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Auch ich bin nicht gefragt worden… – Anmerkungen zu einem schwierigen Leben

Gabriel Heine Von Gabriel Heine
12. Dezember 2020
Rollstuhl

Ich will versuchen zu erklären, wie schwer das ist, sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu müssen, die nicht schnell genug ist, nicht gelenkig genug ist, die auf jeden Fall öfter der Hilfe bedarf, fremder Leute, anderer Leute. Es ist für mich seit Jahren irgendwie immer noch neu, zu begreifen, dass ich allein durch meinen Anblick der Unbeholfenheit Leute zur Aufmerksamkeit nötige. Eigentlich möchte ich am liebsten unsichtbar und schnell an dem Punkt angekommen sein, wo ich hin will, ohne durch meine Sichtbarkeit einen Ärger an mich ran zu ziehen. 

Ich habe früher – als ich noch richtig schnell rennen konnte – auch ein ziemlich unsicheres Verhältnis gehabt zu Leuten, die irgendwie einen behinderten Eindruck gemacht haben. 

Und ich weiß noch ganz genau, dass es dann jedoch für mich selbst anfangs extrem wichtig war, nicht so zu wirken, dass ich irgendetwas wie Rücksichtnahme oder Anteilnahme oder Aufmerksamkeit bräuchte, und ich versuchte, möglichst schnell und unauffällig zu sein, dass sich überhaupt keinerlei Blicke an mich heften konnten.

Inzwischen ist es halt ganz anders, weil ich das überhaupt nicht mehr so locker regulieren kann. Ich kann weder beschleunigen, wenn die Straßenbahn kommt, noch diesen zauberhaften Knopf drücken und überhaupt nicht mehr da sein. 

Was ich besonders furchtbar finde, ist zum Beispiel eine Straße entlang zu kommen, meinetwegen schon ziemlich erschöpft und nur an einer Krücke, wie also vor drei Jahren immer noch ganz tapfer durchgezogen, und mich sehr mühe und sehr viel Angst habe und viel zu viel gegen die Schwerkraft unternehmen muss, um überhaupt einen Schritt zu machen und noch einen Schritt und noch einen Schritt und wenn dann sozusagen am Ende einer Straße mich jemand von Weitem mustert, taxiert, es nicht für nötig hält, den Blick überhaupt mal abzuwenden von mir, aber vorher gar nicht in einen Blickkontakt gerät mit mir, einfach weiter von unten nach oben, von oben nach unten kuckt, was ich nun an Bewegungen monströs vollführe, und ich mir dann vorkomme wie in irgendeinem dieser grauenhaften Kommerzsender mit ihren voyeuristischen Nachmittagsprogrammen. Die kucke ich ja nun schon gar nicht, aber da reicht schon eine halbe Minute, die ich davon sehe, um mir vorzustellen, wie die Verrohung der Zuschauer vonstatten geht, in diesem grauenhaften Publikum. Was da nachmittags abgeht, das ist ja eigentlich eine Art Loser-Fernsehen geworden. Und die völlige Empathielosigkeit, mit der da das Werberahmenprogramm gefüllt wird, das erschreckt mich sehr – aber dann am eigenen Leibe zu spüren, dass ich zu den Leuten gehöre, die eigentlich, … ja, wo Leute unheimlich gerne vielleicht abfällige Regungen endlich mal spüren können. … Dass ich das sozusagen auslösen darf, das macht mich total hilflos und wütend gegen mich selbst. Und ich kann dann aber nicht raus, ich kann nicht aus der Situation raus.

Es gibt auch andere Situationen, in denen ich es kaum aushalte und dann wirklich jemanden, der mich so bescheuert ankuckt, dann dem ins Gesicht sage, meinetwegen: „Das hilft mir jetzt nicht, Ihr Starren“, ja. Oder ich kucke dann einfach sehr lange intensiv zurück, bis ich sie zwinge, den Blick von mir zu lösen. Es gibt zum Beispiel auch so Leute, die, auch wahrscheinlich mehr oder weniger arbeitslos, nachmittags auf ihren Balkons hängen und dann auch immer starren, starren, starren, Straße rauf Straße runter. Und es ist mir sowieso schon furchtbar, wenn ich mir überlege, was das für ein Leben ist, das die da haben, dann finde ich mich im Vergleich ja noch gerade so zurecht mit meiner Behinderung.

Ich mag dieses Wort Behinderung überhaupt gar nicht, das klingt für mich nur ausgrenzend, wie ein warnendes Etikett, als Hinweis, solche Leute nicht ernst zu nehmen, denen sichtbar etwas fehlt, an Fähigkeiten, an Beweglichkeit, und vor allem an Unabhängigkeit.  Schimpfwörter wie „Du Opfer“, „ Du Spast“, oder die Redensart unter Jugendlichen „Äh, bist du behindert?“ sind nach wie vor hoch im Kurs. Ich frage mich, ob eigentlich Lehrer und andere Pädagogen ihre Verantwortung ernst nehmen, und auch in dieser Hinsicht über „anteilnehmendes Denken“ mit ihren Schüler*innen kommunizieren. Manchmal fürchte ich, dass sie angesichts zunehmender Verrohung resigniert haben, ein Teufelskreis.

Also, ich will das noch mal deutlich machen, dass es natürlich nicht nur arbeitslose Leute sind, die einen Mitbürger – der oder die in der Mobilität deutlich eingeschränkt sind – blöd ankucken, sondern alle möglichen Leute. Aber manche wirken so frustriert, dass ich das Gefühl habe, aus welchen Gründen Leute auch immer frustriert sind, sie haben sich eigentlich abgewöhnt zu begreifen, dass es unfreiwillig eingeschränkte Menschen sind, zwar eingeschränkt tauglich, aber Menschenwesen, die ihnen entgegenkommen und nicht irgendwelche Monstrositäten, die sie im Fernsehen auch schon mal begafft haben. 

Das andere ist, dass sich diese Art von Schaden auch für mich relativiert, also sicher auch durch einige Aufenthalte in der Reha-Klinik, wo Leute sich zum Erholen und zum Training einfinden dürfen, die körperlich noch viel mehr eingeschränkt sind als ich. Aber, gerade weil das auch etwas Entlastendes hat, wünsche ich mir manchmal, dass alle Leute ein bisschen langsamer wären, also WIR Alle! 

Ich würde mir wünschen, dass über den Begriff der Behinderung viel mehr öffentlich diskutiert wird. In Amerika sagen die Bürger*innen zum Beispiel nicht behindertengerechtes Bauen oder so, sondern sagen einfach barrierefreies Bauen, das ist natürlich viel angenehmer. Und hier – in Deutschland und in Frankreich – gibt es zum Beispiel den Begriff der Invalidität. Auch in den offiziellen Verlautbarungen steht Invalide und ich finde, dass es wichtig ist, sich dieses Wort mal ganz konkret vor Augen zu halten, denn „invalide“ heißt nichts anderes als unwert. Da sind wir wieder in unserer faschistischen Vergangenheit, da die Nazi-Massenmörder ja noch ganz anders mit den schwer beschädigten Menschen verfuhren, Stichwort „Euthanasie“ aber ich befürchte andererseits, dass dieses weite Feld der Sterbehilfediskussion (…) Naja. 

Ich bin nicht so optimistisch, ob und wie sich in Deutschland die Menschenfeinde so langsam wieder dieser Art von Krisen-Ökonomie annähern. Es erschreckt mich zutiefst, dass dieses holländische Modell der Sterbehilfe erweitert wurde. In Belgien dahingehend, dass zum Beispiel auch psychisch Kranke ausdrücklich dazu aufgefordert werden, die Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, und dass das überhaupt kaum öffentlich diskutiert wird, das finde ich ganz schrecklich, weil ich glaube, dass Leute, die sowieso fertig sind, und Leute, die sich ausgesondert fühlen und die eigentlich kaum noch durch diese Gesellschaft – „trotzalledem und alledem“ – ein gutes Gefühl der Daseinsberechtigung entwickeln können – das hängt wieder zum Beispiel mit dem Problem der Arbeitslosigkeit generell zusammen, dass Leute, die sich schwach fühlen, erst recht denken, sie dürfen eigentlich hier nichts in Anspruch nehmen, aber dass das eigentlich alles in einer Zeit ökonomischer Krisen, wo gerade die Leute, die langsam sind und die wirklich nicht so schnell sein können, wie sie aber sollten – das ist doch unheimlich bedrohlich. 

Und vergessen wir nie auch die „Euthanasie“- Verbrechen unserer Vorfahren in Deutschland.

Kurz nach dem Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin versuchte ich auch mal, mit zwei Unterarmstützen in einen Bus einzusteigen, was schwer war und dann die Leute noch unter dem Schock von diesem Crash, von dieser Mordtat, auch von diesen zunehmenden  Wahnsinnstaten so irgendwie benommen schienen und irgendwie plötzlich wieder an ihre Überlebensinstinkte gemahnt wurden, dass ich fast Glück hatte, denn da waren die Leute sehr aufmerksam und hilfsbereit. Es gibt so Zäsuren, die eigentlich alle betreffen, wie gerade jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie.

Klasse ist eine unvergessliche  Formulierung, die ich an einem wunderschönen Sonnentag am Rheinufer hörte von der Bäckersfrau, die mir die köstliche Apfeltorte auf der Café-Terrasse servierte. Sie registrierte den praktischen E-Rollstuhl und sagte: „Ja, Sie sind eben auch nicht gefragt worden.“ Zunächst erschrak ich, aber nur kurz, denn sie lächelte, dabei ganz ernsthaft, und dann verstand ich ihr unbedingtes Wohlwollen, mir und meinem Zustand gegenüber: auch nicht gefragt, genau, wie die vielen anderen Lahmen, diese Unglücklichen, nicht gefragt worden sind, ob sie dieses Schicksal ertragen wollen. Nein, wir Alle hätten dankend abgelehnt. So aber bleibt bei jedem beeinträchtigten Einzelwesen die Entscheidung:

Möchte ich leben? Ja, auch wenn es oft wirklich sehr anstrengend ist, und es aber doch eigentlich etliche Möglichkeiten gibt, die alltäglichen Hürden abzubauen – konkret und in den Köpfen und eben auch in den Seelen – wenn sich bitte deutlich mehr Bürger*innen auch politisch dafür engagieren!

Bildquelle: Pixabay, Bild von Engin Akyurt, Pixabay License

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Tags: EmpathieGesellschaftGruppenzugehörigkeitHandicapSchwieriges LebenSolodaritätSoziale IsolationVerständnisVorurteile
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