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Joseph Conrad: Lord Jim

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
7. September 2025
Strandansicht einer Insel des malaiischen Archipels

Der Autor (1857-1924) dieses großen Romans ist keiner, der zu den vergessenen Schriftstellern zählt; er gilt als ein Klassiker der Modern, der sich im Themenbereich aus fernen Ländern einen Namen gemacht hat. Bekannter noch als dieses Werk ist wohl das „Herz der Finsternis“, ein Roman, der in Zentralafrika spielt und das Thema Kolonialismus vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen behandelt. Im „Lord Jim“ greift Conrad dieses Sujet wieder auf, diesmal angesiedelt im Malaischen Archipel Südostasiens. Beide Romane enthüllen schonungslos die Methoden der Unterwerfung und Versklavung der Ureinwohner durch die Kolonialmächte der westlichen Welt, die auf Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskraft gerichtet war und unzählige Menschenopfer forderte. Damit wurde Conrad bekannt, doch gerade sein Roman über Lord Jim auch oft mißverstanden und fehlinterpretiert. Von Anfang des Erscheinens an fand man die Erzählform zu kompliziert und wenig nachvollziehbar, den Tenor zu heroisch u.a.m. Wirklich geärgert hat sich der Autor wohl über eine „italienische Dame“, die ihre Abneigung damit begründet, dass „alles so morbide“ sei. Dazu schreibt er in seiner Vorbemerkung: „Ich frage mich, ob sie überhaupt eine Europäerin war. Jedenfalls würde kein romanisches Temperament etwas Morbides in dem durchdringenden Bewußtsein verlorener Ehre entdecken.“

Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass „Lord Jim“ zwar nicht ganz einfach zu lesen ist, u.a. weil die Erzählperspektiven wechseln, doch das kann genauso auch ein Grund dafür sein, dass gerade diese Form ihren Reiz hat und auch inhaltlich zu begründen und nachzuvollziehen ist. Denn schließlich lernen wir Jim im ersten Teil des Romans zunächst als jungen britischen Seemann kennen, der in europäischen Häfen anlegt und Zeuge einer Havarie seines Schiffes wird, das beladen mit Pilger aus Fernost unterzugehen droht. Das Trauma, mit der Besatzung das Schiff verlassen und damit potentiell Menschenleben geopfert zu haben, wird Jim nicht mehr los. Er ist mit sich selbst nicht im Reinen, wechselt von einem Förderer vermittelte Arbeitsstellen schon nach wenigen Tagen, findet seine Mitte nicht, weil sein Gewissen ihn plagt. Auf welchen Wegen er dann nach Südostasien gerät und wie und warum er dort Fuß fasst, das ist Thema und Gegenstand des zweiten Teils, auf den ich mich konzentrieren möchte.

Eine erste Schlüsselstelle behandelt ein Gespräch zweier Männer, in welchem der ratsuchende Ich-Erzähler, dessen Bemühungen um Jim’s Weiterbeschäftigung bislang fehlgeschlagen waren, Dr. Stein aufsucht. Dieser fragt nach Eigenschaften und Verhaltensweisen des Probanden und kommt zu dem Schluss, Jim sei „romantisch“, ein Ausdruck, der so neben aller erwarteten Diagnosen liegt, weil er nicht im medizinischen Bereich anzusiedeln ist, sondern eher im psychologischen und/oder moralischen Sektor. Auf die Nachfrage, wie dies zu behandeln sei, antwortet Stein: „Es gibt nur eine Arzenei! Nur etwas kann uns davon heilen, wir selbst zu sein! (…) Strenggenommen ist die Frage nicht, wie man geheilt wird, sondern wie man leben soll.“ Diese Erklärung ist für sein Gegenüber so verblüffend, dass Stein sie emphatisch noch damit ergänzt und verstärkt: „Dem Traum folgen, und abermals dem Traum folgen – und so – in alle Ewigkeit – usque ad finem...“ Und dies alles gilt es Stein zufolge zu verbinden mit der romantischen Veranlagung Jims. Da kommt man zunächst auf die Idee, Stein selbst sei ein Romantiker. Jedoch muss man dies keineswegs mit eher abqualifizierenden Vorstellungen vom Träumer, Phantasten, gar Spinner verbinden; denn die Ideenwelt der Romantik und ihrer Verfechter ging weitaus tiefer in Bereiche einer kritischen Wahrnehmung der Realität, deren schlechtem Zustand ein Ideal gegenüber gestellt wurde, in der Absicht, diese zu verbessern, gemäß den Maßstäben der Kritik. Und sollte dies nicht gelingen, was angesichts übermächtiger sozialer Verhältnisse wahrscheinlich ist, so bleibt immer noch, sich treu zu bleiben in seinem Traum, statt auch noch diesen zu verleugnen oder zu verraten.

Wie ernst Dr. Stein diesen „Fall“ nimmt, lässt sich daran ermessen, dass er sich Jim’s annimmt und mit ihm nach Fernost reist, um den jungen Mann fürsorglich zu begleiten, aber auch zurückhaltend, um seine Autonomie bemüht, in diese fremde Welt einzuführen.

Erzähltechnisch gelingt Conrad die lebendige Schilderung des Handlungsablaufs  dergestalt, dass er den Ich-Erzähler Marlow in Briefform als Begleiter und Berichterstatter von Jim’s Schicksal einsetzt, der einen als Lesende/n immer wieder „persönlich“ anspricht; dadurch entsteht der Eindruck, man sei dicht dran am Geschehen und verspürt etwas von Dabeisein, wodurch die Spannung erhöht wird.

Jim’s Ankunft in Patusan, einem kleinen Fischerort in Südostasien, wo die versklavten Menschen unter erbärmlichen Verhältnissen ihrer harten Arbeit nachgehen müssen, schildert der Autor aus der Perspektive von Stein, dem das Verhalten seines Schützlings der Beobachtung wert ist, mit diesen Worten:

„So kam er (in einem Kanu) den Patusanfluß herauf. Nichts hätte prosaischer und unsicherer sein – nichts in übertriebener Weise zufällig, nichts verlassener wirken können. Seltsam, dieser fatale Zwang, dass alle seine Handlungen das Gepräge einer Flucht annahmen, einer impulsiven, unbedachten Fahnenflucht – eines Sprungs ins Unbekannte.“ Auch hier wieder hat der Ausdruck  Flucht eine doppelte Bedeutung: einerseits ist Jim nicht nur räumlich seiner Herkunftsregion entflohen, sondern mehr noch psychisch, um die bedrückenden Erfahrungen dort (das Verlassen des sinkenden Schiffs) abstreifen zu können; andererseits weiß er noch nicht, was auf ihn zukommt in dieser unbekannten Welt.

Dass Jim einen innerem Kompass hat, der ihn sensibel macht für Ungerechtigkeiten, Armut, Hunger und all das, was der versklavten Bevölkerung in der Region noch angetan wird, läßt ihn reifen und zum eingreifenden Handeln motivieren. Geschildert wird, wie er sich in Patusan nach und nach das Vertrauen der Menschen erwirbt, tätig eingreift, indem er in der Funktion eines Gesandten sich für bessere Arbeitsbedingungen, relativ anständige Löhne und nötige Hilfen in den Grenzen seiner Möglichkeiten einsetzt. Maßstab ist ihm dabei ein Nachbarort, in dem der Brite Brown sich als besonders grausamer Kolonialherr erweist, wo die Sklaverei so offenkundig betrieben wird, dass sich Jim zur Gegenaktion berufen fühlt; er nutzt seine Chance zum Weitermachen als Verpflichtung und hat damit auch gewisse Erfolge, insbesondere, was das Vertrauen der Einwohner anbelangt, erzielt: Jim macht sich die „Klagen der Fischer“ zu eigen und will ihnen vermitteln, dass er es ernst meint mit seinem Reformansatz.

Allerdings erfährt er auch immer wieder die Grenzen seines Einsatzes, allen voran diejenigen, die mit den Unterschieden nach Rasse zu tun haben. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Auseinandersetzung mit einem Kolonialisten, dem die Bemühungen Jims zuwiderlaufen und der diese zunichte machen will. Es kommt zum Kampf, in dem Jim und der junge Eingeborene Waris die Anführer sind.

„Jim hatte sich für mehr als eine Woche ins Innere begeben, und es war Dain Waris gewesen, der den ersten Schlag gegen den Feind geführt hatte. Dieser tapfere und kluge junge Mann (‚der nach Art der Weißen zu kämpfen wußte‘), wollte die Sache auf der Stelle ins Reine bringen, aber er war seinen Leuten nicht gewachsen. Er besaß nicht Jims Rassenprestige und genoß nicht das Ansehen unbesiegbarer, übernatürlicher Macht. Er war nicht die sichtbare, greifbare Verkörperung unfehlbarer Wahrheit und unfehlbaren Sieges. So sehr man ihn liebte, ihm vertraute, ihn bewunderte – er war doch nur einer von ihnen, während Jim einer von uns war. Darüber hinaus war der Weiße – an sich schon ein Hort der Kraft – unverletzbar, während Dain Waris getötet werden konnte.“

Hier zeigen sich die Grenzen des subjektiven, individuellen Ringens um Abmilderung bis Verbesserung der Lebensverhältnisse von unterdrückten, versklavten Bevölkerungen, und zwar auf doppelter Ebene: einerseits sind die Machtverhältnisse objektiv-strukturell verankert, so dass ein  vereinzelter Kampf dagegen chancenlos ist; andererseits liegen die Grenzen im Habitus der Subjekte verankert, die unbewußt diese Übermacht angenommen haben. So wie die Klassenungleichheit in solche Mechanismen eingeschrieben ist, so ist dies (neben der Geschlechterungleichheit) auch die Rassenungleichheit: das Rassenprestige der Weißen und entsprechend die strukturelle Unterlegenheit der indigenen Völker war zumindest in Zeiten des Kolonialismus (mit Überresten bis heute) unüberwindbar, jedenfalls auf der subjektiven Ebene des Kampfes gegen Ungleichheit und Unterdrückung.

Und dies ist die Quintessenz des Romans: Jim muss bei allem Einsatz und Engagement scheitern. Seine Ansprachen an die Eingeborenen, seine Identifikation mit und sein Einsatz für sie, das Gefühl der moralischen Verpflichtung zur Treue und zum Kampf haben ihre Grenzen dort, wo er für den „freien Abzug“ des Aggressors in Gestalt von Browns Ganoven plädiert. Hier hatte der Rasseninstinkt der Eingeborenen obsiegt, der ihnen sagte, dass den Weißen nicht zu trauen ist, dass diese eine friedliche Lösung des Konflikts nicht einhielten, sondern sie auf gemeine Art hintergingen. Alle Redlichkeit und aller Einsatz Jims war letztlich ohne Nutzen für sie geblieben, und sie erschießen ihn schließlich aus Rache an der Ermordung von Waris durch die weißen Killer.

Jims Romantik versus die Übermacht und Hinterlist seitens der Kolonialisten, der Weißen, der Herrschenden. Eine bittere Lehre, aber dennoch darf weiter gelten, seinem Traum zu folgen?

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