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Home Politik

Ein starkes Plädoyer für Europa

Jürgen Brautmeier Von Jürgen Brautmeier
4. Juni 2024
EU-Flagge

Haben Sie schon einmal etwas von Ventotene gehört? Auf dieser italienischen Mittelmeerinsel, ca. 60 km westlich von Neapel, entwarfen 1941 drei von Mussolini internierte Antifaschisten ein Manifest, das die Gründung eines europäischen Bundesstaates forderte. Altiero Spinelli, der später Mitglied der Europäischen Kommission werden und für die Kommunistische Partei Italiens im Europäischen Parlament sitzen sollte, verfasste zusammen mit zwei Mitgefangenen heimlich ein Papier, das in einem Brathähnchen versteckt von der Insel geschmuggelt wurde und das der Historiker und Journalist Christoph Driessen bei einer Buchvorstellung am 28. Mai 2024 in der Bibliothek des nordrhein-westfälischen Landtags als Magna Charta der europäischen Idee bezeichnete.

In seinem Buch „Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union“ zeichnet der Autor von dieser Schilderung ausgehend die Entwicklungen und Ereignisse nach, die zur heutigen EU geführt haben. Die vielen kleinen Schritte, die großen politischen Krisen, die Orte der Handlungen und die Porträts der Ideengeber und Macher reiht er wie an einer Perlenkette aneinander. Dadurch kann das Buch, das wissenschaftlich fundiert ist, aber nicht mit Fußnoten ermüdet, auch als Nachschlagewerk genutzt werden, erleichtert durch eine übersichtliche Gliederung, eine erläuternde Chronologie und ein kommentiertes Literaturverzeichnis am Ende des Buches.

Ich muss zugeben: Vieles von dem, was Driessen erzählt, habe ich überhaupt oder zumindest so nicht gewusst. Sowohl seine Einordnung der Ereignisse und Entwicklungen als auch so mancher Blick hinter die Kulissen kann selbst beim informierten Leser für Aha-Erlebnisse sorgen. Wer als Zeitzeuge vieles von dem, das geschildert wird, miterlebt hat, wird sich dennoch wundern über die skizzierten politischen Hintergründe und Motive, die nur selten öffentlich bekannt wurden, aber wichtige Erklärungen für den tatsächlichen Gang der Dinge liefern. Dadurch wird beispielsweise auch so manche Wendung im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich besser verständlich.

Von Anbeginn war nämlich das deutsch-französische Gegen- und Miteinander auschlaggebend, wenn es um die Fortentwicklung der europäischen Gemeinschaft ging. Die alte und im Zweiten Weltkrieg in die Katastrophe führende Feindschaft zwischen diesen beiden Nationen sollte und wurde durch die Einbindung in das europäische Projekt überwunden, beginnend mit einer Wirtschaftsunion für Kohle und Stahl und weiterentwickelt zu einen politischen Union, der EU. Durch sie sollte die Souveränität der Nationalstaaten überwunden werden, die der Kern aller Auseinandersetzungen der Vergangenheit gewesen war. Diskutierte Modelle waren ein Staatenbund oder ein Bundesstaat. Die heutige EU ist irgendwo dazwischen anzusiedeln, denn teilweise haben ihre Mitglieder Kompetenzen an die Gemeinschaft abgegeben, aber zu Vereinigten Staaten von Europa, die schon auf Ventotene angedacht und von denen danach immer wieder die Rede war, ist es bis heute nicht gekommen. Das lag und liegt an nationalen Egoismen und erklärt viele der Probleme, mit denen die EU immer wieder zu kämpfen hatte und hat.

Als einen traurigen Höhepunkt dieser Haltung schildert das Buch natürlich auch den Brexit. War Winston Churchill ein überzeugter Europäer, der allerdings die Rolle Großbritanniens als Führungsmacht des Commonwealth nicht in einer Beteiligung an einer europäischen Gemeinschaft sah, so stellte Boris Johnson in seiner Zeit als politischer Korrespondent des Daily Telegraph schon viel von dem an populistischer Stimmungsmache gegen die EU unter Beweis, was er dann in der Brexit-Kampagne auf die Spitze trieb. Und dass die EU durch ihre komplizierte Konstruktion, ihr unausgewogenes Kräfteverhältnis und vor allem durch das Prinzip der Einstimmigkeit ihrer Entscheidungen im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs für derartige nationale Eigeninteressen immer wieder anfällig ist, beweist die Erfahrung insbesondere der letzten Jahre mit Polen und Ungarn.

Die Frage, wie es weitergeht, wird in Driessens Buch nicht beantwortet. Er will ja die Geschichte erläutern und die Kenntnis über die europäische Gemeinschaft vertiefen. Seine Sympathie für den Europagedanken zieht sich aber wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Es ist jedoch keine Werbeschrift, sondern ein Erklärstück. Es wird deutlich, dass die Ideale der Gründerväter – das Handeln und Wirken von Frauen wie Margaret Thatcher, Simone Veil oder Angela Merkel wird natürlich auch angemessen dargestellt – bis heute nicht verwirklicht werden konnten. Dennoch ist eine Rückbesinnung auf diese Ideale vielleicht hilfreich für die Weiterentwicklung einer Union, die sich heute mit weltpolitischen Herausforderungen konfrontiert sieht, die ein „weiter so“ eigentlich verbieten.

Wer also kurz vor der Europawahl am 9. Juni 2024 noch etwas mehr über die Idee und die Geschichte der Europäischen Union erfahren möchte, dem sei das Buch dringend empfohlen. Die Geschichte der Europäischen Union erzählt der Autor nicht wissenschaftlich verkopft, sondern verständlich und spannend. Und was sich für ein Geschichtsbuch nur selten behaupten lässt: Es ist kurzweilig und amüsant zu lesen. Einen Ausblick auf die Zukunft kann und will Driessen nicht liefern, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass mutige und entschlossene Schritte erforderlich sind, um die Idee einer politischen Gemeinschaft am Leben zu erhalten, die heraus aus dem Chaos führen sollte, in das vor allem Deutschland den Kontinent zuvor gestürzt hatte. Deshalb hat Deutschland auch eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas.

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Tags: DemokratieEUEuropaEuropawahl
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