Herr Müchler, Sie nennen „Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron“. Warum? War er nicht ein maßloser und kriegssüchtiger Herrscher, der Europa unterwarf und am Ende wie später Adolf Hitler gen Moskau zog und dort im bitterkalten Winter scheiterte?
Müchler: Mit Hitler verbindet Napoleon die Tatsache, dass beide in den Weiten Russlands scheiterten. Aber das ist auch alles. Napoleon wollte Russland nicht vernichten, und der Krieg von 1812 war kein Überfall.. Der Zar war für den Ausbruch des Konflikts ebenso verantwortlich wie Napoleon. Was den kriegssüchtigen Napoleon betrifft: Es hat sich eingebürgert, vom „Zeitalter der napoleonischen Kriege“ zu sprechen. Das ist eine schiefe Optik, wie schon der Blick in den Kalender offenbart. Der Krieg, der mit dem Shootout von Waterloo endete und in dem das revolutionäre Frankreich mit den alten Mächten focht, begann bereits 1792. Da war Napoleon noch ein kleiner Artillerieleutnant. Als er Ende 1799 zur Macht gelangte, ging der Krieg bereits in sein achtes Jahr. Napoleon erbte ihn. Der erste Feldzug, der ganz allein auf sein Konto ging, war der spanische, also 1807.
Was fasziniert Sie so an dem Korsen, der sich zum Kaiser krönte? Ich denke, die Menschen in Europa werden von seinen Eroberungsfeldzügen nicht so begeistert gewesen sein. Er hat sie ganz schön drangsaliert, um es mal höflich zu sagen.
Müchler: Napoleon war keine Lichtgestalt. Nebenbei: Lichtgestalten sind meistens langweilig, was sich von dem Korsen nun wahrhaftig nicht sagen lässt. Er kam aus dem Nichts, wurde zum Herrn Europas, um wieder ins Nichts zu stürzen. Sein Leben gleicht einer klassischen Tragödie. Was Prometheus im Luftreich der Mythologie war, war Napoleon auf Erden- ein Sinnbild. Er forderte die Götter heraus, und wurde dafür auf Sankt Helena bestraft.
Was ist geblieben von diesem Kaiser? Hat er Europa mit geprägt? Wie?
Müchler: Napoleons Außenpolitik war widersprüchlich. Der erobernde Kaiser unterdrückte die Freiheit, zugleich brachten seine Armeen im Gepäck wichtige Freiheitsrechte mit. Deutschland verdankt Napoleon einen Modernitätsschub. Die Beseitigung der Kleinstaaterei im Westen Deutschlands bedeutete zweifellos einen Fortschritt. Die Förderung starker Mittelstaaten wie Bayern, Württemberg und Baden überlebte die Revision des Wiener Kongresses und bildete eine der Voraussetzungen dafür, dass später die deutsche Nationalstaatsbildung in föderativen Bahnen verlief.
Kann man Lehren aus der Zeit ziehen? Heute, da Europa nach einem Weg in die Zukunft sucht? Da Nationalisten sich breit machen, die Europa sprengen könnten.
Müchler: Man sollte mit den sogenannten Lehren aus der Vergangenheit generell vorsichtig sein. Aber wenn Sie unbedingt wollen, kann man zweierlei lernen: Erstens, dass die Wirklichkeit nicht alternativlos ist, sondern veränderbar. Zweitens, dass die alte Tante Europa ein wunderbares Grundgesetz hat. Sie lässt sich auf die Dauer die Vorherrschaft eines Staates nicht gefallen.
p.s. Ich habe die neue Biografie von Günter Müchler über Napoleon noch nicht gelesen. Das kommt später. Aber einer, der es wissen muss, Ulrich Wickert, ein Frankreich-Kenner par excellence, der Jahre in Paris gelebt und dort als Journalist gearbeitet hat, ist des Lobes voll. Wörtlich schreibt Wickert: „Ein ganz neuer Napoleon: In seiner großartig erzählten Studie zeigt Müchler uns den Kaiser der Franzosen, wie er getrieben wird von den Alten Mächten ebenso wie von den Errungenschaften der Revolution.“ Und der deutsch-französische Historiker Etienne Francois kommt zu dem Urteil: „Eine spannende, glänzend geschriebene und anregende Biographie Napoleons, die überzeugend darlegt, dass er der Kaiser der Revolution gewesen ist.“
Der Autor: Dr. Günter Müchler, Jahrgang 1946, ist ein passionierter Frankreich-Kenner, der einige Jahre in Paris gelebt. Müchler hat sich viele Jahre mit der französischen Revolution und Napoleon beschäftigt, über den er vier Bücher geschrieben hat.. Er hat Geschichte, Politikwissenschaft und Zeitungswissenschaft studiert, hat für Zeitungen wie die „Augsburger Allgemeine“ und die „Kölnische Rundschau“ aus Bonn berichtet, wurde später Chefredakteur und Programmdirektor des Deutschlandfunks. Er lebt in Köln.