Das Buch „Das Verschwinden des Holocaust“ entdeckte ich zufällig zur gleichen Zeit, da die Medien wieder einmal darüber berichteten, dass junge Leute sich unflätig in Gedenkstätten einstiger Konzentrationslager verhielten. Sie machten Witze, las ich, lachten, den Ausführungen über die Vernichtung der Juden hörten sie kaum noch zu, es schien sie nicht zu interessieren. An anderer Stelle las ich von Schmierereien und Pöbeleien gegen Menschen, die ihrem Hass gegen Juden freien Lauf ließen. Und was mich dann noch störte, war, dass die die Schüler begleitenden Lehrer nicht selten in den Cafés der ehemaligen Mordfabriken saßen und Zeitung lasen. Hat sich auch hier die vielfach zu beobachtende Gleichgültigkeit durchgesetzt, wie unsere Gesellschaft erfasst zu haben scheint? Das „Mir doch egal“?
Das Buch des Historikers Jan Gerber ist schwerer Stoff, es eignet sich nicht als Bettlektüre, die man nach einigen Minuten wieder an die Seite legt, um dann beruhigt einzuschlafen. Der Leiter des Forschungsressorts Politik am Leibnitz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Uni Leipzig geht der Frage nach, warum unsere Gesellschaft sich dieses Themas so spät annahm, sehr zögerlich dazu. Über Jahre schien es vergessen zu sein, dabei war es ein Menschheitsverbrechen, ein Zivilisationsbruch, begangen von Deutschen an anderen Menschen, weil sie Juden waren. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden von den Nazis in ganz Europa vernichtet, weil sie Juden waren. Nichts anderes warf man ihnen vor.
Die Nazis gingen systematisch vor, wie die Wannsee-Konferenz 1942 zeigte. Da saßen 15 hochrangige Vertreter der Nazi-Regierung und der SS-Behörden zusammen, um unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich darüber zu reden, wie der schon begonnene Holocaust weiter zu organisieren und die Zusammenarbeit der beteiligten Instanzen zu koordinieren sei. Man sammelte auch Fakten, Daten wie die Anzahl der in den europäischen Staaten lebenden Juden, darunter in Polen und der Sowjetunion. Man schrieb das wie in einer Tabelle und kam auf insgesamt 11 Millionen Juden. Sie wollten sie alle zu fassen kriegen, um sie zu vernichten. Sie ermordeten sechs Millionen. Heydrich hatte von Hermann Göring, der später in Nürnberg jede Verantwortung abstrich, den Auftrag erhalten: Endlösung der Judenfrage. Protokollant war Adolf Eichmann, Heydrichs Referent für Judenangelegenheiten. Heute ist die Villa eine Erinnerungsstätte für den Holocaust. Ich habe sie in meinen Berliner Jahren nach 2000 besichtigt.
Wer über das Verschwinden des Holocaust ein Buch liest, sollte selber mal nachdenken, wann ihm denn das Thema in der Schule oder zu Hause begegnet ist. In meiner Schulzeit- ich bin Jahrgang 1941- wurde darüber kein Wort verloren, auch zu Hause wurde darüber nicht geredet. Ich meine die Jahre nach 1945. Da ich vom Holocaust nichts wusste, konnte ich auch keine Fragen stellen. In den mir damals bekannten Medien fand das Thema nicht statt.
Sonst landest Du in Dachau
Immer wieder, auch nach 1945, wurde darüber mehr gemunkelt als offen geredet. Später vermutete ich zumindest bei den Geschichtslehrern das schlechte Gewissen, weil sie wie Millionen andere NSDAP-Mitglieder gewesen waren. Viele Deutsche wussten vom Verschwinden des jüdischen Nachbarn, der abgeholt worden war von den Männern in den schwarzen Ledermänteln und in entsprechenden dunklen Autos davongefahren wurde. Er kehrte nie zurück. Ja auch aus Angst wurde in der Nazi-Zeit darüber nicht geredet, man fürchtete, verpfiffen zu werden, man hatte Sorge, in einem KZ zu landen. Es gab den Spruch hinter der vorgehaltenen Hand: Vorsicht, sonst landest Du in Dachau.
Das Verschwinden des Holocaust. Aus schlechtem Gewissen. Oder weil man nur den Wiederaufbau im Kopf hatte? Wie Konrad Adenauer, der kein Nazi war, aber die Zeit totschweigen wollte. Deshalb wurde die Nazi-Zeit verdrängt? Weil sie, wie der AfD-Ehrenvorsitzende Gauland formulierte, nur ein Fliegenschiss in der ach so ruhmreichen deutschen Geschichte war? Sind sechs Millionen ermordete Juden nur ein Fliegenschiss?
Ich habe von Auschwitz nichts gewusst. Erst die Frankfurter Prozesse brachten die systematische Vernichtung von Millionen Juden durch Deutsche in manche Wohnzimmer deutscher Familien. Aber selbst die 68er Studenten machten das Thema nicht zum Drama, das die Nation durchgeschüttelt hätte, es dauerte bis 1977, da erst explodierte es. Der Fernsehfilm über den Holocaust ließ viele Deutsche erstarren, erst da wurde der Bevölkerung bewusst oder vor Augen gehalten, was in deutschem Namen geschehen war. Viele wurden daran erinnert, was sie verdrängt hatten. Aus dem Volk der Dichter und Denker war ein Volk der Richter und Henker geworden.
Als Journalist war ich dann in Polen. Mit dem damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau nahmen wir am 1. September 1989 an einer Gedenkveranstaltung aus Anlass des 50.Jahrestages des Beginns des 2.Weltkrieges teil. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, ein geschichtsbewusster CDU-Politiker, lehnte seine Teilnahme an den Feierlichkeiten ab. Ich habe bis heute nicht verstanden warum. Ich habe den Besuch in Polen dazu genutzt, um mit einem polnischen Taxi nach Auschwitz zu fahren. Etwas Schlimmeres hatte ich in meinem Leben nicht gesehen. Auschwitz, die Todesfabrik der Nazis, gebaut, um Juden aus Europa zu ermorden. Gaskammern, errichtet, damit darin Juden elendig starben. Später begleitete ich den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auf Reisen in die ehemaligen Vernichtungslager Treblinka und das KZ Theresienstadt. Ich habe auch die Gedenkstätten Bergen-Belsen gesehen, Mauthausen in Österreich. Vor wenigen Jahren war ich in Dachau.
Einmaliges Verbrechen
Der Holocaust ist ein einmaliges Verbrechen, nicht vergleichbar mit den Massenmorden der Roten Khmer oder den Atombomben-Toten in Hiroshima und Nagasaki. Nichts hält den Vergleich mit der Vernichtung der Juden durch eine deutsche Regierung aus, die aus Mördern bestand, Mord als ihr wichtigstes Instrument der Politik. Ermordung von Menschen, weil sie Juden waren. Man hatte ihnen vorher alle Rechte genommen, hatte sie erniedrigt, gedemütigt, sie mussten nackt in der Kälte stehen, die Haare hatte man ihnen abrasiert, sie hatten keinen Namen mehr, nur noch Nummern.
Die Erinnerung an den Holocaust, jetzt, da die Zeitzeugen fast alle tot sind, darf nicht sterben. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Menschheitsverbrechen, begangen von Deutschen, aus den Köpfen verschwindet. Die Kinder und Kindeskinder müssen es erfahren, was möglich war, damit es nie wieder geschehe. Sie müssen lernen, was aus Hetze und Hass und Nationalismus werden kann. Die Verbrechen der Nazis waren so unvorstellbar, dass sie manche nicht glaubten, weil sie es sich nicht vorstellen konnten, dass Menschen zu so etwas fähig sind. Ein Buch wie das von Jan Gerber gehört zur Pflichtlektüre in deutschen Gymnasien und Gesamtschulen.













