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Das Gespenst „Übergewinnsteuern“ – Hintergrund zu: Warum Berlin zur Strom- und Gaspreisbremse so spät dran ist

Jochen Luhmann Von Jochen Luhmann
11. Oktober 2022
Notbremse

1.     Ausgangslage Herbst 2021

Die Preise von Gas und Strom haben sich weit über normale Schwankungen hinausgehend nach oben bewegt, sie sind in historisch präzedenzlosem Ausmaß angestiegen. Das ist kein Effekt der Invasion Russlands in die Ukraine und auch nicht des danach ausbrechenden Energiekrieges zwischen Russland und dem Westen. Die Bewegungen haben sich vielmehr im Laufe des Jahres 2021, im Kontext der wirtschaftlichen Wiederbelebung im Ausgang der Corona-Krise, aufgebaut und wurden in etlichen Staaten Europas bereits im Sommer 2021 als krisenhaft wahrgenommen. „Krisenhaft“, weil sozial belastend und auf der Einnahmeseite völlig illegitim. Die genannten Staaten läuteten die Alarmglocke, sie brachten das Thema in Brüssel auf die Agenda und führten ab Herbst 2021 schon einmal bei sich zu Hause, der Gefahr im Verzug wegen, „Übergewinnsteuern“ unterschiedlicher Couleur ein.

Der Preisanstieg hat sich dann, nach dem 24. Februar 2022 „konsolidiert“, er hat teilweise noch erheblich zugelegt. „Konsolidiert“ soll sagen: Die Future-Preise im Herbst 2021 zeigten zwar die allgemeine Erwartung, dass sich die Gas- und Strom-Preise bereits ab Frühjahr 2022 wieder auf ein übliches Niveau zurückbewegen werden. Der (Energie-)Krieg in und um die Ukraine hat durch diese Erwartung jedoch einen dicken Strich gemacht.

2.     Die Reaktion auf EU-Ebene im Herbst 2021

Höhepunkt des Drängens seitens etlicher EU-Mitgliedstaaten auf eine Abschöpfung der illegitimen Gewinne war sicherlich ein fachlich unterlegter Vorstoß der fünf Mitgliedstaaten Griechenland, Spanien, Frankreich, Tschechien und Rumänien, vertreten durch deren Finanzminister – eine ungewöhnliche Akteurskonstellation. Die Forderung vom 6. Oktober 2021, den Strommarkt auf der Großhandelsstufe zu reformieren, wurde begründet mit:

„The electricity market … needs to be improved to better shape the link between the price consumers pay and the average cost of generating electricity in national production mixes.“

Unterlegt wurde das mit einem Hinweis auf damals in Spanien bereits umgesetzte Maßnahmen – mit denen das in den Mittelpunkt gerückte Problem allerdings nur teilweise und nicht systematisch angegangen wurde.

Quantitativ merklich deutlicher waren die Hinweise, die das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) im Juli 2021 gab. Da waren die Großhandelspreise am Strommarkt auf 90 €/MWh bereits gestiegen. Auf der Suche nach den ausschlaggebenden Gründen stieß das EWI auf die Trias gestiegener Kohle-/CO2-Preise einerseits und gestiegener Gaspreise (auf 35 €/MWh) andererseits. Die Analyse wurde zusammengefasst in dieser Abbildung, einer Darstellung der Änderung der Merit-Order-Verhältnisse im Zeitablauf. Aus ihr ist das Volumen der Mehrerlöse am Strommarkt direkt, durch Flächenvergleich, ablesbar: Der durchschnittliche Tagespreis auf Großhandelsstufe hatte sich mit 85,71 €/MWh mehr als verdoppelt. Dass es um viel Geld und eine soziale Problematik

gehen würde, war da schon bestens absehbar.

Mit dem Drängen von Mitgliedstaaten, denen sich Deutschland damals nicht angeschlossen hatte, wurde auf EU-Ebene im September 2021 wie folgt umgegangen. Man beauftragte zunächst ACER mit zwei Analysen – ACER ist der Verband der nationalen Behörden in Europa, die mit der Aufsicht über leitungsgebundenen Energieunternehmen betraut sind, also vor allem für Strom und Gas zuständig sind. Mitte Oktober wurde ein Teilergebnis vorgelegt, der diagnostische Teil zu „Higher Energy Prices“. Zentrales Ergebnis war erstens diese Abbildung, die die Dramatik, die damals schon an den Märkten für Gas, CO2-Zertifikate und Elektrizität herrschte, dadurch illustriert, dass der Preisanstieg im Jahre 2021 in den Kontext der Preisentwicklung der Jahre seit 2010 gestellt ist.

Zweitens: Sowohl auf dem Markt für Elekrtizität als auch auf dem für Gas gingen die Forward-Preise mit dem Frühjahr 2022 aber drastisch zurück. Damit war klar: „Die Märkte“ sahen den dramatischen Preisanstieg als ein Übergangsphänomen an, sie wetteten darauf auch – mit einer Auslaufzeit nach Ende des Winters, der Periode mit ihrer typischen hohen Gasnachfrage seitens der Staaten auf der nördlichen Erd-Halbkugel.

Mitte November 2021 wurde der diagnostische Teil von ACER komplettiert mit

„ACER’s Preliminary Assessment of … the current wholesale electricity market design“

Im Ergebnis wurde da gesagt: Da es sich bei dem aktuellen Preisanstieg um ein vorübergehendes Phänomen handelt, das von alleine verschwinden wird, gebe es keinen rechten Grund, die Problematik des Strommarktdesigns, die die EU-Instanzen auf der Agenda haben, beschleunigt aufzugreifen. Zudem sei das Problem, welches im Blick auf das Strommarktdesign bislang diskutiert wurde, eher das Gegenteilige.

„By way of perspective, up until recently most discussions about an evolving electricity market design revolved around the question of whether a market dominated by low-marginal cost generation would be able to ‘make enough money’ for those present in the market. This seems to contrast with some of current discussions, seemingly more focused on whether generators are ‘making too much money’.“

Durch die Blume wurde damit zu verstehen gegeben: Die Phase außerordentlich hoher Gaspreise führt zwar zu erheblichen Übergewinnen, das „Schnäppchen“ aber soll den Kraftwerksbetreibern gelassen werden. Die sozialen Probleme, die sich daraus ergeben, sind durch Maßnahmen außerhalb des Strommarkt-Designs zu adressieren, wie die EU-Kommission es auch vorgeschlagen hatte. Da es sich um ein temporäre Schieflage nur handelt, kann man sie mit solchen Maximen aussitzen. Diese Position wurde von etlichen Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, in einem Joint Statement vom 25. Oktober 2021 explizit unterstützt. Die zentrale Passage lautete:

„The internal market for gas and electricity has been jointly and gradually built over the past decades. Competitive markets contribute to innovation, security of supply and are thus a key element to facilitate the transition. As the price spikes have global drivers, we should be very careful before interfering in the design of internal energy markets. This will not be a remedy to mitigate the current rising energy prices linked to fossil fuels markets. Instead, we need a well-integrated EU energy market that functions based on market mechanisms and good interconnections as part of the solution to strengthen the resilience to price shocks.“

D.h. der massiv überproportionale Zusammenhang von Preisen am Gasweltmarkt und Großhandels-Strompreisen am EoM in der Form, wie er in der EU in den 2000er Jahren etabliert wurde, wurde übergangen. Man hielt ihn für zumutbar.

3.     Die Reaktion in Deutschland im Frühjahr und Sommer 2022

Die Reaktion in Deutschland im Spätsommer/Herbst 2021 war gewesen: Die Politik befand sich im Wahlkampf – und kümmerte sich um nichts. Die Medien nahmen sich des aufziehenden Preis-Orkans nicht an, da deren politische Redaktionen der Maxime folgen, nur solche Themen für adressierenswert zu halten, welche die deutsche Politik selbst unter sich strittig stellt. Auch was damals dazu auf europäischer Ebene debattiert wurde, fand in Deutschlands politischen Medien kaum eine Resonanz.

Im Frühjahr 2022 konnte man schließlich vor dem außergewöhnlichen Phänomen nicht länger die Augen verschließen. Die Politik in Deutschland sprach schließlich doch die „Übergewinne“ an, doch es war die Opposition, die nicht befürchten musste, Worten auch Taten folgen lassen zu müssen. An Gutachten, die der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages, wie fast immer auf Bestellung, erarbeitete, war aber ein breites ernstliches Interesse unter den Abgeordneten ablesbar. Er hat in drei Berichten die jeweiligen Abschöpfungs-Konstruktionen in Großbritannien und Ungarn, in Griechenland sowie in Italien dargestellt. Doch die Rede in den deutschen Medien war regelmäßig eine in Anführungszeichen, und die Kommentierungen sagten im Brustton der Überzeugung, dass „Übergewinn“ nur willkürlich zu definieren sei. D.h. das Ziel der Thematisierung war die Delegitimierung des Anliegens, die illegitimen Marktlagen-Gewinne abschöpfen zu lassen. Im Juni 2022 initiierte Bremen einen Antrag des Bundesrates in diese Richtung, der jedoch keine Mehrheit fand. Schließlich änderte sich Entscheidendes: Da sprach sogar die Bundesregierung von Plänen der Gewinnabschöpfung am Strommarkt als ein Projekt, das man durchziehen wolle, aber gerne eine EU-Rahmung dazu sehe wolle. Von Deutschlands Medien wurde das nicht als ein Aufspringen auf einen seit fast einem Jahr in Brüssel fahrenden Zug konnotiert – hier galt das Ladenhüter-Projekt vielmehr als taufrisch.

Hintergrund der Zurückhaltung der offiziellen Politik ist eine öffentlich wenig bekannte Besonderheit der deutschen Finanzverfassung bzw. der Rechtsprechnung dazu. Die Niederlage der Bundesregierung bei der Kernbrennstoffsteuer sollte es eigentlich ins allgemeine Bewusstseín gebracht haben: Dem deutschen Gesetzgeber sind da die Hände gebunden. Eine solche leistungsloses Einkommen abschöpfende Steuer auf Verbrauchsgüter ist in der Finanzverfassung des Grundgesetzes als „Verbrauchsteuer“ eigentlich mandatiert.

Doch es gibt auch etabliertes Richterrecht, abzulesen an früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die rechtliche Steuerlehre hat den Ausdruck „Verbrauch“ einseitig auf Güter nur bezogen, die an Endverbraucher, die sogenannten „Konsumenten“, abgesetzt werden – eine ökonomisch-fachliche nicht satisfaktionsfähige Sicht, denn „Verbrauch“ meint produktionstheoretisch den „Untergang eines Gutes bei Nutzung“ – als Gegenbegriff zu „Gebrauch“. Eine „Kernbrennstoffsteuer“, die sich an Kraftwerksbetreiber richtete, nicht an Endverbraucher, war somit keine „Verbrauchsteuer“, obwohl die Kernbrennstäbe in den Reaktoren zweifelsfrei „verbraucht“ werden. Verständnisweisen von finanzwissenschaftlichen Termini wurden so freihändig und ohne Blick auf die ökonomische Fachwissenschaft interpretiert und gesetzt. Faktisch wurde damit dem deutschen Abgaben-Gesetzgeber ein enges Korsett in der Gestaltung von Abgaben auf „Verbrauchsgüter“ angelegt. Auch das, eine solche schlecht begründbare Position von Richterrecht, gehört zum realen Rechtsstaat.

Um diese auf fachlichem Irrtum basierende willkürlich gesetzte Schranke aufzuheben, müsste entweder die deutsche Finanzwissenschaft rechtspolitisch werden und aktiv der Jurisprudenz gegenüber in Konflikt gehen – das tut sie aber nicht, das ist Comment. Alternative wäre, eine neue Steuer-Kategorie zu erfinden – der Mandatierungskatalog im GG muss ja nicht abschließend verstanden werden. Das aber steht dem Bund nicht zu, denn es waren die Länder, die das Reich gegründet haben und dem Reich damals nur definierte Rechte zugebilligt haben.

Aus diesem Schlamassel gibt es einen bewährten Ausweg: All die Begrenzungen nach deutschem Richterrecht gelten nicht, so der rechtliche Konsens derselben Community, wenn die EU dasselbe mandatiert. So wurde der Weg zu einer deutschen Übergewinnsteuer auf Strom, Erdöl und ggfls. auch Erdgas erst geebnet mit Brüsseler Entscheidungen. Die deutsche Exekutive hat mit ihrem großen Einfluss auf Brüsseler Entscheidungen also eine Option, die deutsche Verfassungs-Judikative zu umgehen.

4.     Aktuelles auf EU-Ebene

Die EU-Kommission präsentierte am 14. September 2022 den Entwurf eines Notfall-Gesetzes, deshalb ausnahmsweise mit Mehrheit zu entscheiden. Es enthält zwei Elemente:

  1. Die hohen Gewinne günstiger Kraftwerksarten sind von den Mitgliedstaaten mindestens bis März 2023 deckeln.
  2. Die Mitgliedstaaten sollen eine einmalige Sondersteuer in Höhe von 30% auf überdurchschnittliche Profite von Öl-, Gas- und Kohlekonzernen erheben, die diese im Laufe des Fiskal-Jahres 2022 mit Betriebsstätten innerhalb der EU gemacht haben.

Die Abschöpfungsintention wird somit sektoralisiert, mit jeweils völlig unterschiedlichen Definitionen und Weisen des Zugriffs auf das viele Geld.

Die Abschöpfungen werden zusammen, so stellt es die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der EU im Straßburger Europaparlament in den Raum, „mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen“. Gemäß Kommissionsangaben wird erwartet, dass das Abschöpfen bei den Kraftwerken („inframarginal revenue cap“) bis zu 117 Mrd. € bringen wird – im Zeitraum nach Inkraft-Treten bis März 2023, also in der kommenden Winter-Periode. Die Übergewinnsteuer („temporary solidarity contribution on excess profits“) bei Öl-, Gas- und Kohlekonzernen soll mit etwa 25 Mrd. € deutlich weniger in die Kassen der Mitgliedstaaten spülen. Die beiden zu besteuernden Subjekte sind somit komplementär zueinander, nicht überlappend. Und zeitlich decken sie völlig unterschiedliche Zeiträume ab. Am 30. September 2022 hat der Europäische Rat dem – in einer deutlich erweiterten Fassung – zugestimmt.

5.     Konsequenzen für Deutschland

Die Bundesregierung hat inzwischen, am 29. September 2022 entschieden, einen „Wirtschaftlichem Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskrieges“ einzuführen. finanziert durch Staatskredite. Medial wird er, in ziemlicher Verkürzung, auf der Einnahmenseite als hundertprozentige Kreditermächtigung und auf der Ausgabenseite als „Gaspreisbremse“ aufgefasst. Das ist beidseits halbwahr.

Ein Vergleich der Finanzvolumina zeigt: Für die Gasbeschaffungsumlage waren 34 Mrd. € vorgesehen, für den Abwehrschirm gilt ein Volumen von 200 Mrd. €. Und auf der Einnahmenseite wird der Fonds hinter dem Abwehrschirm mitgefüllt werden von den Abschöpfungen aus den Übergewinnen bei Öl und Elektrizität, die vermutlich in der Größenordnung von 30 Mrd. € liegen. Damit, mit den entsprechenden Gesetzesvorlagen, wird die Bundesregierung in der allernächsten Zeit an die Öffentlichkeit treten.

Die Zeit der Übergewinnsteuer in Deutschland wird im Dezember 2022 doch noch anbrechen.

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Tags: EnergiekriseStrom- und GaspreisbremseÜbergewinnsteuer
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