Als Willy Brandt und Walter Scheel am 7. Dezember 1970, vor 55 Jahren, in der polnischen Hauptstadt den Warschauer Vertrag unterzeichneten, mussten beide mit dem Widerstand einer starken deutschen Minderheit rechnen. Stellten doch beide Seiten in dem Abkommen fest, dass die Oder-Neiße-Linie künftig die westliche Staatsgrenze Polen bilde und Ostpreußen, Pommern und Schlesien zu Polen gehören. Der Vertrag gebe nichts preis, versicherte Brandt noch von Warschau aus, „was nicht längst verspielt worden“ sei und zwar nicht von denen, die in der Bundesrepublik Verantwortung trügen, „sondern von einem verbrecherischen Regime, dem Nationalsozialismus“. Große Worte, wichtige Worte eines Kanzlers der Versöhnung, was aber „mehr beachtet wurde als Ansprachen und diplomatische Vereinbarungen, war eine persönliche Geste von Willy Brandt, die als Bild um die Welt ging: Brandt gedachte der Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943, indem er nach der Kranzniederlegung an der Gedenkstätte für die gefallenen und ermordeten Juden niederkniete.“ So hat es Heinrich August Winkler, der große Historiker, in seinem Buch „Geschichte des Westens“ aufgeschrieben. Winkler stammt selbst aus Königsberg, was heute Kaliningrad heißt und ein Teil von Russland ist.
Er bekämpfte die Nazis und floh
Auch 55 Jahre danach erstaunt man ob der Geste eines Mannes, der es eigentlich nun wirklich nicht nötig hatte, niederzuknien und um Verzeihung zu bitten. Wieso er, Willy Brandt, der kein Nazi war, nicht mal Mitglied der NSDAP wie Millionen andere. Der keine Geschäfte gemacht hat mit dem Regime der Verbrecher um Hitler, Goebbels, Göring, Himmler, Heydrich oder dem Polen-Schlächter Frank. Der nie mit ihnen sympathisierte, sondern, der sie bekämpfte. Der vor den Nazis nach Skandinavien floh, um sein Leben zu retten. Er, den nicht nur viele Heimatvertriebene nicht nur nicht mochten, einige hassten ihn. Er musste sich gefallen lassen, dass man ihm in der Bundesrepublik Morddrohungen ins Haus schickte. Dass die CSU, einer wie Franz-Josef Strauß ihn fragte, wo er, Brandt denn gewesen sei während der Nazi-Jahre. Strauß wusste die Antwort: Brandt war ein Emigrant, was bei den Rechten in Deutschland unbeliebt war. Dabei war das kein schönes Leben, irgendwo im Ausland als Deutscher leben zu müssen, als die Nazis die halbe Welt erobert und Millionen ermordet hatten.
Hermann Schreiber, ein wirklich großer Autor des „Spiegel“, war dabei in Warschau, er stand nicht weit weg von Willy Brandt. Seine Beschreibung der Szene ist von vielen Medien übernommen worden, weil sie beispielgebend war, unübertroffen. „Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabeigewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet- dann kniet er nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien- weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er für Deutschland.“ Feiner kann man es nicht schreiben.
Sie bezichtigen ihn des Verrats
Aber natürlich muss dieser Willy Brandt, den seine Gegner oft mit Schmutzwasser übergossen, das besser zu ihnen selber passte als zu diesem Mann, sich auch dieses Mal verteidigen. Also wurde ihm unterstellt, er habe sich diese Geste schon vorher überlegt, wohl kalkuliert. Und sofort bezichtigen sie ihn des Verrats, weil er die Ostgebiete an die Kommunisten verkauft habe. Viele wissen nicht mehr, wie das Klima in Deutschland damals war, mit welcher Lautstärke die Gegner Brandts seine Ostpolitik bekämpften, mit welchem Hohn und Spott sie ihn belegten, in Karlsruhe klagten, die Vertrauensfrage stellten, die Barzel verlor wie die Union die folgende Neuwahl.
Dabei war dieser Kniefall ein Zeichen der Demut und der Verantwortungsbereitschaft, so wie Brandt war, aber auch „eine spontane Gebärde der Übermannung“, wie der Spiegel-Autor weiter schreibt. Und wer je in Warschau war an dieser Stelle und sich der historischen Bedeutung des Platzes bewusst war, wird das bestätigen. Ähnliche Gefühle können den Besucher von Auschwitz zum Schweigen bringen, zum Erstarren ob der Bilder der Grausamkeit der Täter an ihren Opfern.
Aufstand der Tapferen
Klaus Vater hat über den Ort in Warschau und das Datum im Blog-der-Republik geschrieben. Und dabei auch an Hermann Schreiber erinnert, kurz nach dessen Tod im April 2020. „Am 19. April 1943 war dort, wo Brandt kniete, der erste Warschauer Aufstand ausgebrochen. Am 19. April 1943 hatten sich zwischen 1000 und 1300 polnische Juden gegen die nationalsozialistischen Unterdrücker erhoben. Mit einigen hundert Pistolen und Gewehren und etwas Dynamit gegen SS und SD und Wehrmacht…. Der erste Aufstand …dauerte 28 Tage, dann konnte die SS Vollzug melden. Ausgelöst hatte den Aufstand der unbeschreiblich Tapferen die Tatsache, dass die Nazis das Warschauer Ghetto auflösten und die Juden nach Treblinka abtransportieren wollten. .. Es war ein verzweifelter Kampf.. Einer der wenigen Überlebenden hieß Marek Edelmann. Es ist ihm gelungen, zu fliehen. 1944 war er wieder dabei, als Polen den Aufstand gegen die Nazis versuchten.“ Beim Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 kamen 7000 Aufständische und die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ums Leben. Sie wurden ermordet oder in Vernichtungslager transportiert, man schätzt die Zahl der Todesopfer auf rund 100000. Beim Aufstand 1944 kamen bis zu 200000 polnische Zivilisten und rund 20000 Kämpfer der Heimatarmee ums Leben. Auf deutscher Seite gab es bis zu 15000 Tote und Vermisste. Über 85 Prozent der Warschauer Altstadt wurden von den Nazitruppen zerstört.
Willy Brandt schrieb später in seinen Erinnerungen zum Kniefall: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Noch ein paar Worte zum Kniefall: unmittelbar nachdem Brandt einen großen Kranz mit weißen Nelken niedergelegt und die Schleife zurecht gezupft hatte, trat er ein paar Schritte zurück, dann sank er unvermittelt auf die Knie, Bundesaußenminister Walter Scheel, der rechts hinter ihm stand, war ebenso überrascht wie der polnische Ministerpräsident Jozef Cyrankiewicz, ein Überlebender des KZ Auschwitz, selbst Brandts engster Vertrauter, Staatssekretär Egon Bahr war irritiert, Bahr stand einige Meter entfernt von der Szene im Gespräch mit dem Krupp-Chef Berthold Beitz, einer, der Juden vor den Nazis rettete und später geehrt wurde in Yad Vashem. Carlo Schmid gestand, er habe gebetet. Brandt wirkte wie versteinert, schrieb Hermann Schreiber, sein Blick ging in die Ferne, eine halbe Minute verharrte der Bundeskanzler am Boden. „Die Fotografen und Kameramänner wissen, dass sie Bilder machen, die um die Welt gehen.“ SZ-Chefreporter Hans Ulrich Kempski wirkte selber fast atemlos: „Brandt braucht Sekunden, die den Zeugen der Szene endlos erscheinen, bis er wieder steht. Es sieht aus, als brauche er alle Kraft, um Tränen niederzukämpfen.“
6 Millionen Opfer in Polen
Ein Bild, das um die Welt ging, das mehr für Deutschlands Ansehen sorgte als vieles andere, weil Willy Brandt eben das andere Deutschland verkörperte und der dennoch von den Rechten als Vaterlandsverräter angegriffen wurde. Zur Erinnerung noch eine Zahl, die das Grauen der deutschen Herrschaft in Polen verdeutlicht: Zwischen 1939, dem Beginn des 2.Weltkrieges mit dem Angriff der Nazis auf die Westerplatte am 1. September des Jahres, und 1945, dem Ende des Krieges, kamen allein 6 Millionen Polen ums Leben, bezogen auf die Bevölkerungszahl hatten die Polen die meisten Opfer zu beklagen. Und noch eins: viele KZ-Vernichtungslager betrieb die SS in Polen, in Auschwitz, 60 Kilometer von Krakau entfernt, kamen eine Million Juden ums Leben, die meisten wurden vergast.
Der „Spiegel“ gab damals beim Allensbacher Meinungsforschungsinstitut eine Umfrage in Auftrag: „Durfte Brandt knien?“ 41 Prozent der befragten Deutschen hielten die Geste für angemessen, 48 Prozent hielten sie für übertrieben. Hansjakob Stehle schrieb 1970 in der „Zeit“: „Ob die Bundesrepublik einen solchen Kanzler schon verdient? flüsterte mir ein polnischer Beobachter bewegt zu.“ Und in der „Washington Post“ war zu lesen: „Noch nie in der Vergangenheit saß in Deutschland ein Mann von größerer Integrität und mit mehr Hingabe an die demokratische Praxis und die Ideale des Friedens im Sattel als Willy Brandt.“ Und die London „Times“ urteilte über den Friedensnobelpreisträger Willy Brandt: „Er ist ein guter Deutscher, ein guter Europäer und- so weit man eine solche Persönlichkeit definieren kann- ein guter Weltbürger.“
Lehren für die Gegenwart
80 Jahre nach dem 2. Weltkrieg und 55 Jahre nach Brandts Kniefall schreibt Christina Meyer in einem Beitrag für die „Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung“ unter dem Titel „Lehren für die Gegenwart: Deutschland stehe vor einer doppelten Herausforderung: „Einerseits darf sich unsere Geschichts- und Erinnerungspolitik nicht in Ritualen erschöpfen, mit denen sich jüngere Menschen ohne Bezug zu den damaligen Ereignissen nicht mehr identifizieren können. Gefragt ist eine historisch-politische Bildung, die Wissen über die deutschen Verbrechen während der NS-Zeit vermittelt- erst recht in Zeiten eines erstarkenden Rechtsextremismus, der die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost. Andererseits reicht es nicht mehr, die Losung „Nie wieder Krieg“ als Appell zur militärischen Zurückhaltung Deutschlands zu verstehen: Eine wehrhafte Demokratie -nach innen und nach außen- braucht nicht nur ein kritisches Geschichtsbewusstsein, sondern auch die Fähigkeit zur Verteidigung. Historische Verantwortung bedeutet auch, gegen neue autoritäre und diktatorische Regime Stellung zu beziehen. Das hätte auch Willy Brandt so gesehen.“











