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Armes reiches Deutschland – Merz: wir leben über unsere Verhältnisse

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
2. September 2025
Merz trinkt aus einer goldenen Weinkanne

Screenshot WDR

„Wir leben über unsere Verhältnisse“, hat  Bundeskanzler Friedrich Merz(CDUI) gerade wieder mal beim CDU-Parteitag NRW in Münster gesagt. Wen meint der Kanzler? Sich selber? Lebt er über seine Verhältnisse? Dann sollte er das mit seinen Privatmaschinen überdenken oder vielleicht seinen zweiten Wohnsitz am feinen Tegernsee vermieten. Dieser Sarkasmus ist Absicht, ich weiß natürlich, dass der CDU-Chef uns alle meint, den Staat, die gesamte Bevölkerung, aber mich stört diese Debatte schon lange. Wir leben über unsere Verhältnisse, um dann mit scharfen Einschnitten beim Bürgergeld zu drohen  und dem Herbst der Reformen, also Kürzungen bei Rente, Pflege und so weiter zu reden. Glauben Sie wirklich Herr Merz, dass diese armen Menschen, deren staatliche Fürsorgeleistungen sie kürzen wollen, über ihre Verhältnisse leben? Dass die Bettler in den Straßen- in der gewiss nicht armen Stadt Bonn sehe ich jeden Tag Dutzende- über ihre Verhältnisse leben?

Zur Wahrheit gehört doch vor allem auch dies: Das reichste Prozent der Deutschen besitzt mehr Geld als 90 Prozent der Bevölkerung zusammen. Um einen weiteren Begriff hier einzuflechten: Soll das gerecht sein, diese Verteilung des Vermögens? Und bitte kommen Sie mir nicht mit diesen billigen Argumenten, dass viele Geld der Reichen stecke doch in den Maschinen, in ihren Betrieben, und sei nicht einfach abrufbar, um es zu verteilen. Und weiter geht das alte Märchen: Das Geld stecke in Aktien, in Gemälden, in Immobilien. Ja, ich weiß, Geld stinkt nicht, deshalb ist es auch völlig in Ordnung, Aktien bei Rheinmetall zu erwerben, einer Rüstungsfirma, deren Aktien durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine gefragt sind wie nie. Wer da eine Nase hatte und rechtzeitig einen Teil seines Geldes anlegte, hat massig verdient. Aber es sei ihm gegönnt, ist ja auch mit Risiko verbunden.

Vorwärts Millionäre

„Vorwärts Millionäre“, begann ein Lied, das Redakteure einer Regionalzeitung in den 50er Jahren anlässlich einer Weihnachtsfeier sangen, um auf ihre klägliche Bezahlung hinzuweisen. „Vorwärts Millionäre, Euer Reichtum soll Sinn unserer Arbeit sein.“ Dazu passte, dass ein Kollege damals humpelnd auf die Bühne trat und auf die Frage, was ihm passiert sei, antwortete: „Mir ist das Weihnachtsgeld auf den Fuß gefallen.“ 

Armes reiches Deutschland. Der SZ-Journalist Alexander Hagelüken hat vor ein paar Monaten ein Wahlkampf-Buch geschrieben. Titel: Das gespaltene Land. Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört- und was die Politik ändern muss. Das Buch sollte jeder lesen. Deutschland ist immer noch ein reiches Land, keine Frage. Und die Jammer-Debatte über diesen Staat, in dem so vieles nicht funktioniert, wird oft von denen geführt, denen es gut geht. Wie es mal ein Zeitgenosse formulierte: Wer fordert, wir müssten den Gürtel enger schnallen, trägt oft den Bauch darüber. 

Hagelüken vergleicht Starnberg mit Pirmasens, eine der reichsten Gemeinden am Starnberger See mit der ärmsten Stadt Pirmasens. In Starnberg werden Anwesen schon mal für bis zu 8,4 Millionen Euro angeboten, jeder Einwohner dort kann statistisch doppelt so viel ausgeben wie der Durchschnittsdeutsche. Anders die Lage in Pirmasens in Rheinland-Pfalz, wo auf jeden Einwohner im Durchschnitt 8000 Euro Kredite allein für laufende Verwaltungsausgaben(so genannte Kassenkredite) kommen. Der örtliche Pfarrer, 35 Jahre im Amt, wird mit den Worten zitiert: „Hier sind alle Probleme der deutschen Gesellschaft zu sehen, nur vergrößert.“ Und wie sagte doch gerade noch CDU-Chef Merz, der selber als Millionäre gilt: „Wir leben über unsere Verhältnisse.“ 

Merz will Einschnitte in die sozialen Systeme, also beim Bürgergeld, bei Rente, Pflege und so weiter. Bärbel Bas, die aus Duisburg stammende SPD-Chefin und Bundesministerin für Arbeit, die weiß um die sozialen Sorgen der Menschen im Ruhrgebiet,  hat diese Debatte als „Bullshit“ bezeichnet. Die Zeitung, hinter der doch immer ein kluger Kopf steht, die FAZ empörte sich über die Fäkal-Sprache. Es darf gelacht werden, zumal Bas sich vorweg für die Wortwahl beim Juso-Kongress entschuldigt hatte. Dabei trifft der Begriff die Debatte über unser Sozialsystem und darüber, dass wir ja über unsere Verhältnisse leben. Ich zitiere noch einmal den SZ-Wirtschafts-Redakteur, der dieses Buch über das gespaltene Land geschrieben hat. In Starnberg werden die Männer im Schnitt über 80 Jahre alt, in Pirmasens nur 72. Und wenn die Pirmasenser von Sozialleistungen leben, werden sie nur 60 Jahre alt im Schnitt. Gespaltenes Land? Ja doch, Hagelüken hat Recht. Wer reich ist, ist gesund, wer arm ist, wird schneller krank. Kein Vorurteil, sondern Realität. 

Die Stadt Pirmasens war früher, als sie noch eine florierende Schuh-Industrie hatte, eine reiche Gemeinde, in der die meisten Millionäre im Land lebten. Aber dann verloren 90 Prozent der unausgebildeten Arbeitskräfte ihren Job, weil die Produktion ins billigere Ausland verlegt wurde. Aus der Mittelschicht der Stadt Pirmasens wurden arme Leute. Was ist los in unserem Land? Es bröckelt, hat Hagelüken betont, weil nur die vom System profitieren, die schon genug haben, während die Mittelschicht, die früher das Land dominierte, schwindet. Es entwickelt sich eine gesellschaftliche Ungleichheit auf Kosten des Wachstums.

40000 Super-Reiche

40000 Super-Reichen gehört ein Fünftel des gesamten Volks-Vermögens. 40 Millionen Deutschen gehört fast nichts, sie haben Schulden. Ein Problem, auf das der Kölner Armuts-Forscher Prof. Butterwegge seit Jahren hinweist und Korrekturen fordert. Alters-Armut, sozialer Abstieg, politische Radikalisierung bei Wahlen ist die Folge. Der Aufstieg der AfD kann  hier besichtigt werden. Sie brauchen gar kein Konzept, sondern nur auf diese Entwicklung zu zeigen. Die Wut und Enttäuschung von Millionen Bürgerinnen und Bürgern entlädt sich dann in den Wahlurnen.

Wir leben über unsere Verhältnisse. Von wegen, Herr Merz. Machen Sie ihre Hausaufgaben, sorgen Sie für eine Politik, die umsteuert, damit unser Land gerechter wird. Für Umverteilung über eine Steuerpolitik, die zweckfreie Vergünstigungen abbaut, die Vermögen besteuert, Normalverdienern mehr Netto gewährt, die Schlupflöcher schließt, die in Bildung investiert. Die Ungleichheit reduziert, wie das Hagelüken gefordert hat. Und lassen Sie diese Debatten über den angeblichen Totalverweigerer, den es im Einzelfall gibt, was aber nicht für die Mehrheit zutrifft, die eben nicht faul ist und nur noch abkassiert. Auf die Ärmsten der Armen drauf zu hauen, das ist keine soziale Politik, das ist Kapitalismus. Und die Debatte ist Bullshit, wie Bärbel Bas gesagt hat. „Wir müssen“, hat sie weiter gesagt, „die Menschen, die keine Arbeit haben, in Arbeit bringen“. Dazu brauche es wirtschaftliche Dynamik, aber nicht diesen Zungenschlag: „Dass die Wirtschaft nicht läuft, weil die Sozialsysteme zu teuer sind.“

Wir sollten die Debatte ideologiefrei führen. Es gibt, so Bundesfinanzminister und SPD-Chef Lars Klingbeil, ein Loch von 30 Milliarden Euro im Haushalt. Man kann an Sozialleistungen ran und dem, der sich dem Arbeitsmarkt verweigert, die Leistungen kürzen oder streichen. Das füllt zwar das 30-Milliarden-Euro-Loch nicht, wäre aber ein Signal an die, die täglich in der Früh zur Arbeit gehen und erst am Abend müde nach Hause kommen: Hier wird niemandem etwas geschenkt. Aber zu einem solchen Kompromiss gehörte das Entgegenkommen des Herrn Merz: Die starken Schultern müssen stärker belastet werden. 

Die CDU hat die Wahl damals klar gewonnen, ihre Fraktion mit der CSU zusammen ist zahlenmäßig viel größer als die der SPD. Ohne die SPD aber haben Sie keine Mehrheit, Herr Merz, auch nicht, um die Sozialleistungen zu kappen. Wenn Sie Reformen wollen für dieses Land, brauchen Sie die SPD, deren Vorsitzender Klingbeil weiß, dass er allein nichts ausrichten kann. Ohne Kompromiss, in dem sich alle drei Volksparteien wiederfinden und den sie draußen in der Öffentlichkeit mittragen müssen, wird das nichts. Wie sagte Merz doch kürzlich: wir müssen mehr miteinander und nicht übereinander reden.  

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Comments 1

  1. ich says:
    2 Monaten ago

    Die CDU hat die Wahl damals klar gewonnen, ihre Fraktion mit der CSU zusammen ist zahlenmäßig viel größer als die der SPD. Ohne die SPD aber haben Sie keine Mehrheit, Herr Merz, auch nicht, um die Sozialleistungen zu kappen. Wenn Sie Reformen wollen für dieses Land, brauchen Sie die SPD, deren Vorsitzender Klingbeil weiß, dass er allein nichts ausrichten kann. Ohne Kompromiss, in dem sich alle drei Volksparteien wiederfinden und den sie draußen in der Öffentlichkeit mittragen müssen, wird das nichts. Wie sagte Merz doch kürzlich: wir müssen mehr miteinander und nicht übereinander reden.

    Fake News

    Antworten

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