Bis vor etwa zwei oder drei Jahren hätte eine passende Überschrift zu diesem Jubiläum eher heißen können „17. Juli – Der lange Weg zur internationalen Gerechtigkeit“, aber der russische Überfall auf die Ukraine, der Vernichtungskrieg Israels in Gaza und die erratische Politik Trumps und seine die US-Gesetzgebung wie Judikative okkupierende MAGA-Bewegung treten Völkerrecht und Menschenrechte in einer in diesem Jahrhundert noch nicht dagewesenen Weise mit Füßen. Zumindest was westliche Staaten und insbesondere Demokratien (man müsste mittlerweile hier Anführungszeichen setzen) angeht.
Am 17. Juli 1998 stimmten 120 Staaten in der italienischen Hauptstadt Rom für ein Dokument, das als Wendepunkt in der Geschichte des Völkerrechts gefeiert wurde: das Rom-Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Es war die Geburtsstunde einer Idee, die lange als Utopie galt – eine ständige Instanz zur Ahndung der schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unabhängig von nationalen Interessen, überparteilich, global. 27 Jahre später, am 17. Juli 2025, dient dieser Tag leider weniger als Gedenktag der Verabschiedung des Statuts, sondern als Mahnung: Die Idee ist geblieben, aber ihr Anspruch ist unvollendet oder sogar in eine ferne Zukunft verschoben.
Das Rom-Statut war das Ergebnis bitterer Lehren: Der Völkermord in Ruanda, die Genozide im zerfallenden Jugoslawien und die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft hatten in den 1990er-Jahren das Völkerrecht in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise gestürzt. Die vorübergehenden Sondertribunale der UN zeigten zwar, dass internationale Strafverfolgung möglich war – aber nur, wenn es politisch eindeutig unterstützt wurde. Das Rom-Statut sollte dieses Defizit beheben und ein dauerhaftes Gericht schaffen, das Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und später auch das Verbrechen der Aggression verfolgt – und zwar unabhängig davon, ob die Täter aus mächtigen oder schwachen Staaten kommen.
Am 1. Juli 2002, nach der Ratifizierung durch 60 Staaten, trat das Statut in Kraft. Deutschland war unter den frühen Unterstützern. Heute sind 125 Staaten Vertragsparteien. Aber auffällig ist bis heute, wer fehlt: Die Vereinigten Staaten, China, Russland, Israel, Indien – allesamt Staaten mit geopolitischem Gewicht. Die USA hatten das Statut zwar im Jahr 2000 unterzeichnet, zogen die Unterschrift aber 2002 unter der Regierung Bush offiziell zurück. Man fürchtete politisch motivierte Verfahren gegen amerikanische Soldat*innen und Politiker*innen. Mit dem sogenannten „Hague Invasion Act“ sicherte sich die US-Regierung sogar das Recht, US-Bürger*innen notfalls gewaltsam aus einer möglichen IStGH-Haft in Den Haag zu befreien. Auch Israel vollzog den Rückzug – aus Sorge vor Anklagen im Kontext der Palästina-Politik. Russland, das 2016 seinen Rückzug erklärte, und China haben das Statut nie ratifiziert.
Damit offenbart sich die zentrale Schwäche der internationalen Strafjustiz: Sie lebt vom Konsens. Und wo der politische Wille fehlt, bleibt das Recht oft folgenlos. Der Internationale Strafgerichtshof kann nur in Staaten tätig werden, die das Rom-Statut unterzeichnet haben – oder wenn der UN-Sicherheitsrat ihn damit beauftragt. Letzteres ist selten, denn dort haben gerade jene Staaten Vetomacht, die selbst nicht Mitglied des Gerichtshofs sind.
Trotzdem ist die Institution nicht zahnlos. Zumindest, wenn es gegen Akteure aus Afrika geht. Verfahren gegen kongolesische Warlords, ruandische Völkermörder oder sudanesische Generäle zeigen, dass sich Täter*innen aus schwächeren Staaten nicht mehr in Sicherheit wiegen können. Die internationale Haftanordnung gegen Wladimir Putin im Jahr 2023 war mehr als ein symbolischer Akt – und einer, der seine Spuren hinterließ. Völlig zu Recht! Das machte Hoffnung darauf, dass diese Institution ihren Aufgaben mit breiter Unterstützung der Staatengemeinschaft nachkommen kann. Das galt gleichermaßen für den Haftbefehl gegen Yahya Sinwar, dem Hauptverantwortlichen für das verabscheuungswürdige Massaker vom 7. Oktober 2023 und militärischen Anführer der Terrororganisation Hamas (mittlerweile als Verfahren „erledigt“, da die IDF Sinwar gezielt getötet hat).
Und damit nicht genug: Der – wirklich mutige – Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant vom 21. November 2024 sorgte für weiteres Erstaunen und helle Aufregung. Begründet durch den Verdacht des Aushungerns als Methode der Kriegsführung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Taten während des Kriegs in Israel und Gaza. Der Haftbefehl gegen Netanjahu ist der erste wegen Kriegsverbrechen gegen den Führer eines vom Westen unterstützten demokratischen Landes. Die treibende Kraft dahinter war erstaunlicherweise kein Land der westlichen „Wertegemeinschaft“, in der in keiner staatstragenden Rede auf die Verpflichtung zu Völkerrecht und Menschenrechte verzichtet wird, sondern Südafrika, ein Land mit leidvoller Geschichte und traumatischen Erfahrungen, die bis in die Gegenwart wirken. An denen hätte es in Israel und Deutschland – mit verschiedenen Vorzeichen – eigentlich auch nicht gemangelt
Gerade Deutschland spielte – noch unter einer „Völkerrechtlerin als Außenministerin – eine tragische Rolle. Auch unter der Kanzlerschaft des „Christdemokraten“ Friedrich Merz ist es nicht besser geworden. Lippenbekenntnissen folgten keinerlei Aktionen, um den brutalen Krieg in Gaza zu beenden oder zumindest das Töten von Kindern und Frauen zu verhindern und Hunger als Kriegswaffe zu ächten. Weiteren enormen Schaden haben die Erklärungen aus Deutschland und Ungarn sowie die Signale aus Großbritannien angerichtet, den Haftbefehl des Strafgerichtshofes gegen Netanjahu nicht anzuerkennen oder nicht zu vollstrecken.
Die USA können das noch überbieten: Bereits im Februar 2025 haben sie weitreichende Sanktionen gegen die Mitglieder des Strafgerichtshofs und ihre Familien angeordnet. Und im Juli 2025 auch gegen die unabhängige UN- Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den Palästinensergebieten, Francesca Albanese, Sanktionen verhängt. Erstmals in der Geschichte der UN ist eines ihrer Organe Ziel solcher Maßnahmen.
Der IStGH hat (leider) kein Gewaltmonopol – er hat nur das Recht und die Hoffnung, dass sich Staaten daran binden. Seine Legitimität gründet auf Prinzipien – nicht auf Macht.
Am 17. Juli, dem „International Justice Day“, steht weniger ein Gericht im Mittelpunkt als vielmehr eine zurzeit kaum realistische Hoffnung: Nämlich, dass Macht und Recht sich nicht ausschließen müssen. Dass kein Verbrechen so groß und kein Täter*in noch so mächtig ist, dass das straflos bleiben darf. Und dass Völkerrecht kein Schönwetterrecht ist. Die Geschichte des Rom-Statuts ist ein Lehrstück über Fortschritt durch Beharrlichkeit – und über die Grenzen idealistischer Visionen in einer Welt, in der immer mehr Staaten auf die Lösung von Konflikten und die Wahrnehmung ihrer Interessen durch militärische Gewalt und Überlegenheit setzen. Israel wütet in Gaza und dem Westjordanland gegen jedes Völkerrecht und unter schwerster Verletzung von fundamentalen Menschenrechten, der Westen schweigt dazu bzw. belässt es bei niederschwelligen Erinnerungen an ehemalige Werte, liefert aber voller Elan weiter Waffen und verspricht die unauflösbare Treue, egal was in Gaza, dem Westjordanland und bei den Nachbarn Israels passiert. Peinlich, feige und von immensem Schaden für das internationale Ansehen. Sogar der ehemalige Ministerpräsident Israels, Ehud Olmert, kritisiert das Vorgehen der IDF deutlich und nennt das Aushungern der Bevölkerung das, was es ist, nämlich ein Kriegsverbrechen. Und die Pläne Netanjahus und seiner rechtsextremistischen Regierung, auf den Ruinen der völlig zerstörten Stadt Rafah ein Zeltlager für Palästinenser ‚innen zu bauen, kommentiert er mit nur einem kurzen Satz: „Das ist ein Konzentrationslager.“
Die Hauptverantwortlichen und -täter*innen für diese Gräuel werden dennoch ohne großen Widerstand der westlichen „Freunde“ für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen: Neben der offiziellen Nominierung von Trump steht Netanjahu nun auch auf der Liste der Kandidat*innen zum dritten Mal! Auch eine zentrale Figur der rechtsextremistischen Siedler*innen in Israel, Daniella Weiss, wird als Kandidatin gehandelt. Deren menschenverachtende Plädoyers für Genozid und Vertreibung in Gaza und im Westjordanland sollten eher ein Fall für Den Haag sein. Aber sie ist bislang noch auf keiner Sanktionsliste zu finden. So viel zur beschworenen Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien. Aber wenn man in einigen Jahren zurückschaut, wird „man“ sagen, „das haben wir nicht gewusst“. Und kaum jemand wird erklären können, warum der Internationale Strafgerichtshof nichts unternommen hat, zumindest nicht konsequent. Aber anlässlich eines Geburtstags wollen wir eher das Positive hervorheben: Happy Birthday IStGH!
Bildquelle: OSeveno, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons













