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Home Politik

WIE DIE CLINTON-ADMINISTRATION DIE US-ENTSCHEIDUNG FÜR DIE NATO-EXPANSION GEN OSTEN DURCHSETZTE

Jochen Luhmann Von Jochen Luhmann
19. August 2024
Boris Jelzin und Bill Clinton am 1. September 2003

Das Nationale Sicherheits-Archiv der USA erlaubt zum 70. Jubiläum der NATO erneut einen Blick hinter die Kulissen. Basis sind jüngst zur Freigabe erzwungene Dokumente aus der Clinton-Bibliothek. Es geht erneut zum Bestreben der USA, die NATO als Militärbündnis gen Osten zu erweitern.

Im Hintergrund spielt eine bekannte grundsätzliche Dynamik: Führungen von Staaten sind gezwungen, Außenpolitik innenpolitisch, im Hinblick auf den Machterhalt, zu kalkulieren. Das gilt umso mehr, je demokratischer die Staatswesen verfasst sind. Genuin außenpolitische Kalküle haben im innenpolitisch prekären Fall, und der herrscht fast immer, hinten an zu stehen. Zugleich gilt, dass die außenpolitischen Rivalen Partner sind. Das soll sagen: Sie beeinflussen mit ihren außenpolitischen Aktionen wechselseitig die innenpolitische Konstellation der gegnerischen Seite. Zentral dabei ist die jeweilige Feindbildprojektion. Systemisch formuliert: Sie evolvieren gemeinsam in fataler Wechselwirkung. Gipfelpunkt der Evolutionsspirale ist der Crash, im Krieg.

Diesem Muster gemäß handelte auch Bill Clinton, als er für seine Wiederwahl im Jahre 1996 die Voraussetzungen schaffen musste. In ausschlaggebenden sog. „Swing States“ benötigte er die Stimmen von dort konzentriert lebenden osteuropäischen Migranten-Minderheiten, darunter insbesondere ukrainisch-stämmige. Er wusste um die negative Interferenz seiner Pläne mit Russland und kommunizierte seine Entscheidung deswegen doppelbödig nach innen und nach außen. George Kennan mit seiner breiten historischen Erfahrung schaltete sich hellsichtig ein. Unter den nun publizierten Dokumenten befindet sich der Entwurf einer Antwort von Steve Talbott, dem stellvertretenden Außenminister unter Clinton, auf den Brief, den Kennan ihm am 31. Januar 1997 gesandt hatte. Darin bringt dieser seinen Widerspruch gegen eine Ost-Expansion der NATO zum Ausdruck. Sein Argument ist eine Erläuterung des allgemeinen Gesetzes der wechselseitigen Interferenz der Außenpolitiken von Hegemonial-Rivalen auf die jeweilige Innenpolitik des anderen im Speziellen.

“Kennan nennt die Entscheidung, die NATO expandieren zu lassen “den größten Fehler der Politik des Westens in der gesamten Nach-Kalter-Krieg Ära,” Sie würde, seines Erachtens, die Herausbildung einer Demokratie in Russland unterminieren und zum Anwachsen nationalistischer Kräfte führen.“

Exakt so, wie von Kennan warnend vorausgesagt, ist es gekommen. Das heute in Deutschland und in Osteuropa herrschende Narrativ jedoch ist, der Abbau der Demokratie und der russische Nationalismus seien im russischen Selbstlauf gekommen. Das ist Geschichtsklitterung. Das Motiv dafür ist durchschaubar: Man will sich wie weiland Pilatus die Hände in Unschuld waschen können.

Rücksicht wurde US-seits schon genommen, nämlich auf die Wiederwahl-Aussichten des russischen Präsidenten Jelzin, der 1995 Duma-Wahlen und in 1996 seine Wiederwahl als Staatspräsident zu bestehen hatte. Also wurde vollzogen, was seit 2016 in den USA als des Teufels gilt: „Foreign interference“ in den Wahlprozess eines anderen Staates – es gab damals keine Hemmnisse. So vorzugehen galt vielmehr noch als eine selbstverständliche Handlungsweise, gespeist aus politischer Klugheit.

Festgezurrt wurde das westliche Expansions-Anliegen deswegen erst beim Pariser Gipfel im April 1997 – da wurde das entscheidende Abkommen der Doppelbödigkeit, die NATO-Russland-Grundakte, abgeschlossen. Dokumente im Kontext ihres Entstehens stehen im Fokus der nun publizierten Sammlung. Öffentlich wurde sie gerühmt als Beendigung der Rivalität, die der Ära des Kalten Krieges zugrunde gelegen habe. Faktisch war es anders. Das kann man jetzt – erneut – nachlesen.

Präsident Jelzin hat im nicht-öffentlichen Gespräch gegenüber Präsident Clinton Klartext formuliert. Das war beim Clinton-Jelzin-Gipfel in Helsinki am 21. März 1997. Da habe die russische Seite am klarsten zum Ausdruck gebracht, wie sie den Vorgang einschätzt. Jelzin beschreibt seine Zustimmung als “a forced step”. Das vollständige Zitat lautet:

“Unsere Position ist unverändert. Es bleibt ein Fehler der NATO, dass sie ostwärts expandiert. Aber ich muss Schritte unternehmen, um die negativen Konsequenzen, die sich daraus für Russland ergeben, abzumildern. Ich bin bereit, dem Abkommen mit der NATO beizutreten, nicht weil ich es will sondern weil es ein aufgezwungener Schritt ist. Für heute gibt es keine andere Lösung.”

Wobei man im Rückblick aus dem Jahre 2024 das „für heute“ wohl zu unterstreichen hat. Im Ausgleich, so Jelzins Bitte, möge man ein geheimes “gentlemen’s agreement“ folgenden Inhalts abschließen: Die NATO-Osterweiterung geht nicht so weit, dass ehemalige Mitgliedsrepubliken der Sowjetunion einbezogen werden. Clinton lehnte ab.

In seiner Reaktion an Kennan erläutert Talbott Präsident Clintons Denkweise zur Funktion der NATO und zu dessen Bemühungen, Russland zu versichern und zu überzeugen, dass die neuausgerichtete NATO keine Bedrohung für Russlands Sicherheitsinteressen sein werde. Dazu bezog sich Talbott auf Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Da seien Allianzen nicht einfach nur auf die Verteidigung gegen einen Feind gerichtet gewesen, sondern hätten auch eine wichtige politische Funktion gehabt, einschließlich der, “<nicht nur>die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedstaaten zu managen <sondern auch> die Politiken von Mitgliedern der Allianz selbst zu kontrollieren.” In diesem Sinne sei die erweiterte NATO dafür da, Stabilität und Sicherheit in Europe zu erhöhen und Unterstützung zu bieten für die demokratische Entwicklung der neuen Mitglieder. Der Anspruch war, wie die Entwicklung gerade in osteuropäischen EU-Staaten gezeigt hat, nicht einlösbar.

Von besonderem Interesse scheint zudem eine Aussage zu sein, welche Talbott in Reaktion auf ein an ihn gerichtetes Memorandum vom 10. Februar 1997 macht, offenbar gerichtet an seine Vorgesetzten. Autor des Memorandums ist Dennis Ross, ein Urgestein der US-Außenpolitik, in der Zeit des Kalten Krieges Top-Berater von Außenminister Baker. Er hatte in den damaligen Verhandlungen mit dem Top-Berater Eduard Schewardnadse, Sergei Tarasenko, ein enges Verhältnis entwickelt. Auch Ross erhebt Einspruch und weist dazu auf die absehbar fatalen Konsequenzen für das Verhältnis zu Russland und für Russlands innere Entwicklung hin. Ross im Wortlaut:

„< die Russen> fühlen sich ausgehebelt hinsichtlich der Zeit der deutschen-deutschen Einigung. Wie Sie mir gegenüber zum Ausdruck gebracht haben, waren Baker’s Versprechungen, die militarische Präsenz der NATO nicht auf das Gebiet Ostdeutschlands auszudehnen, Teil einer wahrgenommenen Verpflichtung, die Alliance nicht weiter ostwärts auszudehnen.”

Talbott fügt dem diese bemerkenswerte Aussage hinzu:

“das Versprechen von 1991, die NATO von einer militärischen Allianz in eine politische  Allianz zu transformieren war Teil einer sowjetischen Erklärung dafür, ein vereintes Deutschland in der NATO akzeptiert zu haben”

Diese Aussage bringt Talbott in Anführungsstrichen, sie ist als Zitat von anonymer aber kenntnisreicher Seite gekennzeichnet.

So könnte es Sinn machen: die Zustimmung Russlands zum NATO-Beitritt ganz Deutschlands war gebunden an die Erwartung einer Transformation des Charakters der NATO. Das Nebeneinander von OSZE und NATO alter Couleur ist ja offenkundig sinnwidrig.

Zu ergänzen ist an dieser Stelle die folgende Episode. Der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse hat eine Sitzung im NATO-Hauptquartier Ende des Jahres 1989, also der Militärallianz, deren Zweck die Abwehr einer Aggression seitens der Sowjetunion ist, genutzt, die Frage aufzuwerfen, ob die NATO in Wahrheit in Zukunft nicht weit mehr eines ihrer Mitglieder zu fürchten habe:

“Wo sind die politischen, rechtlichen und materiellen Garantien, dass die deutsche Einheit auf lange Sicht keine Bedrohung für die nationale Sicherheit anderer Staaten und für den Frieden in Europa werden kann? Die Geschichte selbst,“ warnte er vor einem künftigen Deutschland, frei von ausländischen Zwängen, „verlangt eine erhöhte Umsicht Europas.“ (p. 641)

Die Konstellation, die im 19. Jahrhundert als die „deutsche Frage“ tituliert wurde, ist nicht aus der Welt. Polen und Deutschland rüsten in Reaktion auf das Vorgehen Russlands in der Ukraine gegenwärtig massiv auf. Das jedoch tun sie in systemisch völlig inkompatibler Weise. Die Herrschaft der PIS hat zudem die Aktivierbarkeit des Ressentiments gegen Deutschland gezeigt. In Deutschland führten die inneren Spaltungen diesmal nicht dazu, dass eine Seite einen Vorteil darin erkannte, darauf, auf die polnische Einladung zur Feindbildeskalation, einzusteigen. Es ist noch einmal gut gegangen. Strukturell aber liegt hier eine Bombe begraben.

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