit der Herkunft inzwischen auch so etwas wie einen sozialen Verrat. Insgesamt scheint es ihr wie vielen, die aus ihrem Herkunftsmilieu durch Bildung ausgebrochen sind, zu gehen: die soziale Zugehörigkeit ist in Frage gestellt – man gehört nicht mehr der angestammten Klasse an und auch nicht der, in die man aufgestiegen ist.

Beim Gang durch die Jahre, zu dem man von Ernaux eingeladen wird, wird man an die wechselnden Präsidentschaften in Frankreich ebenso erinnert wie an den Algerienkrieg, die Kubakrise oder markante Punkte im Wandel der Lebensverhältnisse etwa durch technische Neuerungen. Sie versteht es, die Ebenen zu wechseln und geschickt zu kombinieren – ob es die Enttäuschung der Linken über Mitterand wegen dessen Austeritätspolitik ist oder über die neue Sozialhilfe für die Marginalisierten, die große Ähnlichkeit mit der deutschen Agenda 2010-Politik (Hartz IV) aufweist oder über die Erfolge von Le Pen, weil er doch nur ausspreche, was „die Franzosen“ dachten; all das steht immer wieder neben lebenspraktischen Umständen und Veränderungen wie etwa der Umzug von der Provinz in einen Vorort von Paris, das erworbene Eigenheim, das Erwachsenwerden der Kinder und der Rollentausch zwischen den Generationen oder der Einzug des Internet in den Alltag. Egal was sie thematisiert – es ist stets ein kritischer Blick auf gesellschaftliche Phänomene wie etwa das Überangebot von Waren und der Konsumrausch.

Niemand rebelliert gegen diese sanfte, glückliche Diktatur, man musste sich nur vor ihren Exzessen schützen und den Konsumenten, wie man das Individuum jetzt nannte, über ihre Gefahren aufklären. Für alle, auch für die illegalen Einwanderer, die in einem überfüllten Boot auf die spanische Küste zuhielten, hatte die Freiheit die Anmutung eines Einkaufszentrums oder eines Hypermarchés mit seinem erdrückenden Überangebot. Es war normal, dass Waren aus der ganzen Welt zu uns gelangten und frei zirkulierten, während man Menschen an den Grenzen zurückwies. Deshalb ließen sich manche in Lastwagen einsperren, wurden selbst zu einer – leblosen – Ware und erstickten, weil der Fahrer sie in der Junisonne auf einem Parkplatz in Dover stehen ließ.

Die Autorin kritisiert die aufgezogene Zeit der Dinge, alles ist immer aufs Neue neu, den Leuten werden unbegrenzten Möglichkeiten vorgegaukelt, alles leere Glücksversprechungen. Sie kritisiert die durch die Digitaltechnik aufgekommene Bilderflut und kommt zu dem Schluss, dass die Medien das Erinnern und Vergessen übernommen hätten. Die Herrschaft der Medien löscht die Erinnerungen: ein Zustand der gesellschaftlichen Amnesie ist die Folge.

Zum Schluss, wenn Ernaux über das Altern und das veränderte Zeitempfinden reflektiert, erfährt man fast beiläufig, dass sie sich nach ihrer Pensionierung von ihrem Mann getrennt und die Familie verlassen hat. Sie hat auch keine Probleme damit, einen erheblich jüngeren Geliebten zu haben, sondern scheint mit großer Selbstverständlichkeit diesen späten Lebensabschnitt so anzugehen, wie sie das für richtig hält. Eine Frau, die sich nicht so alt fühlt, wie sie wirklich ist, und die genau weiß, dass dies eine Selbsttäuschung ist. Die bei allen Widersprüchen und Brüchen mit erstaunlicher Konsequenz ihre Befreiung oder Emanzipation gelebt hat und anderen, gerade auch jüngeren Frauen, ein Vorbild sein kann. Die sich ihrer Herkunft bewusst ist, ohne sie zu verleugnen (hierin liegt ein großer Unterschied zur Autobiografie von Didier Eribon), gerade weil sie ihre Bildung auch als politisch-kritische  Haltung im Sinne des gesellschaftlichen Durchblicks genutzt und eingesetzt hat. Ja, eine, die den Zusammenhang von sozialer und geschlechtlicher Ungleichheit begriffen und dagegen angekämpft hat.

Annie Ernaux: Die Jahre. Suhrkamp 2019

Bildquelle: Pixabay, Bild von congerdesign, Pixabay  License

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