1. Wann und wie hast du das erste Mal in deinem Leben bemerkt, dass das Leben ungerecht ist?
Meine Kindheit war schön behütet – was wohl wirklich selten ist: ein kleines westdeutsches Dorf am Rand des Rhein-Main-Gebiets, alles nivellierte Mittelschicht… Erst im Studium wurde es deutlich politischer und sozial vielfältig. Aber dass es Ungerechtigkeit gibt, war mir natürlich vorher schon klar.
Nein, im Grunde verlief meine Politisierung nur wenig über eigene Alltagserfahrungen mit Ungerechtigkeit. Aber in meiner Familie wurde viel politisch debattiert – oft kontrovers. Gerade meinem Vater war es dabei wichtig, aktuelle Themen historisch einzuordnen. Die Frage der Zehnjährigen, was genau sie da in den Nachrichten zu einem Land in Lateinamerika gesehen hatte, konnte so leicht in einen halbstündigen Vortrag zu Kolonialismus und Imperialismus führen – inklusive der Auswirkungen auf die gegenwärtige Konfliktkonstellation und die Positionierung aller beteiligten Seiten! Das klingt jetzt vielleicht spöttisch – aber ich meine das ganz im Ernst: Ich habe es geliebt, und es hat mich enorm geprägt. Jedenfalls war mir schon in meiner Kindheit klar, dass nicht alles so läuft, wie wir es gerne hätten. Und dass die Zusammenhänge kompliziert sind und sich langwährende Konflikte nicht einfach durch ein bisschen guten Willen – und erst recht nicht durch militärische Gewalt – lösen lassen.
2. Was bedeutet für dich der Begriff ZUGANG konkret in politischer Hinsicht?
Zugang heißt für mich: mitreden und mitentscheiden können.
Dazu brauchen Menschen zuallererst Informationen – und die Fähigkeit, sie einzuordnen. Also die Verfügbarkeit von Medien, aber auch Medienkompetenz und Hintergrundwissen.
Zugang heißt auch: das Gefühl, dass Menschen gehört werden – und willkommen sind. Viele Menschen bringen sich nicht ein, weil sie glauben, ihre Meinung zähle nicht oder sie seien nicht gut genug. Politische Kommunikation sollte das Gegenteil vermitteln: Du darfst da sein, du bist gemeint, und du kannst was!
Und Zugang meint ganz konkret: Barrieren abbauen. Das können ganz einfach zeitliche Hürden sein: Wer von der Arbeit erschöpft ist, Schicht arbeitet oder allein erziehend ist, kann abends kaum zu Podiumsdiskussionen kommen. Dann eben finanzielle Barrieren: Das können Eintrittsgelder, Mitgliedsbeiträge und Abonnements sein – oder auch nur der unausgesprochene Zwang, während einer Veranstaltung in einem Lokal etwas zu konsumieren. Aber auch Mobilitätskosten: Wer am Stadtrand oder auf dem Land wohnt, muss sich die Fahrt leisten können. Und schließlich die ganz klassischen baulichen Barrieren: immer noch sind viel zu viele Orte nicht rollstuhlgerecht.
Und dann gibt es rein formale Ausschlüsse: In Baden-Württemberg dürfen rund 18 % der Einwohner*innen nicht wählen, weil sie keinen deutschen Pass haben – und das, obwohl sie teils schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten hier leben, arbeiten und Steuern zahlen. In einer rechtsstaatlichen Demokratie ist das einfach nicht hinnehmbar.
Zugang also heißt: alle sollten mitentscheiden können – unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Bildungsweg. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine inklusive Gesellschaft entstehen, in der jede*r die Chance hat, gehört zu werden und Einfluss zu nehmen.
3. Wem möchtest du mit deiner politischen Arbeit vor allem zu einem besseren Leben verhelfen?
Natürlich vor allem denjenigen, die den größten Bedarf daran haben. Ein einfaches Beispiel: Je mehr man hat, desto weniger Unterschied macht ein bisschen mehr oder weniger. Aber am unteren Ende der Einkommensskala hat schon ein kleines Plus einen riesigen Effekt. Denn Geld bedeutet in unserer Gesellschaft nicht nur Konsummöglichkeiten, sondern auch Sicherheit: Nicht permanent Angst haben zu müssen, dass das Geld nicht bis zum Monatsende reicht. Oder dass man eine unerwartete Ausgabe – ein kaputtes Haushaltsgerät, ein Klassenausflug – nicht stemmen kann. Geld heißt auch Teilhabe. Wer keines hat, wird oft ausgegrenzt – nicht immer sichtbar, aber spürbar. Auch kleine Dinge wie mit den anderen ein Eis essen können oder bei einer Aktivität nicht absagen zu müssen, weil das Geld fehlt, sind da entscheidend. Eine gerechtere Verteilung bringt also Vielen viel – und schadet Wenigen wenig.
Ähnlich ist es im Hinblick auf Anerkennung und Toleranz. Auch wenn einige so tun, als sei das der Untergang des Abendlandes: Queerrechte bringen den Betroffenen sehr viel – und sie schaden niemandem. Migrant*innen und Geflüchtete zu integrieren, sie als Teil unserer Gesellschaft willkommen zu heißen, ihnen Arbeit und Bildung zu ermöglichen, nutzt nicht nur ihnen selbst, sondern letztlich allen. Toleranz, Offenheit und Vielfalt sind keine Bedrohung, sondern eine bunte Bereicherung für Alle!
Auch wenn ich entschieden dafür plädiere, eine Politik zu machen, die den am Wenigsten-Privilegierten am meisten hilft, glaube ich doch, dass eigentlich alle Bürger*innen von einer gerechteren, offeneren Gesellschaft ein besseres Zusammenleben haben – selbst wenn sie dafür zunächst auch mal Privilegien aufgeben oder etwas mehr Steuern zahlen müssen. Das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die niemanden zurücklässt, sollte es uns wert sein.
4. Was kriegt der Turbo-Kapitalismus vor allem kaputt?
Die Frage für mich ist ja eher: Was kriegt er nicht kaputt? Wenn wir am Ende sogar unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören, ist alles aus.
Aber um konkreter zu antworten: Dieses Wirtschaftssystem zerstört nicht nur die Umwelt, es verändert auch unsere Innenwelt – also wie wir fühlen, denken, miteinander umgehen. Dieses ständige „Mehr“, dieses Immer-schneller, Immer-besser, Immer-effizienter – das prägt uns ja alle. Wir geraten in einen Dauerzustand von Selbstoptimierung und Konkurrenz. Und dabei verlieren wir nicht selten zwangsläufig den Blick für Gemeinschaft und Solidarität. Viele spüren den Druck, ständig funktionieren zu müssen – und vernachlässigen deshalb sich selbst und ihre Mitmenschen.
Das ist eine Dynamik, die sich nicht einfach abschütteln lässt. Sie ist tief in unserer Kultur eingraviert, oft kaum noch bewusst wahrnehmbar. Umso wichtiger ist es, Wege zu finden, diese Muster zu hinterfragen – und Räume zu schaffen, in denen andere Werte wieder Gewicht bekommen: Kooperation statt Konkurrenz, Nachhaltigkeit statt Wachstum um jeden Preis. Eine faire Gesellschaft, in der das gute Leben für Alle im Zentrum steht.
5. Wie können diese Erkenntnisse so kommuniziert werden, dass Konstanzer Bürgerinnen und Bürger gerne die Linken wählen, und sich spürbar mehr bunt engagiertes Leben in der schönen Stadt entwickelt – also mehr live statt sooo viel digital?
Gemeinschaft ist spürbar, wenn sie konkret erlebt wird: Im Zusammensein ist es eine Selbstverständlichkeit, miteinander zu teilen und aufeinander zu achten. Zu fragen, wie es einem geht oder was gerade los ist. Darauf zu schauen, dass sich niemand übernimmt. Miteinander zu lachen, auch wenn wir uns zuvor noch in der Sache heftig gestritten haben.
Parteiintern funktioniert das bei uns im Moment wirklich gut – und ich hoffe, wir strahlen das auch aus. Aber natürlich reicht das nicht. Wir brauchen mehr Veranstaltungen und Aktionen, bei denen Menschen genau das erleben können: Dass es Freude macht, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Dass wir keine perfekten Antworten auf jedes Problem haben können, aber wir uns ja doch auch zusammen auf die Suche machen. Dass es dabei nicht zwingend auf einen irgendwie messbaren Erfolg ankommt, den man dann stolz in den sozialen Medien zur Schau stellen kann – sondern auf das gemeinsame Erleben, das Austauschen mit Vielen, die aus unterschiedlichen Motiven kommen, aber ein gemeinsames Ziel haben…. und dabei voneinander lernen können, selbst wenn es nur ein neuer Denkanstoß, eine andere Perspektive auf etwas ist.
Ich finde, Politik kann mehr Raum für gemeinsames Denken, für gegenseitige Neugier bieten. Für ein Miteinander, das nicht von vornherein auf Effizienz oder Zustimmung schielt, sondern echten Austausch ermöglicht – auch und gerade mit denen, die nicht 100% mit uns übereinstimmen. Wenn Menschen erleben, dass Beteiligung Spaß macht, dass sie ernst genommen werden, dass sie etwas bewegen können – dann wächst auch das Vertrauen in die Demokratie. Und dann wird eine lebendige, vielfältige Stadt wie Konstanz nicht nur schöner, sondern auch solidarischer.
6. Wie gefällt dir das neue Klima an der Spitze eurer Partei? Inwieweit bist du froh, dass sich die totalitären Leute vom BSW von den freundlicheren Lockeren bei euch Linken separiert haben?
Der Unterschied ist wirklich spürbar: Der ganze Streit hat uns gelähmt – wir wussten schon kaum noch, wofür wir eigentlich stehen. Permanent kamen Leute an unsere Infostände und beschwerten sich, was Sahra jetzt wieder Dummes gesagt hat. Und dann kamen andere, und fanden genau das ganz hervorragend. Und wir standen da und mussten beiden Seiten erklären, dass das nicht die Haltung der Gesamtpartei ist und dass wir uns ausdrücklich davon distanzieren. Und egal wo – ob in den Medien oder auf unseren eigenen Veranstaltungen – wenn es um die Linke ging, ging es ständig nur um Sahra und die internen Konflikte. Als ob es keine wichtigeren politischen Probleme gegeben hätte, um die wir uns hätten kümmern müssen…
Einige haben sich in dieser Zeit zurückgezogen, weil sie das alles einfach nicht mehr ertragen konnten. Jetzt ist wieder Energie da – und gute Laune. Natürlich sind wir immer noch eine streitbare Partei mit unterschiedlichen Strömungen und vielen Charakterköpfen. Es ist auch jetzt keine Harmonieveranstaltung, bei der sich immer alle einig sind – aber das ist ja auch nicht unser Anspruch. Was aber spürbar ist: Die Leute haben wieder Lust, gemeinsam Politik zu machen. Wir gehen die Probleme zusammen an, diskutieren und vor allem hören wir uns zu – und so fallen wir uns eben nicht mehr gegenseitig in den Rücken!
Und zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich das Gefühl, dass wir genau die richtigen Leute auch an der Spitze haben: Klar, kompetent und kämpferisch. Das tut einfach gut. Der Bruch war notwendig – jetzt können wir endlich konzentriert gute Politik machen.
Dr. Sibylle Röth
Wissenschaftliche Mitarbeiterin von Luigi Pantisano MdB im Regionalbüro Konstanz
geboren 1982 in Rheinland-Pfalz
2002-2010: Studium der Neueren Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Jena
2011-2025: Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Konstanz; 2018: Promotion
2016-2025: Co-Sprecherin des Kreisvorstands Die Linke Konstanz
Seit 2019: Kreisrätin im Kreistag Konstanz
Seit 2025: Co-Sprecherin des Ortsverbands Die Linke Konstanz













