Als Adolf Hitler sich am 30. April 1945 in seinem Bunker in Berlin erschießt, ist Heinrich-August Winkler gerade mal sieben Jahre jung. Die Nachricht vom Tod des Führers wird erst einen Tag später, am 1. Mai 1945 durch Karl Dönitz, den Großadmiral und Nachfolger Hitlers im Rundfunk verkündet. Heinrich-August Winkler erfährt davon durch die Großmutter. Sie sagt zu ihm: „Hitler ist tot.“ Natürlich kann Heinrich-August Winkler den Wert dieser Nachricht nicht einordnen. Wie auch? Was weiß man schon mit sieben Jahren?! Also fragt er die Oma, ob das gut sei. Sie bejaht und fügt dann sinngemäß hinzu, „es kämen aber noch schwere Zeiten auf die Deutschen zu.“ Winkler selber räumt in seinen Erinnerungen „Warum es so gekommen ist“ ein, dass er es später verstand, was das nun wieder bedeuten sollte. „Jetzt würden die Deutschen für die Verbrechen der Nazis zur Rechenschaft gezogen“.
Im Grunde ist es das Lebensthema Winklers geworden, wenn ich das so verkürzen darf. Aus dem Jungen, der 1938 in Königsberg geboren wurde und der mit Mutter und Großmutter am 5. August 1944 die ostpreußische Kant-Stadt verließ, weil seine Mutter nach Württemberg ausreisen durfte, wo sie eine Stelle als Aushilfslehrerin an der Urspringschule bei Schelklingen erhielt. In diesen August-Tagen, schreibt Winkler, habe seine kontinuierliche Erinnerung eingesetzt. Dass es ein Abschied für immer werden sollte, würden die Erwachsenen geahnt haben, so steht es in dem Buch, mit ihm hätten sie darüber nicht gesprochen. Der Junge Winkler erinnert sich an die Verabschiedung von Bekannten auf dem Hauptbahnhof der ostpreußischen Hauptstadt, an die Fahrt ins stark zerstörte Berlin, die Weiterfahrt über Leipzig
und Crailsheim nach Ulm. „Dort trafen wir am 6. August 1944 ein. Drei Wochen später, in der Nacht vom 26. zum 27. August wurde die Königsberger Innenstadt durch einen britischen Fliegerangriff zum größten Teil zerstört.“ So die Schilderung des Autors.
Hitler hätte verhindert werden können
„Warum es so gekommen ist“, hat Heinrich-August Winkler die „Erinnerungen eines Historikers“ genannt, seine Erinnerungen. Und er betont, dass er sich bewusst mit diesem Titel abgrenze von dem, was einst einer der bedeutendsten Historiker der deutschen Geschichte, der Preuße Leopold von Ranke als Leitlinie des Geschichtsforschers aufgeschrieben hatte: die Historiker sollten „bloß sagen, wie es gewesen ist.“ Doch damit gab und gibt sich Winkler nicht zufrieden. Nach Hitler müsse die Frage anders heißen, denn sie müsse Antworten finden, „warum es so gekommen ist. Es ist die Frage, von der ich in allen meinen Schriften ausgegangen bin. “ Um eines vorwegzunehmen aus der Fülle dessen, was der große Historiker Heinrich-August Winkler seinen Lesern immer wieder präsentiert hat: Hitler hätte verhindert werden können.
Ich blende mal kurz in meine Kindheit zurück. Als der Krieg zu Ende ging, war ich vier Jahre jung. Ich konnte mit dem Thema nichts anfangen, weiß nur noch Bruchstücke aus jener Zeit, die für mich irgendwo 1944 beginnt. Ich erinnere mich, wie die Eltern mich in der Nacht weckten, weil wieder mal Flieger-Alarm gegeben wurde. Sie rannten mit mir und den anderen vier Kindern durch den Garten-Weg des Nachbarn Richtung eines kleinen Bunkers. Leider hatte der Nachbar sein Kohl-Gemüse in voller Länge stehen lassen, es hatte sich in einer Höhe von einem halben Meter über den Weg gelegt, es war voller Wasser. Die Folge war, dass ich kleiner Junge pitschnaß im Bunker ankam. Ich kann mich noch an den ersten farbigen Menschen erinnern, der vor unserem Bunker stand. Bewaffnet, mit Helm. Es war, wie es hieß, ein Ami, der Krieg war vorbei. Er ließ uns passieren. Die Brücken über den Kanal waren gesprengt, der Kanal war ausgelaufen. Wir Kinder konnten durchspazieren, es war nicht ungefährlich, weil überall Waffenreste herumlagen. Ein Cousin von mir wurde, als er eine Handgranate im angrenzenden Wald entdeckt und in die Hand genommen hatte, getötet. Die Zerstörung des Ruhrgebiets bekam ich nicht mit, wir wohnten am Rande des Dorfes Henrichenburg auf dem Land. Da fielen nur Bomben, wenn die Bomber-Staffeln der Amerikaner und Briten auf dem Rückflug die eine oder andere Bombe an Bord ihrer Maschinen vergessen hatten, sie ließen sie dann über Wäldern fallen. Sie hinterließen Bombentrichter, die mit Wasser zuliefen und im Winter zufroren. Wir spielten darauf Eishockey.
Zurück zu Winkler. Von Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, nach Ulm, Freiburg, Berlin, wo der Hochgelehrte Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität lehrte. Winkler trifft die politische und kulturelle Klasse des Landes, der er selber angehört. Er nimmt die Leser in seinen Erinnerungen mit auf seine lange Reise, lässt sie teilhaben an seinen Gesprächen und Disputen, an seinen Begegnungen mit Konrad Adenauer und Willy Brandt, er nimmt sie mit auf seine Reisen nach Polen und in den anderen Teil Deutschlands, der damals noch DDR hieß. Die deutsche Teilung und ihre Überwindung haben es ihm angetan, wie der Weg des Westens, den er bedroht sie und den zu erhalten er mehr als empfiehlt. Er begegnet Gerhard Schröder und Wolfgang Schäuble, er redet mit den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Johannes Rau, die Intellektuellen Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf sind seine Gesprächspartner. Hans Rothfels, Professor für Geschichte, einer seiner Lehrmeister und Doktorvater.
Er verlässt die CDU wegen Adenauer
Winkler ist historischer Forscher, aber auch einflussreicher Intellektueller, der sich einmischt in die politischen Debatten. Der dem Kanzler Adenauer die Freundschaft aufkündigt und die CDU verlässt, weil ihn Adenauers widerliche Wahlkampfführung gegen Willy Brandt alias Herbert Frahm, gegen das uneheliche Kind, empört. Wolfgang Schäuble hat Adenauer dies in seinen Erinnerungen angekreidet und nannte es „unanständig.“ Winkler schließt sich der SPD an, auch weil er die Ostpolitik Brandts und seine Aussöhnung mit dem Osten gutheißt. Was Winkler später nicht daran hindert, derselben SPD ihre falsche Ostpolitik vorzuhalten, weil die Genossen lieber mit der kommunistischen Nomenklatura in Ostberlin wie in Warschau redet als mit den Oppositionellen. Ich erinnere mich an einen Besuch mit SPD-Chef Hans-Jochen Vogel in der polnischen Hauptstadt, wo er Kontakte mit Reformkräften mied und das Grab des ermordeten polnischen Priesters Popieluszko in aller Herrgottsfrüh aufsuchte, ohne Fernsehen, ohne uns Journalisten. Verstanden habe ich es nicht. Popieluszko war katholischer Priester, Seelsorger der Opposition um die Gewerkschaft Solidarnosc, der 1984 von Offizieren des polnischen Geheimdienstes ermordet worden war.
Winkler weiß bei seiner Kritik, wovon er redet und worüber er schreibt, er war viele Jahre mit dem polnischen Oppositionellen und späteren Außenminister Borislaw Geremek eng befreundet. Die SPD wird mit ihm leben müssen, einfach ist das nicht, weil der Historiker Winkler unerbittlich ist, indem was er meint, er verbiegt sich nicht, um des billigen Beifalls anderer Leute. Das macht ihn so stark und glaubwürdig.
Er preist die SPD und kritisiert sie
Gefällig ist Winkler nie, er bezieht Stellung. Seiner SPD singt er einst eine Hymne, als er sie preist, sie habe 1933 mit ihrem Nein zum Ermächtigungsgesetz die Ehre der deutschen Republik gerettet. Berühmt sind die Worte von SPD-Chef Otto Wels: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Andererseits geht Winkler auf Gegenkurs zu Erhard Eppler, dessen folgende Äußerungen von ihm heftig widersprochen wurden: „Verglichen mit Stalins Säuberungen und Hitlers Rassenwahn ist Putins gelenkte Demokratie human.“ Diese Art Geschichtsklitterung lässt Winkler nicht gelten. Wörtlich sagte er: „Werte sind immaterielle Interessen, und höhere Interessen gibt es nicht. Wenn der Westen das vergisst, hat er den Zweikampf der Systeme verloren.“ Winkler ist bis heute ein scharfer Kritiker jener, die sich Illusionen darüber machen, mit Putin zu einer Friedenslösung zu kommen.
Auch Angela Merkel bekommt die Kritik des Historikers Winkler zu spüren. Dass Merkel der Aufnahme von rund einer Million Flüchtlingen 2015 ihren Segen gibt, hält er für einen großen Fehler. Winkler wirft Merkel aber nicht ihre humanitären Motive vor, weil Winkler selber für Menschenrechte und die Würde des Menschen eintritt. Seine Kritik bezieht sich darauf, dass die damalige Kanzlerin eine Politik ohne Abstimmung mit den politischen Nachbarn betrieben habe, was erhebliche Verwerfungen und Ängste ausgelöst habe. Sie sei sogar mitverantwortlich für den Wahlsieg der rechten PiS 2015 und den Brexit.
Emotional wird der Autor, wenn er über seine Eindrücke schreibt, die sein Besuch in der heutigen russischen Enklave Kaliningrad, also seiner alten Heimat Königsberg bei ihm auslösen. So besucht er die Straße, in der einst sein Elternhaus stand und ist wohl mehr als betroffen: „Die neuen Gebäude sind Mietshäuser im brutalsten Plattenbaustil. Slumartig, verwahrlost wirken sie, desgleichen die ehemaligen Gärten dahinter- Wildnis mit Abfällen. Die Häuser gegenüber stehen alle noch.“ Und als Winkler mit dem Zug abfährt, hat er „den Eindruck, die letzte sowjetische Militärkolonie zu verlassen.“
Streit um deutsche Geschichte
Ich habe wie Winkler Geschichte studiert und in München das Examen abgelegt. Später als Journalist haben mir meine Kinder und meine Frau über die Jahre einige der Bücher von Heinrich-August Winkler geschenkt. „Die Geschichte des Westens“ in vier Bänden, dann das Werk. „Zerbricht der Westen? Dann „Werte und Mächte- eine Geschichte der westlichen Welt“. Dann die „Deutungskämpfe- Der Streit um die deutsche Geschichte.“ Darin nimmt Winkler Stellung zu den Besitzansprüchen des Hauses Hohenzollern. Oder über den deutschen Sonderweg, über Weimar, den Holocaust. Es sind für mich Nachschlagewerke, in denen ich finde, was ich bei historischen Themen suche. Die Fakten, die Analyse, die Einordnung.
Und jetzt die Erinnerungen: Warum es so gekommen ist. Es sind mehr als Memoiren, man findet in dem Buch den Kompass des Historikers, wer will, kann sich davon leiten lassen. Er steht für die Bewahrung dieser freiheitlichen Demokratie, für diese Bundesrepublik, von der ich immer wieder behaupte, dass sie trotz aller Mängel die beste Republik sei, die es jemals in der deutschen Geschichte gegeben hat. Ich kann diese Erinnerungen nur empfehlen, weil sie mahnen, was verloren gehen könnte, kämpfte man nicht für das System, das seine Gegner verachten. Dazu kommt, dass der Historiker Winkler schreiben kann, die Geschichte erzählen kann, sodass wir sie verstehen. Winkler hat das Jahrhundert der mörderischen totalitären Ideologien beschrieben und anderes mehr. Im Dienst der Demokratie, so das Lob der SZ. Mehr kann er nicht erwarten.
Bildquelle: Wikipedia, User Mcschreck , gemeinfrei













