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Ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine: Wie geht es weiter?

Wolfgang Lieb Von Wolfgang Lieb
24. Februar 2023
Graffiti für Frieden

Bei der Frage, wie geht es nach einem Jahr Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine weiter, sollte als Erstes immer klar unterschieden werden, wer war der Angreifer und wer ist das Opfer. Wir Deutsche – als mittelbar Beteiligte an diesem Krieg – sollten zwar Partei ergreifen für die völkerrechtswidrig angegriffene Ukraine, aber wir sollten nicht parteiisch sein. Martin Luther wird der wichtige Satz zugeschrieben: Niemand darf in eigener Sache Richter sein. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine.

Meiner Ansicht nach sollte im russischen Angriffskrieg eine friedenspolitische Perspektive gesucht werden, die sich deutlich unterscheidet von zwei anderen Positionen:

Erstens: Der Position der „Putinisten“ auf der politischen Rechten, aber auch der Position von den nostalgischen Anhängern Russlands auf der Linken.

Zweitens: Will ich mich auch abgrenzen von bellizistischen Positionen, die von einer Niederlage Russlands oder von einem Regimewechsel im Kreml träumen.

Es sollte in erster Linie darum gehen das Völkerrecht zu verteidigen

Die bei uns in den Medien und der Politik vorherrschende Perspektive will Russland „ruinieren“ (so Annalena Baerbock) bzw. Russland derart schwächen, dass es „zu so etwas wie dem Einmarsch in die UKR nicht mehr in der Lage ist“ (so US-Verteidigungsminister Lloyd Austin).

Es wäre gut und richtig auch in diesem Krieg nicht nur gegen Russland, sondern ganz grundsätzlich das Völkerrecht zu verteidigen. Aus dem in Art. 51 der UN-Charta verbrieften Selbstverteidigungsrecht und aus dem Friedensgebot der Art. 1 und 2 der UN-Charta leitet sich eine friedenspolitische Perspektive ab. Gerade wir Deutschen sollten uns auch noch an das Friedensgebot aus der Präambel unseres Grundgesetzes erinnern, wo es pathetisch heißt: Dass das deutsche Volk von dem Willen „beseelt“ ist, „in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen“. Darauf zielt auch die gestrige Resolution der UN-Vollversammlung ab, nämlich zusätzliche Anstrengungen zu einer sofortigen Beilegung des Konfliktes zu unternehmen.

Aus diesen Rechtsnormen ergibt sich das Ziel der Hilfe für die Ukraine: Die Ukrainer müssen sich selbst verteidigen können und sie dürfen diesen Krieg nicht verlieren. Anders gesagt: Der russische Angriffskrieg darf keinen Erfolg haben. Gleichzeitig muss aber alles versucht werden, um ein schnellstmögliches Schweigen der Waffen zu erreichen.

Unklarheit über das Kriegsziel

Es gibt im Westen  völlig unterschiedliche Vorstellungen darüber, welches Kriegsziel eigentlich verfolgt werden soll. Mit der Eskalation der Waffenlieferungen haben sich letztlich auch die Kriegsziele verschoben. Eine solche Zieldiskussion wäre jedoch gerade in Deutschland wichtig, weil man sonst einmal mehr als „Sündenbock“ dasteht, wenn die Ukraine, die von ihr selbst gesteckten Ziele nicht erreicht. Weil keine Ziele genannt werden, kann man auch keine sinnvolle Zweck-Mittel-Diskussion über die Lieferung von welchen Waffen führen.

Ziel muss ein „gerechter Frieden“ sein

Nach dem Völkerrecht darf es nicht um die Unterstützung eines seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges überholten „gerechten Krieges“ („bellum iustum“) gehen, und das mit immer mehr und immer schwereren Waffenlieferungen, sondern es muss vor allem darum gehen, Lösungswege für einen „gerechten Frieden“ zu suchen.

Jede militärische Unterstützung steht vor einem moralischen Dilemma

Es ist einerseits moralisch einem Opfer bei seiner Selbstverteidigung zu helfen, andererseits hat der Helfer auch eine moralische Mitverantwortung für die Opfer auf allen Seiten und die Zerstörung, die durch die Waffenlieferungen verursacht werden. „Von dieser Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist auch der selbstloseste Unterstützer nicht entlastet.“ (Jürgen Habermas) Niemand, kann sagen, ob Waffenlieferungen letztlich mehr Leben retten oder mehr Leben kosten.

Die Lieferung von Waffen ist genauso begründungspflichtig, wie die Befürwortung von baldmöglichsten Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Der Vorwurf man habe keine Lösungen für Verhandlungen, ist unredlich, denn Lösungen haben diejenigen, die für weitere und immer schwerere Waffen eintreten, auch nicht. Da nicht davon auszugehen ist, dass eine der beiden Seiten kapituliert, wird dieser Krieg am Ende am Verhandlungstisch beendet, die Frage ist nur wie viele Menschenleben er vorher noch fordert.

Bei allen Kriegen, die nicht durch eine Kapitulation zu Ende ging, fanden Verhandlungen schon im Verlauf des Kriegsgeschehens statt

Das beste Beispiel für Verhandlungen zu einem Zeitpunkt als noch schreckliche Kriegsverbrechen begangen wurden, sind die Verhandlungen von Henry Kissinger und Le Du Tho vor dem Ende des Vietnam-Krieges. Beide erhielten dafür sogar den Friedensnobelpreis.

Man macht es sich zu einfach, wenn man schlicht nach Verhandlungen ruft, ohne zu sagen, wie man zu Verhandlungen kommen könnte und wo Kompromisse liegen könnten. Der Vorwurf, man habe keine Lösungen für Verhandlungen, ist unredlich, denn Lösungen haben diejenigen, die für weitere und immer schwerere Waffen eintreten, auch nicht. Es ist jedoch fatal, dass schon allein die Forderung nach Verhandlungen mit dem Vorwurf totgetreten wird, man betreibe das Geschäft Putins. Es geht doch um die Ausweitung des gedanklichen Suchraums für eine Deeskalation.

Die Verhandlungsbereitschaft ist jedenfalls größer, wenn keine Seite mehr Vorteile im Krieg erwartet, statt wenn eine Seite vormarschieren kann und wenn beide Seiten sich im Vergleich zum Scheitern von Verhandlungen besserstellen. Wenn beide Seiten glauben, dass sie gewinnen, wird es keine Verhandlung über eine politische Konfliktlösung geben. 

Mit zunehmenden Opferzahlen wird die Schwelle, dass es zu einem Waffenstillstand kommt, immer höher gelegt und es wächst auch die Gefahr der Revanche.

Voraussetzungen für eine friedenspolitische Perspektive

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sowohl für Waffenlieferungen an die Ukraine als auch für Sanktionen gegen Russland zwei fundamental unterschiedliche Zielperspektiven gibt. Man kann eine geopolitische Zielperspektive einnehmen (wie schon oben skizziert) oder eine friedenspolitische.

Will man die vorherrschende geopolitische in eine friedenspolitische Perspektive lenken, ist es unerlässlich, dass etwa über folgende Fragen überhaupt erst einmal nachgedacht werden darf:

Sollten Waffenlieferungen mit einer Gesprächs- oder Verhandlungsbereitschaft konditioniert werden?

Wer sollte und könnte als Vermittler auftreten?

Wie könnte ein Beobachtungs- und Verifikationsmechanismus für einen Waffenstillstand aussehen?

Will man Russland Sanktionserleichterungen in Aussicht stellen, wenn es sich zu einer Kampfpause bereit erklärt?

Welche lukrativen Optionen könnte man der Ukraine anbieten, dass sie einen Status wie nach 2014, ähnlich wie im Minsker Abkommen zunächst als Ausgangspunkt für Gespräche über einen Waffenstillstand akzeptiert?  Das heißt ja nicht Akzeptanz der Eroberungen Russlands. Nach einem Waffenstillstand könnte immer noch mit Sanktionen Verhandlungsdruck ausgeübt werden.

Man sollte aber auch für Russland Alternativen aufzeigen, die für das Land attraktiv sind.

Und noch weitergedacht:

Müsste man darüber hinaus nicht auch weit über die militärische Sicherheit der Ukraine hinausdenken und die Rolle Russlands etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels, bei der Verhinderung eines weltweiten Rüstungswettlaufs, bei einer künftigen globalen Sicherheitsarchitektur ins Kalkül nehmen?

Man muss ja auch nicht gleich Friedensverhandlungen fordern, aber man könnte kleine und kleinste Schritte versuchen und Einzelvereinbarungen, etwa über den weiteren Austausch von Kriegsgefangenen, den Schutz von Atomkraftwerken, über Entflechtungszonen um Krankenhäuser, über temporäre Waffenstillstände zur Erntezeit oder an Feiertagen usw. Damit könnten humanitäre Fortschritt erzielt und allmählich wieder ein gewisses gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden.

Darf wirklich nur die Ukraine entscheiden?

Gegen Verhandlungen in einem Kriegszustand, in dem immer mehr Menschen sterben und die Zerstörung immer heftiger wütet, wird eingewandt, dass Putin Vorbedingungen dafür nennt, die die Selbstbestimmung der Ukraine, ja ihre Existenz in Frage stellen.

Diese Zustandsbeschreibung ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Es fanden und finden ja Verhandlungen statt, wie z.B. das Lieferabkommen für Getreide oder über den Austausch von Kriegsgefangenen. Es gibt ja auch derzeit schon Hintergrundkontakte etwa zwischen dem Nationalen Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, mit Putins außenpolitischen Berater Juri Uschkow und dem Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew.  Diese Gespräche haben immerhin bewirkt, dass der Kreml eine Erklärung verbreitet hat, wonach Russland „strikt vom Postulat der Unzulässigkeit eines Atomkriegs geleitet wird“.

Es ist zwar richtig, dass letztlich die Ukraine entscheiden muss, mit welchem Ergebnis des Krieges und möglicher Verhandlungen, es sich zu-“frieden“ geben kann. Doch die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine hängt auch von der Unterstützung des „Westens“ ab. Die Letztentscheidung der Ukraine, darf die Unterstützer nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, eigene Initiativen für Verhandlungen zu ergreifen.

Es geht darum den Frieden zu gewinnen nicht den Krieg. Im Krieg verlieren auch die Sieger.

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